Die steigende Flut des Wirtschaftsnationalismus

Je mehr sich die internationale Wirtschaftkrise verschärft, desto penetranter geht von ihr auf der ganzen Welt der unverwechselbare Gestank des Wirtschaftsnationalismus aus. Regierungen, die mit zusammenbrechenden Industrien und wachsendem Widerstand gegen Entlassungen konfrontiert sind, greifen auf protektionistische Maßnahmen zurück. Dabei sind die katastrophalen Konsequenzen einer solchen Politik auf Kosten der Nachbarstaaten seit den 1930er Jahren bestens bekannt.

Bei dem G-20-Gipfel Mitte November versprachen die Führer der größten Volkswirtschaften, ein Jahr lang keine Handels- und Investitionsbarrieren zu errichten, auch nicht solche, die mit den Regeln der WTO in Einklang stehen. In dem gemeinsamen Kommuniqué kam man überein, die gescheiterte Doha-Handelsrunde wieder aufzunehmen, um dem Welthandel auf die Beine zu helfen.

Die Financial Times merkte dazu an: "Das feierliche Versprechen, dass seine Unterzeichner mindestens ein Jahr binden sollte, hielt gerade einmal 36 Stunden, bis Russland bekannt gab, es werde die von ihm geplanten höheren Einfuhrzölle auf Autos durchziehen. Mehrere andere G-20-Länder nahmen sich ein Beispiel an Moskau, und Indien, Brasilien, Indonesien und Argentinien versuchten ebenfalls, sich durch Missachtung der Vereinbarung einen stärkeren Schutz zu verschaffen." Seither sind in einem Land nach dem anderen protektionistische Maßnahmen ergriffen worden, darunter auch in den USA und der Europäischen Union.

Was die Doha-Runde angeht, so hat der Generalsekretär der WTO, Pascal Lamy, vergangenen Monat ein Ministertreffen abgesagt, das die neuen Verhandlungen auf den Weg bringen sollte. Er erklärte: "Es besteht ein unakzeptabel hohes Risiko des Scheiterns, das nicht nur die Runde beschädigen könnte, sondern das ganze WTO-System gleich mit." Diese Woche versuchte Lamy einen optimistischeren Ton anzuschlagen. In einem Interview im britischen Fernsehen bezeichnete er den Abschluss der Runde als "eine reife Frucht" und betonte, achtzig Prozent des Pakets seien geschnürt. Aber es gibt eigentlich keine Anzeichen dafür, dass man sich überhaupt um die "verbleibenden 20 Prozent" bemüht, die im vergangenen Jahr zum Scheitern der Gespräche führten.

Vergangene Woche beschleunigte die neue Obama-Regierung noch die Welle von Protektionismus: Tim Geithner, der Mann, der Obamas neuer Finanzminister werden soll, beschuldigte China, es manipuliere seinen Währungskurs, um den Export zu stärken. Würde das Weiße Haus Peking offiziell als "Währungsmanipulierer" einstufen, könnte es auf Grund amerikanischer Handelsgesetze ein breites Arsenal an Strafzöllen und anderen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen China verhängen.

Die Demokraten im Repräsentantenhaus gingen sogar noch einen Schritt weiter: Sie fügten eine Klausel nach dem Motto "Kauft amerikanisch!" in Obamas 825 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm ein, das am Mittwoch verabschiedet wurde. Die Klausel verlangt, dass für Infrastrukturprojekte, die aus diesem Programm finanziert werden, nur amerikanischer Stahl und amerikanisches Eisen verwendet werden. Dagegen haben europäische Stahlproduzenten protestiert. Der Demokratische Senator Byron Dorgan schlägt eine noch weiter gehende Regel vor, die fast alle ausländischen Materialien ausschließen soll, wenn das Paket dem Senat vorgelegt wird.

Solche Maßnahmen provozieren Gegenmaßnahmen und einen umfassenden Handelskrieg. Ein Kommentar im US-Journal Foreign Policy warnte vor den "ausdrücklich protektionistischen Formulierungen" in dem Paket, die von der übrigen Welt sicher "als schlechtes Zeichen aufgefasst werden. Die Welt kann sich ein protektionistisches Indonesien oder Indien leisten. Aber wenn die Vereinigten Staaten ihre traditionelle Führungsrolle aufgeben, dann haben wir ein viel größeres Problem."

Schon wurden Anfang der Woche, auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos, Ermahnungen gegen wachsenden Protektionismus laut, unter anderem von den Premierministern Russlands und Chinas. Igor Yurgens, ein wichtiger Berater des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew, brachte die Verbitterung in Moskau und in anderen Hauptstädten über die Auswirkung der diversen amerikanischen Rettungspakete zum Ausdruck. "Natürlich erwartet er [Obama], dass China oder Russland amerikanische Schatzbriefe kaufen [um das massive amerikanische Defizit zu finanzieren]. Das ist ganz schön selbstsüchtig, und im Grunde genommen ist das Protektionismus", erklärte Yurgens.

