Die Verantwortungslosigkeit aller politischen Entscheidungsträger und des Loveparade-Veranstalters, die zur Tragödie am 24. Juli mit 21 Toten und über 500 Verletzten führte, setzt sich auch dreieinhalb Wochen danach nahtlos fort.
Nun haben die Stadt Duisburg und Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) den Duisburger Internet-Blog Xtranews per einstweiliger Verfügung verklagt, weil dieser interne Dokumente über Organisation und Genehmigung der Loveparade ins Netz gestellt hatte.
Stadtverwaltung und Sauerland berufen sich auf das Urheberrecht. Bei den Dokumenten, Protokolle und Konzepte von städtischen Behörden, Polizei und Veranstalter Lopavent, handelt es sich um den Anhang des so genannten offiziellen „Zwischenberichts“. Dies ist ein von der Stadt Duisburg in Auftrag gegebenes Gutachten der Anwälte Dr. Ute Jaspers und Andreas Berstermann von der Anwaltskanzlei Heuking, Kühn, Lüer, Wojtek.
Zahlreiche Zeitungen (u. a. Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Rheinische Post, Augsburger Allgemeine, WAZ) und Fernsehsender haben aus diesen Anhängen zitiert, um so zu belegen, dass es sich beim offiziellen „Zwischenbericht“ um ein „Gefälligkeitsgutachten“ handelte. Doch niemand von ihnen veröffentlichte die Anlagen. „Wir wollten zur Aufklärung beitragen“, begründet der Sprecher von Xtranews die Veröffentlichung.
Doch während die Bevölkerung ein Anrecht darauf hat, selbst zu untersuchen und nachzulesen, wie die Entscheidungsprozesse abgelaufen sind und wer für den Tod von 21 jungen Menschen die Verantwortung trägt, fährt Sauerland die Gerichte dagegen auf und droht mit einem Ordnungsgeld von 250.000 Euro.
Dabei bedient er sich der gleichen Düsseldorfer Anwaltskanzlei, die der Stadt schon das Gefälligkeitsgutachten erstellte und auch früher schon die Stadt bei anderen Projekten beraten hat.
Die Rechtsanwältin Dr. Ute Jaspers ist im Ruhrgebiet keine Unbekannte. Vor acht Jahren war sie vom Mülheimer CDU-Oberbürgermeister Dr. Jens Baganz mit einem Gutachten beauftragt worden, um den Verkauf städtischer Anteile der Wassergesellschaft RWW an den Energiekonzern RWE vorzubereiten. Sie verschwieg, dass sie gleichzeitig einen Beratervertrag mit dem Stromriesen RWE, dem Nutznießer des Verkaufs, abgeschlossen hatte. Als dann auch noch herauskam, dass Jasper die Geliebte von Baganz war, musste Baganz zurücktreten. Er wurde später zum Staatssekretär im Düsseldorfer Wirtschaftsministerium befördert.
Da das „Gefälligkeitsgutachten“ von Jaspers und Berstermann nicht den gewünschten Effekt brachte, hat die Stadtverwaltung über die Anwaltskanzlei den PR-Berater Karl Heinz Steinkühler – es heißt für 2.000 Euro am Tag – engagiert, um die Außendarstellung der Stadtverantwortlichen zu optimieren, allen voran Adolf Sauerland.
Gemeinsam mit dem ehemaligen Focus-Redakteur Steinkühler bespricht Sauerland nun die Strategie seiner Interviews und weist alle Schuld von sich.
So blieb er im Fernsehinterview mit dem WDR am Sonntag bei seiner Haltung: Persönliche Schuld oder Verantwortung und daher einen Rücktritt lehnt er nach wie vor ab.
Mit der Behauptung, nur ihm als Oberbürgermeister sei der Zugang zu Akten und Informationen möglich, begründet Sauerland sein Verweilen im Amt. Er wolle unbedingt bei der Aufklärung mitwirken. Ein Rücktritt verzögere nur unnötig diese Aufklärungsarbeit. In Wahrheit geht es Sauerland darum, wichtige Informationen unter Verschluss zu halten und jede Beteiligung der Betroffenen und der Bevölkerung an einer Untersuchung zu verhindern.
