Am 1. Juli wurde die 31jährige schwangere Ägypterin Marwa El-Sherbini in einem Gerichtssaal im Landgericht Dresden während einer Berufungsverhandlung von einem Rassisten, den sie wegen Beleidigung angezeigt hatte, mit einem Messer regelrecht abgeschlachtet. Ein herbeigeeilter Polizist kam ihr nicht etwa zu Hilfe, sondern schoss sofort ihren Ehemann nieder und verletzte ihn schwer.
Anders, als wenn Islamisten ein Attentat begehen oder auch nur angeblich zu begehen drohen, gab es aber keinen Aufschrei in den Medien oder seitens der Politik. Im Gegenteil: Nicht nur die Boulevardpresse, auch respektable Organe taten alles, um den Fall herunterzuspielen und ihm jede politische und soziale Bedeutung abzusprechen.
Was war geschehen? Ende letzten Jahres hatte El-Sherbini, die in einer Apotheke arbeitet, den 28jährigen arbeitslosen Russlanddeutschen Alexander W. auf einem Spielplatz gebeten, ihren kleinen Sohn auf die Schaukel zu lassen. Sofort wurde die Frau, die ein Kopftuch trägt, als "Schlampe, Terroristin und Islamistin" beschimpft. Sie zeigte ihn wegen Beleidigung an, W. wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Dagegen wurde Berufung eingelegt, ob von der Staatsanwaltschaft oder von W. ist nicht ganz klar.
Was dann in der Berufungsverhandlung geschah, schildert der Tagesspiegel so: "Die Vernehmung der Zeugen war abgeschlossen, da meldete sich der Russlanddeutsche zu Wort. Er bat, eine Frage stellen zu dürfen, die Kammer hatte nichts dagegen. Alex W. wandte sich an Marwa El-Sherbini: "Haben Sie überhaupt ein Recht, in Deutschland zu sein?" Stille im Saal. "Sie haben hier nichts zu suchen." Alex W. wurde laut. Und er drohte, "wenn die NPD an die Macht kommt, ist damit Schluss. Ich habe NPD gewählt." Dann stürzte er sich auf die Frau und begann mit einem Messer auf die Wehrlose einzustechen. Sein Verteidiger soll noch einen Stuhl auf ihn geworfen haben, auch das hielt W. nicht auf.
Der 32jährige Ehemann kam seiner Frau zu Hilfe, das Gericht löste Alarm aus. Wachtmeister und zwei zufällig anwesende Beamte der Bundespolizei stürmen herein, einer von ihnen schießt sofort, offenbar ohne zu fragen und ohne Warnung auf ihren Ehemann Elwi Ali Okaz, ebenfalls Ägypter. Der durch Messerstiche bereits gefährlich verletzte Mann wird ins Bein getroffen. Marwa El-Sherbini erliegt wenig später ihren Verletzungen. Achtzehn Mal hatte der Täter auf sie eingestochen. Ihr drei Jahre alter Sohn musste die Tat mit ansehen.
Man stelle sich einen Moment lang das Verbrechen "umgekehrt" vor: Ein Moslem beschimpft einen Deutschrussen als "Christenhund" und "Kreuzritter", bekennt sich in einem Gerichtssaal zu einer islamistischen Organisation und ersticht das Opfer anschließend. Kann es einen Zweifel an der Reaktion von Medien und Politik geben? Die Kanzlerin und jeder Minister wären umgehend vor jede greifbare Kamera geeilt, um nicht nur die Tat zu verurteilen, sondern auch den islamischen Fundamentalismus im Allgemeinen. Über Wochen würden zahllose "Experten" vor Radikalisierung, Integrationsverweigerung und Bildung von Parallelgesellschaften unter Muslimen warnen. Islamische Verbände würden aufgerufen, sich von solchen Verbrechen zu distanzieren, Moscheen sollten enger mit der deutschen Polizei kooperieren. Und Innenminister Schäuble würde vielleicht seine Forderung nach einem Einsatz der Bundeswehr im Innern wiederholen.
Wer dieses zum Glück noch hypothetische Szenario für übertrieben hält, möge sich an die Reaktionen auf die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh erinnern, an die Verteidigung der Mohammed-Karikaturen auch in Deutschland, die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI, oder auch die Absetzung von Mozarts Oper Idomeneo vor drei Jahren in Berlin.
Was war nun die deutsche Reaktion auf die Ermordung von Marwa El-Sherbini? Zunächst einmal praktisch gar keine. Die Politik äußerte sich erst einmal überhaupt nicht, in der Boulevardpresse gab es Randnotizen über "einen eskalierten Streit um eine Schaukel". Sachsens Justizminister Gert Mackenroth meinte lediglich, man werde künftig das Prinzip der "offenen Justiz" beenden, das heißt umfassende Sicherheitskontrollen an allen Gerichten einführen.
