Die sozialdemokratischen Parteien Europas bekamen bei der am Sonntag zu Ende gegangenen Europawahl den Zorn der Wähler am meisten zu spüren. Einige der prominentesten sozialdemokratischen Parteien mussten ihre bisher schlechtesten Ergebnisse hinnehmen. Gleichzeitig war an der niedrigen Wahlbeteiligung von nur knapp über vierzig Prozent eine starke Desillusionierung breiter Wählerschichten mit dem Europaparlament und allen mit der Europäischen Union zusammenhängenden Institutionen abzulesen.
In Großbritannien fiel die Labour Party auf 15,3 Prozent zurück und konnte nur noch den dritten Platz hintern den Konservativen (24 Sitze) und den rechten Nationalisten der United Kingdom Independence Party (14 Sitze) ergattern. Die Labour Party wird nur zwölf Abgeordnete in das neue Europaparlament entsenden. Das Wahlergebnis wird weithin als weiterer Nagel im Sarg des politisch stark unter Druck stehenden britischen Premierministers und Führers der Labour Party, Gordon Brown, gesehen.
In Deutschland straften die Wähler die SPD ab, die nur 20,8 Prozent der Stimmen erhielt. Das ist ihr schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegszeit bei bundesweiten Wahlen. Schon bei den letzten Europawahlen 2004 erhielt die SPD nur katastrophale 21 Prozent, weil die deutschen Wähler die wirtschaftsfreundliche und unsoziale Politik der damaligen rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer entschieden ablehnten. Obwohl die SPD-Führung in den letzten Monaten verzweifelt versuchte, der Partei erneut den Anstrich einer Partei des kleinen Mannes zu geben, war ihr Ergebnis dieses Mal noch schlechter. Nach Presseberichten gab es in der SPD-Parteizentrale in Berlin versteinerte Gesichter, als das Ergebnis bekannt wurde.
Obwohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy in Umfragen ständig Negativrekorde einfährt, konnte die oppositionelle Sozialistische Partei daraus keinen Nutzen ziehen. Sie erhielt nur 16,8 Prozent der Stimmen und lag damit zehn Prozent hinter Sarkozys UMP. In der Hauptstadt Paris kam die Sozialistische Partei nur auf den dritten Platz, während sie landesweit nur knapp vor den französischen Grünen landete, die sechzehn Prozent gewannen.
Die Ergebnisse vom Sonntag stellen die Europawahlen von 2004 in Frankreich auf den Kopf. Damals gewannen die Sozialisten 29 Prozent und die UMP lag mit 16,6 Prozent weit zurück. Vertreter der Partei vergleichen das Ergebnis von 2009 schon mit der Präsidentschaftswahl von 2002, als der Kandidat der Sozialistischen Partei, Lionel Jospin, nur auf den dritten Platz hinter dem Kandidaten der faschistischen Nationalen Front Jean-Marie Le Pen kam und aus dem Rennen um das Präsidentenamt geworfen wurde.
Die sozialdemokratischen Parteien Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs gehören zu den ältesten ihres jeweiligen Landes. Alle haben im zwanzigsten Jahrhundert eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft gespielt. Ihre katastrophalen Ergebnisse bei der aktuellen Europawahl sind ein endgültiger politischer Wendepunkt für die Parteien selbst und kündigen eine Periode tiefer politischer Instabilität an.
In anderen führenden Ländern, in denen die Sozialisten entweder die Regierung stellen (Spanien) oder mitregieren (Österreich) wandten sich die Wähler massiv von diesen Parteien ab. Die SPÖ verlor im Vergleich zu den Europawahlen 2004 ein Drittel ihrer Wähler und erzielte ihr schlechtestes Wahlergebnis.
Von diesem Zusammenbruch der sozialdemokratischen Parteien profitierten vor allem konservative und extrem rechte Parteien.
Das neue Europaparlament
Die Fraktion sozialdemokratischer Parteien, die Partei Europäischer Sozialisten (SPE), ist von 217 Sitzen im scheidenden Parlament auf 163 Sitze zusammengeschmolzen, d.h. sie hat ein Viertel ihrer Stärke verloren.
Der Block konservativer Parteien, die Europäische Volkspartei (EVP), wird stärkste Fraktion bleiben und 263 Sitze (36 Prozent) der insgesamt 736 Sitze des neuen Europaparlaments besetzen. Das sind 25 weniger als vorher. Die UMP in Frankreich, die Konservativen in England und die CDU in Deutschland bejubelten das Wahlergebnis als Sieg für ihre Parteien
Eine genauere Untersuchung der Zahlen zeigt aber, dass die Konservativen zwar in einigen großen europäischen Ländern ihre Stimmenzahl erhöhen konnten, dass das Gesamtergebnis aber alles andere als ein klarer Wahlsieg für sie ist. In Deutschland hat die CDU Angela Merkels zum Beispiel im Vergleich zur EU-Wahl von 2004 fast sechs Prozent der Stimmen verloren (d.h. mehr als eine Million Stimmen). In Großbritannien war die United Kingdom Independence Party Hauptnutznießer der Verluste Labours und nicht die Konservativen, die älteste Partei Großbritanniens.
