Das Parlament kann gegen Einsätze der Bundeswehr im Innern nicht gerichtlich vorgehen - selbst dann nicht, wenn mit diesen Militäreinsätzen gegen das Grundgesetz verstoßen wird. Diese weitreichende Auffassung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer wenig beachteten Entscheidung zu den Bundeswehreinsätzen während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm erklärt.
Neben 17.000 Polizisten waren damals auch rund 1.100 Soldaten der Bundeswehr an der massiven Einschüchterung und Unterdrückung der Proteste in Heiligendamm beteiligt.
Hubschrauber, Boote, Spähpanzer und zwei Tornado-Flugzeuge, die nur etwa 70 Meter über die Köpfe der Demonstranten donnerten, um Aufklärungsfotos zu schießen, waren im Einsatz. Die Bundeswehr übernahm u. a. auch die Sicherung des Sperrgebiets auf See und suchte die Seebrücke Heiligendamm ab. Beschlossen hatte diesen Einsatz die damalige Bundesregierung, die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Angela Merkel (CDU).
Die Fraktion der Grünen im Bundestag hatte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung beantragt, dass durch den Bundeswehreinsatz "Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 87a Abs. 2 GG verletzt" wurden bzw. dass "der Parlamentsvorbehalt es geboten hätte, den Deutschen Bundestag vor dem konkreten Einsatz" zu befassen. Der angegebene Artikel 87a Absatz 2 des Grundgesetzes, ein im Zuge der Notstandsgesetzgebung 1968 geänderter Grundsatzartikel, lautet: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt."
Es ging also um die Frage, ob mit dem Bundeswehreinsatz in Heiligendamm gegen die Verfassung verstoßen wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit zwar befasst, aber dazu keine Entscheidung getroffen. Vielmehr haben die Richter die Organklage mit der Begründung abgewiesen, dass es nicht darauf ankomme, ob der Einsatz verfassungswidrig war.
In spitzfindigen und teils zynischen Erläuterungen erklärt das Urteil des BVG, es gäbe keine gesetzliche Grundlage, auf der es entscheiden könnte. Die Richter erklären, dass es dem höchsten deutschen Gericht in dieser konkreten Frage unmöglich ist, sich in der Auseinandersetzung zwischen der Regierung und dem Parlament auf eine Seite zu stellen. De facto haben sie aber genau das getan und somit der Regierung für die Zukunft einen Freibrief ausgestellt.
Nach dem Grundgesetz sei der Bundestag zwar Gesetzgebungsorgan, "nicht aber als umfassendes 'Rechtsaufsichtsorgan' über die Bundesregierung eingesetzt". Deshalb lasse sich aus dem Grundgesetz "kein eigenes Recht des Deutschen Bundestages dahingehend ableiten, dass jegliches materiell oder formell verfassungswidrige Handeln der Bundesregierung unterbleibe". Mit anderen Worten: Die alle vier Jahre gewählten Bundestagsabgeordneten, die gerne als "Volksvertreter" bezeichnet werden, haben nicht das Recht, die Regierung zu kontrollieren. Wahlen sind so die formelle Absegnung dessen, was die Regierung die anschließenden vier Jahre zu tun gedenkt.
Den weiteren Antrag gegen die Nichtbefassung des Bundestags mit dem Bundeswehreinsatz hält das Bundesverfassungsgericht mit folgender Begründung für "offensichtlich unbegründet": "Durch die Mitwirkung des Deutschen Bundestages wäre ein Verfassungsverstoß der Antragsgegnerin nicht geheilt, sondern allenfalls vertieft worden."
Dass eine Debatte im Bundestag zu einer öffentlichen Diskussion über den Bundeswehreinsatz geführt hätte, in deren Verlauf die Bundesregierung möglicherweise durch eine wachsende außerparlamentarische Opposition von einem Verfassungsbruch abgehalten worden wäre, wird in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht erörtert, scheint aber für die Richter bedeutungslos.
Stattdessen erklären die acht Richter des zweiten Senats, dass beim Beschluss eines verfassungswidrigen Bundeswehreinsatzes "zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes vielmehr eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen" wäre. Die könne aber "durch schlichten Parlamentsbeschluss" nicht erfolgen.
Gegenstand der Klage und des Urteils waren unausgesprochen immer auch die deutschen Notstandsgesetze, mit denen Bundeswehreinsätze im Inneren unter bestimmten Bedingungen im Grundgesetz erlaubt sind. Die Notstandsgesetze erlauben es der Bundesregierung gemäß Artikel 87a Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und der Bundespolizei u.a. "bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer ein[zu]setzen". Eine Antwort auf die Frage, ob die Bundesregierung Demonstranten gegen die weltweite herrschende Politik als "Bekämpfung von Aufständischen" ansieht, versuchte das Gericht mithilfe ihrer spitzfindigen Argumentation zu vermeiden.
