Außenminister Westerwelle wegen Enthaltung im Libyenkrieg unter Kritik

Nach der Eroberung der libyschen Hauptstadt Tripolis durch die Nato-gestützten Rebellen ist der deutsche Außenminister Guido Westerwelle unter heftigen Beschuss geraten. Medien und Politiker machen ihm bittere Vorwürfe, weil sich Deutschland nicht an der Vergewaltigung des Mittelmeerlandes beteiligt hat und nun die Gefahr droht, dass es bei der Aufteilung der Beute leer ausgeht.

Deutschland hatte sich im März gemeinsam mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Indien, Russland und China) der Stimme enthalten, als der UN-Sicherheitsrat grünes Licht für das militärische Eingreifen in Libyen gab, und anschließend nicht an dem Krieg teilgenommen.

Die Nato hat das Land seither sechs Monate lang systematisch bombardiert, die Rebellen bewaffnet und ausgebildet, ihnen den Weg nach Tripolis freigeschossen und sie durch Elitetruppen am Boden unterstützt. Sie hat damit das UN-Mandat gravierend verletzt, die lediglich die Einrichtung einer Flugverbotszone und den „Schutz der Zivilbevölkerung“ erlaubte.

Die Nato hat einer Marionettenregierung an die Macht verholfen, die aus übergelaufenen Vertretern des Gaddafi-Regimes, Islamisten, Stammesvertretern und Agenten westlicher Geheimdienste besteht. Sie unterscheidet sich vom Gaddafi-Regime vor allem dadurch, dass sie den westlichen Öl- und Wirtschaftsinteressen noch sklavischer als diese zu Füßen liegt und keine revolutionär-nationalistische Vergangenheit hat. Ihre politischen Gegner unterdrückt und verfolgt sie dagegen ebenso brutal wie ihre Vorgängerin. Inzwischen häufen sich in internationalen Medien Berichte über Massaker an Gaddafi-Anhängern.

Die Unterwerfung Libyens durch die Nato erfolgte nicht aus humanitären, sondern aus wirtschaftlichen und geopolitischen Gründen. Sie sichert den kriegführenden Ländern den Zugang zu den reichen Energiequellen des Landes und stärkt ihren Einfluss in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Sie ist ein koloniales Verbrechen, vergleichbar mit der Eroberung Abessiniens durch Mussolini oder des Sudetenlandes durch Hitler. Auch damals hatten die Medien Krokodilstränen über die unmenschliche Brutalität des Negus und die Unterdrückung der Sudetendeutschen durch Prag vergossen.

Doch über dieses Wiederaufleben des Kolonialismus regen sich deutsche Medien und Politiker nicht auf. Sie sind empört darüber, dass Deutschland nicht selbst daran beteiligt war.

Bereits die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat war vereinzelt auf Kritik gestoßen. Doch als sich abzeichnete, dass die Nato trotz anfänglicher Schwierigkeiten das Gaddafi-Regime stürzen konnte, schwoll diese Kritik auf Orkanstärke an. Es scheint, als seien einige Kritiker der Ansicht, Deutschland habe nach der Kapitulation von Rommels Afrika-Korps 1943 zum zweiten Mal die Chance verpasst, in Nordafrika Fuß zu fassen.

Typisch ist ein Kommentar der Süddeutschen Zeitung, der am Samstag unter der Überschrift „Der hohe Preis der deutschen Enthaltung“ erschien. Er bezeichnet das deutsche Verhalten bei der Abstimmung über die UN-Resolution als „größte außenpolitische Fehlentscheidung, die diese Regierung gefällt hat“.

Der Autor, Stefan Kornelius, versteckt seine Motive nicht. Er bedauert ausdrücklich den ökonomischen Schaden, der Deutschland nun entstehen werde. „Für diese Enthaltung zahlt Deutschland einen hohen Preis“, schreibt er. „Es wundert kaum, dass der libysche Übergangsrat mit dieser Bundesregierung nicht ins Geschäft kommen möchte.“ Auch auf die Besetzung prominenter Kommandoposten in der Nato müsse Deutschland jetzt möglicherweise verzichten.

Am Sonntag meldete sich dann der ehemalige Außenminister Joschka Fischer im Spiegel zu Wort und fiel über Westerwelle her. Der Grünen-Politiker bezeichnete die deutsche Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat als „das größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik“. Deutschlands Position in der Welt sei dadurch „wesentlich beschädigt“ worden.

