Am 15. Dezember veröffentlichte die Website des Magazins The Nation einen Kommentar des Kolumnisten Robert Scheer zum National Defense Authorization Act (Gesetz über die Ermächtigung zur nationalen Verteidigung, NDAA). Scheers Artikel zeigt: Linksliberale Schichten, deren Sprachrohr The Nation ist, sind weder gewillt, noch in der Lage, auf prinzipieller Grundlage demokratische Rechte zu verteidigen.
Anfang des Monats wurde der NDAA von beiden Kammern der amerikanischen Legislative verabschiedet. Jetzt fehlt nur noch Präsident Obamas Unterschrift, um das Gesetz rechtskräftig werden zu lassen. Der NDAA hat eine tiefgehende historische Bedeutung: Durch ihn wird die Bill of Rights praktisch außer Kraft gesetzt. Das US-Militär erhält ausdrücklich die Befugnis, jeden beliebigen Menschen – ob US-Staatsbürger oder Bürger eines anderen Landes – an jedem beliebigen Ort der Welt ohne Anklage, Beweise oder Verhandlung zu entführen und einzusperren, sofern er verdächtigt wird, an Verbrechen im Zusammenhang mit dem Terrorismus beteiligt gewesen zu sein.
Obama hatte ursprünglich damit gedroht, sein Veto gegen den NDAA einzulegen, weil ein früherer Entwurf des Gesetzes seine Vollmachten als Präsident in Kriegszeiten „beschneidet“ und „reglementiert.“ Er gab seinen Widerstand auf, nachdem die Stellen, die als Beschränkungen der Befugnisse des Präsidenten ausgelegt werden könnten, geändert wurden.
Scheers Artikel trägt den Titel „Mit der Republik geht’s bergab“. Zunächst zeigt er sich schockiert, wie Obama, den die Nation bei den Präsidentschaftswahlen 2008 unterstützt hatte, und den sie immer noch unterstützt, ein solches Gesetz unterzeichnen kann. „Wir hatten von Präsident Obama erwartet, dass er sein Wort hält und sein Veto gegen das Gesetz einlegt“, erklärt Scheer. Die Zusage der Obama-Regierung, das Gesetz zu unterzeichnen, nennt er ein „feiges Einknicken.“
Doch die Entscheidung der Regierung, den NDAA zu unterzeichnen, passt haargenau zu all dem, was sie auf dem Gebiet demokratischer Rechte bisher getan hat. Wenn Scheer behauptet, die Obama-Regierung sei gegen den NDAA gewesen, so ist dies eine Irreführung. Obama drohte nicht etwa deshalb sein Veto an, weil durch das Gesetz Jahrhunderte demokratischer Vorarbeit gefährdet wären, im Gegenteil: Einer seiner Einwände war, dass das Gesetz US-Staatsbürger vor zeitlich unbegrenzter Militärhaft schützen würde.
Scheer schreibt, es gehe darum, wie der NDAA aussähe, wenn „ein Dick Cheney oder Newt Gingrich das höchste Amt im Staate innehätte.“ In seinen Augen gibt es echte Unterschiede zwischen den Republikanern und Obama, bzw. den Demokraten, was den Schutz der Verfassung und demokratischer Grundprinzipien, wie dem Habeas-Corpus-Akt, angeht. Die Fakten sprechen jedoch eine andere Sprache.
Die Obama-Regierung hat mit breiter Unterstützung der Demokraten im Kongress die von Bush geschaffenen Rahmenbedingungen für einen Polizeistaat ausgebaut und verstärkt. Obama hat es abgelehnt, die Vertreter der Bush-Regierung anzuklagen, die Folterungen angeordnet haben. Er hat sein Wahlversprechen gebrochen, Guantanamo zu schließen. Er beruft sich auf „Staatsgeheimnisse“, um Klagen der Opfer von Folter und Überwachung zu verhindern. Er hat die Praxis der „außerordentlichen Überstellungen“ fortgesetzt, d.h., Verdächtige werden weiterhin in Staaten überführt, in denen sie gefoltert werden. Obama hat offiziell die Ermordung von US-Staatsbürgern befohlen und diese hinrichten lassen. Das erste Opfer war Anfang des Jahres Anwar al-Awlaki. Obamas Regierung hat außerdem stillschweigend die brutale Niederschlagung der Occupy-Wall-Street-Proteste unterstützt, die hauptsächlich von Demokratischen Bürgermeistern durchgeführt wurde.