Auch das Interview nutzte er, um weiter an der Legende zu stricken, die Stadt Duisburg und damit ihn, treffe keine Schuld. Man habe – Sauerland sprach selten von sich selbst in der Ich-Form – bei der Sicherheit keine Kompromisse gemacht. „Wir haben als Verwaltung unsere Vorstellungen durchgesetzt und sind nicht zurückgewichen.“
Das ist nachweislich falsch, wie die inzwischen im Netz veröffentlichten internen Dokumente des Genehmigungsverfahrens belegen. Immer wieder ist Druck auf die Beschäftigten der Stadtverwaltung ausgeübt worden, um Sicherheitsauflagen zu umgehen.
So gab der WDR in dem 20-minütigen Interview Sauerland die Gelegenheit, erneut seine Verachtung der Opfer zum Ausdruck zu bringen. „Wir haben versucht, die Adressen der Toten zu bekommen. Wir haben sie bis heute nicht“, entschuldigte er die Tatsache, dass er noch keinen Kontakt mit den Angehörigen der Opfer hatte.
Das war schon am Sonntag völlig unglaubwürdig. Nun stellt sich heraus, dass das Duisburger Standesamt wie immer – auch bei allen Opfern der Loveparade – die Sterbeurkunden ausgestellt hat. Das Standesamt ist Teil der Stadtverwaltung, deren oberster Chef niemand anders als der Oberbürgermeister ist.
Im Interview stritt Sauerland eine persönliche Mitschuld am Tod von 21 Menschen ab: „Wissen Sie, so was muss geklärt werden: Wer war der Verursacher dieses tragischen Ereignisses? So weit sind wir nicht.“
Aus den internen Dokumenten – die einmal im Netz – nicht wieder zu unterdrücken sind, wird klar, dass Sauerland und sein enger Vertrauter, Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe (CDU), massiv Druck vor allem auf das Bauordnungsamt ausgeübt haben.
Eine Berliner Anwaltskanzlei schrieb im Auftrag des Veranstalters Rainer Schaller dem Oberbürgermeister am 19. Juli: Die Genehmigungen sollten nun mit „sofortiger Vollziehung“ angeordnet werden. Die Anwälte warnten vor „immensen wirtschaftlichen aber auch ideellen Schäden, die nicht nur der Veranstalterin, sondern auch der Metropole Ruhr und der Stadt Duisburg entstehen, wenn die Veranstaltung (...) abgesagt werden muss“.
So wurde bis kurz vor der Loveparade am 24. Juli so lange getrickst und Druck ausgeübt, bis die Genehmigung schließlich erteilt wurde.
21 Menschen zahlten für die Profitinteressen des Fitnessketten-Betreibers Schaller (McFit) und die Imageinteressen des „Wirtschaftsstandortes Rhein und Ruhr“ bzw. „Duisburg“ mit ihrem Leben.
Oberbürgermeister Sauerland kann so abgebrüht auftreten, weil er sich auf eine direkte und indirekte Unterstützung aller Parteien im Stadtrat stützen kann. Alle politischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und Stadtebene haben in ähnlicher Weise die Sicherheit der Loveparade-Besucher den wirtschaftlichen Interessen geopfert. „Alle wollten die Loveparade“, erklärte er im WDR-Interview. Die Politik auf Landes- und Bundesebene, Werbepartner und Stadt seien sich einig gewesen, die Loveparade durchzusetzen.
Die Allparteienkoalition gegen die Bevölkerung, die bereits bei der Vorbereitung der Loveparade bestand, wird nun noch intensiviert. Dabei spielen die Grünen eine besonders üble Rolle. Nachdem bereits die CDU-Ratsfraktion eine Abwahl des Oberbürgermeisters ablehnte, erklärten Anfang August auch die grünen Ratsfraktionsvorsitzenden Dieter Kantel und Doris Janicki: „Dem OB ist derzeit keine persönliche Schuld anzulasten. Wir wollen uns an der Hetzjagd gegen ihn nicht beteiligen.“ Sie bezogen sich ausdrücklich auf das Gutachten der Rechtsanwälte Jaspers und Berstermann.
Kantel und Janicki waren 2004 unter dem neu gewählten Sauerland aufgestiegen und haben eine schwarz-grüne Stadtregierung ermöglicht. Janicki war mit dem Posten der Bürgermeisterin belohnt worden, den sie vor allem nutzte, um sich von ihrer Arbeit als Lehrerin freistellen zu lassen und sich den Annehmlichkeiten des Amtes – Feste, Feiern, Reisen – zu widmen.