Fischer hatte als Außenminister gegen erheblichen innerparteilichen Widerstand den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien und die deutsche Teilnahme am Afghanistankrieg durchgesetzt. Nun wirft er Westerwelle vor, er habe die westlichen Partner vor den Kopf gestoßen, verfolge eine „eigenständige Weltpolitik“ und suche neue strategische Partnerschaften.

Fischer beruft sich dabei ausdrücklich auf Altbundeskanzler Helmut Kohl (CDU), der der Bundesregierung bereits vergangene Woche in einem Beitrag für die Zeitschrift Internationale Politik vorgeworfen hatte, Deutschland sei „schon seit einigen Jahren keine berechenbare Größe mehr – weder nach innen noch nach außen“.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel stieß ins selbe Horn wie Fischer. Er bezeichnete Westerwelles Verhalten gegenüber Libyen als „orientierungslos“ und „würdelos“.

Auch aus der eigenen Partei geriet Westerwelle unter Kritik. Ende vergangener Woche begann ein bizarrer Wettlauf, wer den tiefsten Kotau vor der Nato vollführt.

Nachdem Westerwelle in öffentlichen Stellungnahmen die Eroberung Tripolis‘ durch die Rebellen zwar begrüßt, es aber unterlassen hatte, die Rolle der Nato dabei zu würdigen, bekundete FDP-Parteichef Philipp Rösler am Freitag in einem Interview seinen „tiefen Respekt“ und „seine Dankbarkeit“ gegenüber den Partnern, „die Gaddafis Mordeinheiten entscheidend in den Arm gefallen sind“. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte öffentlich ihren „tiefen Respekt“ für die Leistung der Nato.

Das wurde allgemein als Kritik am Außenminister interpretiert. Nach mehreren Telefongesprächen mit Parteichef Rösler und wachsenden Gerüchten über seine bevorstehende Entlassung verbeugte sich Westerwelle schließlich am Sonntag ebenfalls vor der Nato.

In einem Beitrag für die Welt am Sonntag schrieb er: „Wir sind froh, dass es den Libyern auch mithilfe des internationalen Militäreinsatzes gelungen ist, das Gaddafi-Regime zu stürzen. Wir haben Respekt für das, was unsere Partner geleistet haben.“ Die FDP-Spitze verkündete darauf schriftlich, die „bevorstehende Ablösung“ Westerwelles sei nicht mehr als ein Gerücht.

Die Rücktrittsforderungen halten allerdings an. So erklärte SpiegelOnline am Montag, Westerwelle habe seine letzte Chance, im Amt zu bleiben, „durch Wichtigtuerei, Rechthaberei und fehlendes Gespür für historisch-politische Zusammenhänge“ längst verspielt, und forderte seinen sofortigen Rücktritt.

Das Dilemma der deutschen Außenpolitik

Die Medien führen die Auseinandersetzung über Westerwelle in der Regel auf dessen Charaktereigenschaften zurück und blenden die politischen Fragen weitgehend aus. Tatsächlich geht es aber um die zukünftige Orientierung der deutschen Außenpolitik.

Grund für die deutsche Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat waren nicht Skrupel gegenüber dem aggressiven Vorgehen der Nato, sondern das Bemühen, China, Russland und die anderen BRIC-Staaten nicht zu verprellen.

Vor allem Russland und China haben intensive wirtschaftliche Beziehungen zu Libyen unterhalten, die durch den Krieg und den Sturz Gaddafis empfindlich getroffen wurden. So mussten zu Beginn der Nato-Angriffe 36.000 chinesische Arbeiter aus Libyen flüchten, die dort in umfangreichen chinesischen Bauprojekten beschäftigt waren.

Der russische Waffenlieferant Rosoboronexport bezifferte die Waffengeschäfte, die ihm aufgrund des Embargos gegen Libyen entgangen sind, auf vier Milliarden US-Dollar. Russland war auch im libyschen Ölsektor aktiv und unterhielt eine langjährige militärische Kooperation mit Libyen. Das neue Regime wird diese Beziehungen kaum wieder aufnehmen.

Russland und China waren allerdings nicht bereit, wegen der Libyenfrage in eine offene politische Konfrontation mit den Nato-Mächten zu gehen. Sie verzichteten im Sicherheitsrat beide auf ein Veto und ermöglichten durch ihre Stimmenthaltung die Verabschiedung der Libyen-Resolution.