Scheer versucht, die Bedrohung demokratischer Rechte durch den NDAA mit einer zukünftigen Machtübernahme durch die Republikaner in Zusammenhang zu bringen. Das zeigt, dass ein Frontalangriff auf die Bill of Rights ihn nicht daran hindert, Obama und die Demokraten weiterhin zu unterstützen. Seine Wut ist gespielt. Er und die Redaktion der Nation werden Obamas Wiederwahl unterstützen und den Demokratischen Kandidaten mit Sicherheit als „das kleinere Übel“ anpreisen.
Scheer kritisiert den NDAA auch von rechts. Er hat wenig Konkretes über dessen demokratiefeindliche Auswirkungen zu sagen und nennt ihn nur nebenbei „eine potenzielle Katastrophe für bürgerliche Freiheiten.“ Einen Großteil seines Artikels verwendet er auf das Argument, das Gesetz stelle einen „schweren Schlag für den effektiven Kampf gegen Terrorismus dar.“
Scheer schreibt: „Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass FBI-Verhöre von Al-Kaida-Verdächtigen am effektivsten waren, bevor das Militär angefangen hat zu foltern.“ Er zitiert zustimmend aus einem Leitartikel der New York Times, laut dem das Gesetz „die erfahrensten und erfolgreichsten Antiterrorbehörden – das FBI und die Staatsanwälte – aus den Verhör-, Anklage- und Prozessverfahren der meisten Terrorfälle ausschließt und dem Militär diese Aufgaben überträgt.“
Scheer schreibt weiter: „Nicht nur FBI-Direktor Robert Mueller III war gegen diesen Kurswechsel, sondern auch Verteidigungsminister Leon Panetta, der zuvor Chef der CIA war.“ Hier ernennt Scheer zwei Individuen zu Autoritäten, die bis zum Hals in Folter, Überwachung, internationale Kriegsverbrechen und Polizeistaatsstrukturen verstrickt sind, die im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ errichtet wurden.
Genau wie ein Großteil des linksliberalen Milieus versucht Scheer die Verteidigung von bürgerlichen Freiheiten und die Unterstützung für Washingtons „Krieg gegen den Terror“ unter einen Hut zu bringen. Aber wer diesen verlogenen „Krieg“ unterstützt, unterstützt damit auch die weltweiten Ziele und Interessen des US-Imperialismus und alle Morde, Plündereien und Verbrechen, die damit einhergehen.
Scheers Artikel zeigt wieder einmal, dass die Verteidigung demokratischer Rechte ohne prinzipiellen Widerstand gegen den Imperialismus nicht möglich ist. Militarismus und imperialistische Kriege im Ausland sind immer verbunden mit Angriffen auf demokratische Rechte und einem Drang zu autoritären Herrschaftsformen im eigenen Land. Wie Lenin treffend schrieb: Der Imperialismus ist „Reaktion auf der ganzen Linie.“
Dass Washington immer stärker zum Krieg neigt und seine Angriffe auf demokratische Rechte auf die Spitze treibt, hat jedoch auch mit dem starken Anstieg der sozialen Ungleichheit zu tun. Krieg, Ungleichheit und Unterdrückung sind in demselben Maße gewachsen, wie sich die Position des amerikanischen Kapitalismus in der Welt in den letzten Jahrzehnten verschlechtert hat. Seit Ausbruch der weltweiten Krise des Kapitalismus und der Konzentration der herrschenden Klasse auf brutale Sparkurse gegen die Arbeiterklasse hat sich diese Entwicklung weiter verstärkt.
Die begüterten Teile der Mittelschicht, die die Nation repräsentiert, interessieren sich nicht für das Schicksal der arbeitenden Bevölkerung und stehen einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse feindselig gegenüber. Der offene Aufbau eines Polizeistaates beunruhigt sie, aber sie verteidigen dennoch das System, dem sie ihren Wohlstand verdanken, selbst wenn Militarismus und Diktatur darin wachsen.
Letzten Endes verurteilt Scheer nur die offensichtlichsten jüngsten Angriffe auf demokratische Rechte, unterstützt aber stillschweigend all diejenigen, die ihm vorangingen. Scheer bietet der herrschenden Klasse seinen Rat an und erklärt ihr, was das Beste und Passendste für den US-Imperialismus wäre.
Nach dem Wahlbetrug im Jahr 2000 schrieb die World Socialist Web Site, diese Wahl stelle einen Wendepunkt dar. Sie zeige, dass es in der herrschenden Klasse Amerikas keine Kraft gebe, die demokratische Rechte verteidige. Die Reaktion der Nation auf den NDAA zeigt, dass das uneingeschränkt auch für das linksliberale Milieu gilt.