Grüne und CDU, nach jahrzehntelanger SPD-Vorherrschaft im Rat der Stadt, machten also dort weiter, wo die SPD aufgehört hatte: Bei der Verfolgung privater wirtschaftlicher Interessen über die örtlichen Partei-Gremien; mit anderen Worten, sich dem städtischen Filz zu widmen. Die Folge ist, dass die Duisburger Bevölkerung nicht mehr „nur“ mit einem sozialdemokratischen sondern nun mit einem parteiübergreifenden Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten, Mauscheleien und Machenschaften konfrontiert ist.
Kantel wies bei seiner Pressekonferenz zugunsten Sauerlands mit Recht darauf hin, dass der gesamte Rat der Stadt, nicht nur Sauerland, Verantwortung trage. „Wir alle haben dem OB zweimal den Auftrag gegeben, die Loveparade in dieser Stadt durchzuführen. Er hat diesen Auftrag ernst genommen“, so Kantel, der ergänzte: „Auch ich als Ratsmitglied habe dafür gestimmt.“
Auch die Duisburger Fraktion der Linkspartei hatte sich einmütig für die Loveparade ausgesprochen und hält sich in Fragen der Aufklärung auffallend zurück. Sie ist vor allem bemüht als „zuverlässiger Partner“ von allen anderen Parteien anerkannt zu werden. Ihre Landtagsabgeordneten Anna Conrads und Marc Mulia, der auch Mitglied im Landesvorstand der Linkspartei ist, haben dies in einer Presseerklärung unmittelbar nach der Tragödie so ausgedrückt: „Wir kennen Adolf Sauerland seit über 10 Jahren persönlich und haben Verständnis dafür, dass er sich mit großem Engagement für die Durchführung der Loveparade in Duisburg stark gemacht hat. Wir verstehen auch, dass er von den Ereignissen umso mehr betroffen ist.“
Niemand in der offiziellen Politik ist an einer ernsthaften und gewissenhaften Untersuchung und Aufarbeitung der Loveparade-Tragödie interessiert. Es gibt dafür einen guten Grund. In Internetforen werden immer mehr Fakten und Zusammenhänge bekannt, die deutlich machen, dass die gravierenden Sicherheitsmängel, die Behörden-Schlamperei und Korruption kein Einzelfall waren.
Dass Sicherheitsauflagen aus Kostengründen verworfen werden, ist eine tagtägliche Erfahrung vieler Arbeiter. In Internet-Blogs berichten Beschäftigte von Sicherheitsdiensten, dass der Veranstalter einen Tag vor der Loveparade ein Viertel bis Drittel der ohnehin knapp bemessenen Sicherheitskräfte und Ordner wieder abbestellte.
Schaller verhält sich nicht anders als die Dortmunder Entsorgungsfirma Envio, die eine noch unbekannte Zahl von Leiharbeitern durch das krebserregende PCB vergiftet hat, er unterscheidet sich nicht von Energiekonzernen, die darauf bestehen veraltete Atomkraftwerke weiter zu betreiben, oder in der Tiefsee nach Öl bohren.
Unabhängig von Sauerlands Rücktritt oder Abwahl wird in Duisburg deutlich, dass die Bevölkerung einer breiten Allianz aus Wirtschaft, Geschäftemachern und Parteien gegenüber steht, die die Sicherheit und das Leben der Bevölkerung ihren Profit- und Geschäftsinteressen unterordnet.
Während das Drama von Duisburg die Aufmerksamkeit und das Entsetzen von Millionen wachgerufen hat, bleiben die kleinen Dramen, die sich als Folge von Arbeitslosigkeit, Armut und Behördenschikanen täglich im privaten Kreis oder am Arbeitsplatz abspielen, der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
Wir wiederholen, was wir bereits in einem Flugblatt wenige Tage nach der Tragödie geschrieben haben: „Ein grundlegender politischer Kurswechsel ist nötig. Das erfordert den Aufbau einer neuen Partei, die die gesellschaftlichen Interessen höher stellt als die Profitinteressen der Banken und Konzerne, d.h. die für ein sozialistisches Programm kämpft. Die Partei für Soziale Gleichheit (PSG), die deutsche Sektion der Vierten Internationale, baut eine solche Partei auf.“