China hat seither versucht, ein Bein in beiden Lagern zu halten. Im Juni wurden sowohl Gaddafis Außenminister Ubaidi als der außenpolitische Sprecher des Übergangsrats Mahmud Jibril in Peking empfangen. Die chinesischen Medien nannten in ihrer Berichterstattung aber immer die westlichen Ölinteressen als wichtigsten Grund für das Eingreifen der Nato.

Auch in der russischen Öffentlichkeit wurde der Krieg mehrheitlich abgelehnt. Im März sprachen sich 78 Prozent der Bevölkerung gegen die Bombardierung Libyens durch die Nato aus, und Außenminister Lawrow warf der Nato vor, die verletze das UN-Mandat. Ministerpräsident Putin drückte sich wesentlich schärfer aus und sprach von einem „Kreuzzug“ der Nato.

Der russische Präsident Medwedew signalisierte dann im Mai auf dem G8-Gipfel in Deauville allerdings eine Annäherung an den Kurs der Nato, um damit die russischen Interessen in Libyen auch nach einer Niederlage Gaddafis zu sichern.

Außenminister Westerwelle hat es zwar vermieden, in eine offene Konfrontation mit seinen Kritikern zu gehen, um die ohnehin zerrüttete Regierungskoalition nicht noch mehr zu schwächen. Er hat aber in mehreren Beiträgen darauf hingewiesen, dass für ihn die strategische Orientierung auf die BRIC-Staaten die entscheidende Frage sei.

So erklärte er Mitte vergangener Woche im ZDF, entscheidend sei nicht nur die Pflege alter Partnerschaften und die Vertiefung bestehender Freundschaften, „sondern in der Welt des 21. Jahrhunderts ist es auch notwendig, die neuen Kraftzentren der Welt ernst zu nehmen und neue strategische Partnerschaften aufzubauen“. Dies, so Westerwelle, sei „die schlichte Erkenntnis einer neuen Zeit“.

Auch in seinem langen, programmatischen Beitrag für die Welt am Sonntag geht Westerwelle auf die Bedeutung dieser „neuen Kraftzentren“ für die deutsche Außenpolitik ein. Neben Russland, China, Indien und Brasilien nennt er auch Südafrika, Vietnam, Mexiko, Kolumbien und die Türkei.

Westerwelle bekennt sich zwar zur Nato und zu Europa „als Fundament der deutschen Außenpolitik“. Die Zukunft Europas sei „die Gretchenfrage der deutschen Außenpolitik“. Er schränkt das aber sofort ein, indem er diese Zukunft an „Haushaltsdisziplin, Konsolidierung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ knüpft und jene, die dazu nicht bereit sind, zum Austritt aus der EU auffordert: „Wer nicht mitgehen will, der soll die anderen nicht aufhalten.“

Umso mehr Gewicht legt er auf „aufzubauende strategische Partnerschaften mit den neuen Kraftzentren der Welt“. „Unsere Exporte dorthin haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht“, schreibt er. „Über ihren wirtschaftlichen Aufstieg sind diese Staaten zu einer politischen Kraft herangewachsen, ohne die wir keine globalen Lösungen mehr aushandeln und vereinbaren können.“

In der Auseinandersetzung über Westerwelle zeigt sich das Dilemma der deutschen Außenpolitik. Diese Auseinandersetzung wird weitergehen, unabhängig davon ob Westerwelle sein Amt behält oder nicht.

Angesichts der Krise der EU und des Niedergangs der USA bemüht sich die deutsche Wirtschaft um neue Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten in den „neuen Kraftzentren“. Das bringt die deutsche Außenpolitik in Konflikt mit ihren bisherigen europäischen und amerikanischen Verbündeten, die ebenfalls aggressiv ihre globalen Interessen verfolgen.

Das Lob, mit dem Grüne, Sozialdemokraten und die Mehrheit der Regierungsparteien jetzt den „Erfolg“ der Nato in Libyen überhäufen, muss zu denken geben. Ihre Begeisterung gilt weniger der französischen, britischen oder amerikanischen Regierung, die alles tun werden, um den militärischen Erfolg zu ihren Gunsten auszuschlachten, als den brutalen, völkerrechtswidrigen und riskanten Methoden, mit denen sie vorgegangen sind. Sie sehen darin ein Vorbild, wie Deutschland in Zukunft seine eigenen imperialistischen Interessen vertreten sollte.

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