Zwanzig Jahre seit dem Mauerfall

Den folgenden Vortrag hielt Peter Schwarz, Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, am 29. November 2009 in Leipzig.

Die heutige Veranstaltung findet an einem historischen Ort statt. Direkt hier vor dem Fenster begann am 4. September 1989 die erste Montagsdemonstration. Im Anschluss an einen Gottesdienst in der Nikolai-Kirche gingen etwa 1.200 Teilnehmer auf die Straße und entrollten Plakate, auf denen stand: "Für ein offenes Land mit freien Menschen", "Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit", "Reisefreiheit statt Massenflucht". Die Transparente wurden von Mitarbeitern der Staatssicherheit beschlagnahmt und der Demonstrationszug von der Polizei gestoppt.

In den folgenden Wochen wuchsen die Demonstrationen - erst auf einige Tausend, ab Mitte Oktober auf Hunderttausende - und dehnten sich auf Dresden und andere Städte aus. Am 4. November versammelten sich auf dem Berliner Alexanderplatz eine Million Teilnehmer zur größten Demonstration der DDR-Geschichte. Fünf Tage später fiel die Mauer. Elf Monate danach existierte die DDR nicht mehr.

Seither wird diese Bewegung als "friedliche Revolution" bezeichnet. Aber verdienen die Ereignisse vom Herbst 1989 wirklich die Bezeichnung "Revolution"? Die Montagsdemonstrationen haben zwar zum schnellen Zusammenbruch des DDR-Regimes beigetragen. Aber sie waren nur ein Faktor unter vielen, und dabei noch nicht einmal der wichtigste. Das SED-Regime hatte sich, als die Montagsdemonstrationen begannen, längst selbst aufgegeben.

Die DDR bewegte sich Richtung Bankrott. Ihre Verschuldung im Westen war von zwei Milliarden D-Mark in Jahr 1970 auf 49 Milliarden Mark gestiegen. Ohne Unterstützung der westdeutschen Regierung hätte die DDR-Regierung nicht mehr lange überleben können. In einer Analyse der ökonomischen Lage der DDR, die Gerhard Schürer, der Chef der Staatlichen Planungskommission im Oktober 1989 vorlegte, hieß es, die Verschuldung sei "auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt". Daraus folgerte Schürer: "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25-30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen."

Es ist klar, was das bedeutet hätte: Unkontrollierbare Demonstrationen, Streiks und Aufstände, die auch unter den Arbeitern Westdeutschlands und der restlichen Welt ein großes Echo gefunden hätten. Man sollte nicht vergessen, dass sich damals auch in der Bundesrepublik und den restlichen kapitalistischen Ländern die Anzeichen einer tiefen Krise häuften. In Westeuropa waren offiziell 20 Millionen arbeitslos, tatsächlich waren es über 30 Millionen. Die Sozialreformen, die sich die Arbeiterklasse nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpft hatte, waren unter ständigem Beschuss. Die Anzeichen finanzieller Instabilität häuften sich. Bereits im Oktober 1987 war es zu einem internationalen Börsenkrach gekommen, der an den Krach von 1929 erinnerte. Der Dow Jones war an einem Tag um über 20 Prozent abgestürzt und brauchte 15 Monate, um den alten Stand wieder zu erreichen.

Unter diesen Umständen entschied die SED, in die Arme der westdeutschen Regierung zu flüchten. "Nach meiner Einsicht war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden", beschrieb der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow später seine damalige Haltung. Entgegen weit verbreiteter Mythen hat die SED also die Kontrolle über die Ereignisse nie verloren, wie dies bei einer wirklichen Revolution der Fall gewesen wäre.

Die Regierung Modrow organisierte die Vereinigung Deutschlands und sorgte dafür, dass - wiederum in den Worten Modrows - "die Regierbarkeit des Landes bewahrt und ein Chaos verhindert" wurde. Sie kam so nicht nur einem wirklichen revolutionären Aufstand in der DDR zuvor, sondern rettete auch die Regierung Kohl, der damals niemand mehr eine Chance bei der 1991 anstehenden Bundestagswahl einräumte. Kohl blieb schließlich bis 1998 an der Macht. Mit 16 Jahren regierte er länger als jeder andere deutsche Bundeskanzler.