Die Notstandsgesetze wurden am 30. Mai 1968 unter dem Eindruck der Studentenbewegung von der großen Koalition aus CDU und SPD gegen den langen und massiven Widerstand weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere der Gewerkschaften und der Arbeiterklasse, durchgesetzt und beschlossen. Vorhergehende Versuche waren 1958, 1960 und 1963 am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Das Hauptziel war die Ermöglichung des Bundeswehreinsatzes im Inneren zur Aufstandsbekämpfung. Den Gegnern wie den Befürwortern der Notstandsgesetze war klar, dass mit Aufständischen Arbeiter und Studenten gemeint waren. Wie so oft in Deutschland behauptete die Regierung damals aber, die Notstandsgesetze seien eine "Lehre" aus der Weimarer Republik, dessen unvollkommene Gesetzgebung angeblich zur Machtergreifung Hitlers führte. Als Begründung wurde insbesondere angegeben, dass durch die Notstandsgesetze die Verfassung auch unter Notstandsbedingungen nicht außer Kraft gesetzt werden müsse. Damit solle ein Vorgehen mit Notverordnungen wie in der Weimarer Republik vermieden werden können.
Das Gegenteil ist nun der Fall. Nach dem jetzigen Beschluss werden durch das Bundesverfassungsgericht die gerichtlichen Möglichkeiten gerade für den Fall beschränkt, dass die Bundesregierung gegen die Verfassung verstößt.
Dass die Richter sich in der Tat anlässlich der Proteste gegen den G8-Gipfel Gedanken über Bürgerkriegsverhältnisse gemacht haben, zeigt auch ihr ausdrücklicher Hinweis auf den Passus des Artikels 87a, in dem es auch heißt, dass die "Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer" einzustellen sei, "wenn der Deutsche Bundestag oder der Bundesrat es verlangen". Das Urteil zitiert diese Passage.
Das Grundgesetz lässt es also nach Auffassung der Bundesverfassungsrichter nicht zu, Verfassungsbrüche im Vorfeld zu stoppen. Erst wenn der Einsatz läuft, könne der Bundestag ihn stoppen. Für den konkreten kurzen Einsatz in Heiligendamm reichte die Zeit nicht.
Eine Debatte über den Bundeswehreinsatz wäre im Vorfeld dennoch möglich gewesen. Denn der Bundestag war zwar vorher nicht informiert worden, der 31-köpfige Verteidigungsausschuss aber sehr wohl. Er wusste über den geplanten Einsatz der Bundeswehr in Heiligendamm Bescheid, nach Aussagen von Ausschuss-Mitgliedern war nur der Tornado-Einsatz nicht bekannt. Im Juni 2007 saßen neben Abgeordneten der SPD, CDU/CSU und FDP auch Abgeordnete der Grünen und der Linkspartei, damals PDS, im Verteidigungsausschuss. Für die Linkspartei waren das Paul Schäfer, Inge Höger und Hakki Keskin, für die Grünen Winfried Nachtwei und Omid Nouripour.
PDS und Grüne sahen sich nicht genötigt, den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr vorher zu thematisieren. Das hätten sie - Schweigepflicht hin oder her - gekonnt. Erst nachher klagten die Grünen. Das Ergebnis ist die Aushöhlung demokratischer Rechte durch das Bundesverfassungsgericht.
Die Entscheidung betrifft zwar "nur" das Recht von Bundestagsfraktionen und einzelnen Bundestagsmitgliedern. Sie geht aber weit darüber hinaus und ist ein Eingriff in demokratische Rechte, gerichtet gegen die Arbeiterklasse.
Gegenwärtig gibt es weder eine ernst zu nehmende parlamentarische noch eine außerparlamentarische Opposition. Die Bundesregierung plant in den kommenden Jahren aber gewaltige soziale Kürzungen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und die Rettung der Banken und Konzerne soll auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung gelöst werden. Das wird unweigerlich die Opposition breiter Teile der Bevölkerung provozieren. Unter den Bedingungen verschärfter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen demokratische Rechte - insbesondere über die Frage von Krieg, Frieden und Bürgerkrieg - den Plänen der Bundesregierung im Weg.
Derzeit schwillt eine Diskussion in der herrschenden Elite über den Abbau demokratischer Rechte und die Vorteile autoritärer Herrschaftsformen an.
Eine erste Voraussetzung für die Bildung von autoritären Regimes ist regelmäßig die Stärkung der Regierung gegenüber dem Parlament sowie der mögliche Einsatz der Armee gegen die eigene Bevölkerung. Das Bundesverfassungsgericht hat dem mit seiner Entscheidung Vortschub geleistet.