Trotz Zugewinnen für liberale marktwirtschaftliche Parteien in einigen Ländern - so zum Beispiel in Deutschland, wo Schichten von traditionellen CDU-Wählern zur FDP wechselten - verlor auch die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) an Unterstützung. Sie erhielt 81 Sitze gegenüber 100 vorher.
Trotz des Erfolgs der United Kingdom Independence Party verlor auch die Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie (Ind/Dem) der Euroskeptiker an Unterstützung. Sie verkleinerte sich von 24 Abgeordneten auf achtzehn.
Die Fraktion der Europäischen Linken, die hauptsächlich aus stalinistischen und kleinbürgerlich-radikalen linken Organisationen besteht, war ebenso nicht in der Lage, von der verbreiteten Unzufriedenheit mit den sozialdemokratischen Parteien zu profitieren. In einigen wenigen Ländern konnten diese linken Gruppen ihren Stimmanteil erhöhen, vor allem der Linke Block in Portugal, der auf 10,73 Prozent kam, und die kürzlich gegründete Linksfront in Frankreich mit 6,3 Prozent.
In Deutschland konnte Die Linke, ein Zusammenschluss von Post-Stalinisten und Gewerkschaftsbürokraten ihren Stimmanteil um kaum mehr als ein Prozent erhöhen und wird acht Abgeordnete nach Brüssel entsenden. Insgesamt hat die Fraktion der Europäischen Linken allerdings sieben Sitze verloren und stellt jetzt noch 34 Abgeordnete.
Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) Olivier Besancenots verpasste bei ihrer ersten Wahlteilnahme mit 4,8 Prozent den Einzug ins Europaparlament knapp.
Die Fraktion der Grünen konnte einen Zuwachs verzeichnen, weil die Grünen in Frankreich und Deutschland hinzugewannen. Sie erhalten elf Sitze mehr und schicken jetzt 54 Abgeordnete ins Europaparlament. Der Wahlkampf der Grünen in Deutschland und Frankreich war von atemberaubendem Opportunismus geprägt. Beide Parteien versuchten mit einer Mischung aus populistischen Versprechungen und der unerschütterlichen Verteidigung unsozialer Politik an Schichten des Kleinbürgertums zu appellieren. In Österreich, wo die Grünen seit fünf Jahren im Bundesland Oberösterreich in einer Koalition mit den Konservativen regieren, verlor die Partei ein Drittel ihrer Wähler.
Eine weitere Fraktion, die mehr Abgeordnete in das neue Parlament schicken wird, ist die Union für ein Europa der Nationen (UEN), zu der konservative und rechtspopulistische Parteien wie die italienische Lega Nord gehören. Sie gewann neunzehn zusätzliche Sitze und verfügt jetzt über 35 Abgeordnete.
Extrem rechtsnationalistische Parteien scheinen am meisten vom Einbruch der Sozialdemokraten profitiert u haben. In den Niederlanden gewann die antiislamische Freiheitspartei von Geert Wilders siebzehn Prozent der Stimmen und wurde damit zur zweitstärksten Partei des Landes im Europaparlament. In Österreich verdoppelte die Freiheitliche Partei mit zwölf Prozent ihr Ergebnis von 2004.
Das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), vormals unter Führung des verstorbenen rechten Populisten Jörg Haider, verpasste mit 4,7 Prozent den Einzug ins EU-Parlament. Der rechte EU-Abgeordnete Hans-Peter Martin konnte jedoch mit einer eigenen Liste beinahe achtzehn Prozent verbuchen. Martin führte einen Wahlkampf, in dem sich wortradikale Opposition gegen die EU-Bürokratie und ausländerfeindliche Sprüche die Waage hielten.
Rechtsextreme Populisten konnten auch in Finnland, Dänemark, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Großbritannien beträchtliche Zugewinne verbuchen. Die British National Party gewann zum Beispiel vier Sitze.
In Ungarn gewann der rechte Bürgerbund (Fidesz) unter Führung des ehemaligen Premierministers, Viktor Orbán, 56 Prozent der Stimmen, und die offen neo-faschistische Organisation Jobbik erhielt ungefähr fünfzehn Prozent. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass rechtsextreme Parteien von dem politischen Vakuum profitieren, das Verrat und Zerfall der sozialdemokratischen Parteien hinterlassen haben. Sowohl Fidesz als auch Jobbik profitierten von dem gründlichen Vertrauensverlust der regierenden Sozialistischen Partei, die mit siebzehn Prozent der Stimmen weniger als ein Drittel von Fidesz auf sich vereinigen konnte.