Die Handelsmaßnahmen schaukeln sich gegenseitig hoch, und immer öfter kommt es zu juristischen Streitereien. China reichte diese Woche seine zweite Klage bei der WTO ein. Es protestierte damit gegen amerikanische Importbeschränkungen bei Stahlröhren, Reifen und gewobenen Säcken. Peking hatte den Streit im vergangenen September ausgelöst, und Washington ging juristisch gegen subventionierte chinesische Markenprodukte vor. Gegen China, den nach Deutschland zweitgrößten Exporteur der Welt, laufen sieben Verfahren bei der WTO, und an allen sind die USA beteiligt.

Es gibt keinen Mangel an Wirtschaftskommentatoren, die düster vor der Gefahr warnen, dass Protektionismus die Weltwirtschaft in eine Depression wie in den 1930er Jahren bringen könnte. Der Welthandel geht dramatisch zurück. Der IWF sagte diese Woche voraus, das Volumen des Welthandels werde 2009 um 2,8 Prozent schrumpfen. Letztes Jahr war er noch um 4,1 Prozent gewachsen. Die Kapitalistenklasse steht in jedem Land unter dem Druck, angesichts einer schrumpfenden globalen Wirtschaft die Krise auf ihre internationalen Rivalen und auf die Arbeiterklasse abzuwälzen.

Als 1930 das Smoot-Hawley-Zollgesetz in den USA verabschiedet wurde, sahen viele die katastrophalen Folgen voraus. Dieses Gesetz erhöhte die amerikanischen Zölle für fast 900 Warengruppen. 1.028 amerikanische Ökonomen unterzeichneten damals einen Appell an Präsident Herbert Hoover, das Gesetz nicht zu unterzeichnen. Der Economist zitierte kürzlich den Bericht von Thomas Lamont, Partner von J.P. Morgan, der sich erinnerte: "Ich bin vor Hoover fast auf die Knie gefallen, damit er sein Veto gegen dieses dämliche Gesetz einlegte. Das Gesetz heizte den Nationalismus in aller Welt an." Trotzdem unterzeichnete Hoover das Gesetz und provozierte natürlich eine Lawine von Vergeltungsmaßnahmen, den Zusammenbruch des Welthandels und die Herausbildung von feindlichen Währungsblöcken, die die Koalitionen des Zweiten Weltkriegs vorwegnahmen.

Die Vertreter des "Freihandels" sprechen für die Banken, die Finanzindustrie und die global wettbewerbsfähigen Industrien. Aber es gibt unter den weniger wettbewerbsfähigen Industrien auch klare Befürworter von Protektionismus. Wirtschaftsnationalismus hat auch eine wichtige ideologische Funktion, indem er den Zorn der arbeitenden Bevölkerung über Arbeitsplatzvernichtung und den Verfall des Lebensstandrads nach außen richtet, weg von der wirklichen Ursache der Krise - dem Profitsystem selbst.

Dieses reaktionäre Gift wird von den Gewerkschaften und ihren kleinbürgerlich-radikalen Anhängseln in die Arbeiterklasse gepumpt. Der Wirtschaftsnationalismus verteidigt aber keine Arbeitsplätze und -bedingungen, sondern geht Hand in Hand mit der weiteren Verarmung der arbeitenden Bevölkerung. Ob in den USA, Europa oder wo auch immer, die gleichen Gewerkschaftsbürokraten, die in den vergangenen drei Jahrzehnten dem Abbau der Industrie die Hand gereicht haben, befürworten heute im Namen der Verteidigung amerikanischer oder europäischer Unternehmen mit protektionistischen Mitteln weitere Opfer bei Löhnen und Arbeitsbedingungen.

Der Rettungsplan für die amerikanische Autoindustrie, der von der Autoarbeitergewerkschaft unterstützt wird, setzt eine brutale Umstrukturierung der Industrie voraus, die Werksschließungen und systematische Lohnsenkungen erfordert. In Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern arbeiten die Gewerkschaften mit den Regierungen und Konzernen zusammen, um "ihre" Autoindustrie zu verteidigen. Mit der Drohung von Arbeitsplatzvernichtung versuchen sie die Arbeiter hinter diesen Kurs zu prügeln. Klassenzusammenarbeit liegt in der Logik des Wirtschaftsnationalismus und führt dazu, dass die Arbeiter in jedem Land gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern weltweit in Stellung gebracht werden. Das Endresultat ist Handelskrieg und Krieg.

Die Arbeiterklasse kann ihre Interessen weder unter dem Banner des Protektionismus, noch dem des "Freihandels" verteidigen. Die Voraussetzung für einen wirklichen Kampf zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und des Lebensstandards ist die politische Unabhängigkeit der Arbeiter von allen Flügeln der Kapitalistenklasse. Die natürlichen Verbündeten der Arbeiter in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern sind die Arbeiter in Billiglohnländern wie China oder Indien, die oft von den gleichen globalen Konzernen ausgebeutet werden. Sie haben das gleiche Klasseninteresse, das anarchische Profitsystem abzuschaffen und es durch eine weltweit geplante, sozialistische Wirtschaft zu ersetzen. Das ist die Perspektive der World Socialist Web Site und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Siehe auch:
Erfolgreiche Veranstaltungen der ISSE zur internationalen Finanzkrise
(21. Januar 2009)
Der Finanzkrach 2008 und die Perspektiven für 2009
( 13. Januar 2009)
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