Eine der ersten Organisationen, die den Mord verurteilte, war neben islamischen Verbänden der Zentralrat der Juden. Deren Generalsekretär Stephan Kramer erklärte "Die, die bisher die Sorge um Islamophobie in Deutschland für eine Phantomdebatte abgetan haben, sehen sich nach diesem furchtbaren Ereignis Lügen gestraft". Kramer kritisierte die Reaktion der Bundesregierung, die sich tagelang bedeckt hielt und kommentierte später: "Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft die Tragweite des Dresdner Anschlags nicht erkannt hat. Es fehlt die Erkenntnis, dass der Mord an Marwa al-Sherbini ganz offensichtlich das Ergebnis der beinahe ungehinderten Hasspropaganda gegen Muslime von den extremistischen Rändern der Gesellschaft bis hin in deren Mitte ist."
An einer Demonstration in Dresden zum Gedenken an das Opfer und gegen rechte Gewalt nahmen schätzungsweise 1.500 Menschen teil, die Mehrheit davon waren Deutsche, die selbst keine Muslime waren. Sie waren ehrlich erschüttert und empört über die rassistische Bluttat.
Als es in Ägypten schließlich zu Protesten der Bevölkerung kam und die arabische, besonders die ägyptische Presse Deutschland immer massiver zu kritisieren begannen, schrieb Außenminister Frank-Walter Steinmeier schließlich am 10. Juli seinem ägyptischen Amtskollegen einen Brief, in dem er kondolierte und erklärte "Ausländerfeindlichkeit und Islamophobie" hätten in Deutschland "keinen Platz". Merkels Pressesprecher ließ verlauten, die Bundeskanzlerin habe dem ägyptischen Präsidenten Mubarak während des G-8-Gipfels "persönlich" ihr Mitgefühl ausgedrückt. Öffentlich haben sich bisher aber weder Merkel noch ein Minister der Bundesregierung geäußert.
Deutsche Zeitungen empören sich mittlerweile bereits kaum noch über den Mord, sondern über antideutsche Proteste in Ägypten und Iran, wo das Regime von Mahmud Ahmadinedschad dem deutschen Staat vorwarf, mitverantwortlich für die Bluttat zu sein.
In den liberalen Medien wie der Süddeutschen Zeitung und der Zeit wird heftig bestritten, dass es in Deutschland Islamfeindschaft gebe. Spiegel Online hat sich nicht in einem einzigen Kommentar geäußert, obwohl die Seite über die Reaktionen auf den Mord berichtet hatte. Kein Wunder: Ihr Haus- und Hofkolumnist für Islamfragen ist Henryk M. Broder, ein Mann der seit vielen Jahren systematisch Hetze und Provokationen gegen Muslime verbreitet. In einem Kommentar vom 16. Juli auf der Internetseite "Die Achse des Guten" mokierte er sich vor allem darüber, dass die Bundesregierung nicht jede Kritik aus dem Ausland als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückweise. Er beklagte sich über "Generalverdacht", der nun geäußert werde, ohne auszusprechen, gegen wen dieser angeblich geäußert werde. Er schloss seinen Erguss mit der zynischen Bemerkung, die ohne weiteres von der NPD kommen könnte, zur fast gleichzeitigen Tötung eines Deutschen durch einen Türken hätten "weder die Kanzlerin noch der türkische Ministerpräsident" Stellung bezogen.
So etwas mag zumindest gegenwärtig dem Spiegel dann doch zu viel sein.
In der Online-Ausgabe der konservativen Welt war allerdings dieses Wochenende bereits wieder ein Artikel über einen "Radikalisierungsschub bei [islamischen] Frauen" zu lesen. Dort heißt es unter Berufung auf den Hamburger Verfassungsschutz: "Im Extremfall führt diese Entwicklung bis zur völligen Selbstaufgabe und Isolation - oder in ein Terror-Camp. Teils überzeugt, teils bedrängt, werden diese Frauen zugleich Opfer und Unterstützerinnen salafistisch-dschihadistischer Bestrebungen". Grund für diesen "Radikalisierungsschub" sei, so die Zeitung, dass diese Frauen "das fromme, einem Mann untergeordnete Leben als Lebenslösung ansehen". Kopftuch und Koran führen also "im Extremfall" geradeswegs in Terror-Camps, sind sich Zeitung und Geheimdienst einig. Es war dieses politische Klima, in dem Marwa El-Shebini ermordet wurde.