Auch wenn rechtsextreme und euroskeptische Tendenzen in einer Reihe von Ländern Oberwasser hatten, heißt dies nicht, dass breite Bevölkerungsschichten ihre Politik unterstützen. Erstens weist die ungewöhnlich niedrige Wahlbeteiligung darauf hin, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den meisten Ländern gar nicht an der Wahl teilnahm. In Ungarn ging nur ein Drittel der Wahlberechtigten an die Urne. In andern osteuropäischen Ländern und den baltischen Staaten war die Beteiligung noch niedriger. Nur 19,6 Prozent der Slowaken und nur 20,5 Prozent der Litauer nahmen an der Wahl teil.
Zweitens gab es auch rechtsextreme Parteien, die Verluste verzeichneten; so in Belgien und auch in Frankreich, wo der Front National von Le Pen vier Sitze verlor. Rechtsextreme Parteien, die zuvor hohe Stimmenzahlen erreichten, wie die Liga Polnischer Familien und die ebenfalls polnische Samoobrona (Selbstverteidigung) erhielten zu wenig Unterstützung, um wieder ins EU-Parlament einzuziehen.
Dies waren die ersten Europa-weiten Wahlen seit Ausbruch der weltweit tiefsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Für die Wähler Europas war es die erste Gelegenheit, ihr Urteil über die führenden Parteien abzugeben.
Das Ergebnis entspricht in ganz Europa einer Misstrauenserklärung gegenüber den herrschenden Eliten und EU-Einrichtungen. Die Mehrheit der europäischen Wähler drückte ihre Geringschätzung für die Europäische Union und die verschiedenen nationalen Regierungen aus, indem sie nicht an der Wahl teilnahm. Wer dennoch wählte, strafte seine jeweilige Regierung ab. Das war besonders in den Ländern der Fall, die am stärksten von der Krise betroffen sind. Die Regierungsparteien von Griechenland, Ungarn, Lettland, Bulgarien, Irland und Spanien, unabhängig davon, ob sie unter konservativer oder sozialdemokratischer Führung stehen, erlitten katastrophale Stimmenverluste.
Gleichzeitig lehnten die Wähler all jene Parteien ab, die am engsten mit den Ursachen der aktuellen Krise in Verbindung gebracht werden - so die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die unter dem früheren Kanzler Gerhard Schröder Marktwirtschaft pur betrieben und den deutschen Sozialstaat untergraben hatte, die Labour Party, die unter Tony Blair den "Dritten Weg" einführte, der Großbritannien in ein wahres Paradies für Spekulanten verwandelte, und die spanische "sozialistische" Regierung von José Zapatero, unter dessen Führung das Land die höchste Arbeitslosigkeit Europas erreichte.
Außerdem ist der Rückgang der Wählerstimmen für Organisationen, die der "Europäischen Linken" angehören, ein klarer Hinweis darauf, dass Wähler kein Vertrauen in eine Neuauflage des Reformismus haben. Die längerfristigen Auswirkungen einer solchen Perspektive können in Italien beobachtet werden, wo sich die rechte Silvio-Berlusconi-Regierung nur deshalb an der Macht hält, weil sie sich auf die politische Unterwürfigkeit und Feigheit der so genannten Linken und "äußersten Linken" stützen kann.
In Osteuropa und in mehreren westeuropäischen Ländern stellt das Anwachsen von neoliberalen und ultra-rechten Kräften eine reale Gefahr dar. Die britische Konservative Partei hat ihre Absicht angekündigt, aus der konservativen Europa-Fraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP) auszutreten und sich mit euroskeptischen und rechtsextremen Kräften in Europa zusammen zu schließen. Ein solcher Schritt würde die zentrifugalen nationalistischen Tendenzen noch verstärken.
Für die Arbeiterklasse ist die kapitalistische Europäische Union eine Falle. Die einzig fortschrittliche Lösung für die Krise ist der Zusammenschluss der arbeitenden Bevölkerung auf dem ganzen Kontinent, um ihre eigene, sozialistische Alternative zu verwirklichen: die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Mit dieser Perspektive ist in Deutschland nur die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) angetreten. Die PSG hat mit knapp zehntausend Stimmen relativ wenig Stimmen erhalten. Es ist jedoch klar, dass diese Stimmen eine bewusste Unterstützung für ein Programm bedeuten, das klar und deutlich ausspricht, welche Folgen die aktuelle internationale Krise hat, und das der Arbeiterklasse eine revolutionäre und internationalistische Richtschnur bietet.