Die maßgeblichen Entscheidungen, die zu den deutschen Ereignissen vom Herbst 1989 führten, waren bereits vier Jahre vorher in Moskau gefallen. Mit der Ernennung Michail Gorbatschows zu ihrem Generalsekretär hatte die KPdSU die Weichen in Richtung kapitalistischer Restauration gestellt. Über die Hintergründe und Ursachen dafür wird Wolfgang Weber in einem gesonderten Beitrag sprechen. Ohne die Rolle und den Charakter der stalinistischen Bürokratie zu begreifen, die in den 1920er Jahren die Marxisten in der Sowjetunion von der Macht verdrängte und in den 1930er Jahren physisch vernichtete, kann man das Ende der DDR und der Sowjetunion nicht wirklich verstehen. Ich will mich in meinem Beitrag auf die Ereignisse in der DDR beschränken.

Wie die SED die Vereinigung vorantrieb

Bereits in seiner Regierungserklärung, die er sechs Wochen nach dem Mauerfall abgab, schlug der neue DDR-Regierungschef Hans Modrow eine "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden deutschen Staaten vor. Die Bundesregierung war vom Mauerfall völlig überrascht worden. Erst jetzt dämmerte ihr, dass die deutsche Widervereinigung, die sie seit Jahrzehnten propagiert, aber praktisch für unrealisierbar gehalten hatte, in den Bereich des Möglichen gerückt war.

Kohl reagierte elf Tage später, am 28. November, mit einem Zehn-Punkte-Programm, das die Wiedervereinigung in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren vorsah. Doch der SED, die sich inzwischen in SED-PDS umbenannt hatte, ging das nicht schnell genug. Am 19. Dezember trafen sich Modrow und Kohl in Dresden, um ihre Pläne aufeinander abzustimmen und gemeinsam gegen massiven internationalen Widerstand durchzusetzen.

Vor allem die britische und die französische Regierung waren gegen die Vereinigung, weil sie die Entstehung eines übermächtigen Großdeutschlands fürchteten. US-Präsident George Bush (der Vater von George W. Bush) unterstützte dagegen Kohls Plan.

Modrow übernahm die Aufgabe, mögliche Hindernisse von sowjetischer Seite auszuräumen. Ende Januar reiste er nach Moskau, um Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Einheit zu erlangen. In seinen Erinnerungen betont er, dass er und nicht Kohl es war, der Gorbatschow überzeugte, der Vereinigung keine Hindernisse in den Weg zu legen. Er schreibt: "Die grundsätzliche Entscheidung für die Einheit wurde am 30. Januar zwischen Gorbatschow und mir nach ausführlicher Diskussion vereinbart. Was der Bundeskanzler im Februar beraten und festgemacht hat, baute auf den am 30. Januar erzielten Ergebnissen auf."

Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion veröffentlichte Modrow am1. Februar eine Erklärung "Deutschland, einig Vaterland" und stellte sich damit an die Spitze der nationalistischen Welle, die in den folgenden Wochen das Land überflutete und im März zum Sieg der CDU bei der Volkskammerwahl führte. Die Regierung Modrow vereinbarte mit der Bundesregierung auch die Währungsunion, die die Vereinigung unumkehrbar machte und die Voraussetzung für den völligen Zusammenbruch der DDR-Industrie schuf.

Die Einführung der D-Mark, die der DDR-Bevölkerung Zugang zu heiß begehrten Westprodukten verschaffte, war ein vergiftetes Geschenk. Zu DM-Preisen waren ostdeutsche Industrieprodukte in Osteuropa und der Sowjetunion, mit denen die DDR wirtschaftlich eng verzahnt war, nicht mehr erschwinglich, während sie auf den Westmärkten aufgrund der geringeren Arbeitsproduktivität nicht konkurrenzfähig waren. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft war abzusehen - und die Regierung Modrow sorgte vor. Sie gründete die Treuhandanstalt, die die DDR-Industrie in den kommenden drei Jahren abwickeln sollte.

Die sozialen Folgen des industriellen Niedergangs waren verheerend. Von der Treuhandanstalt, deren Spitze aus führenden Vertretern der westdeutschen Wirtschaft bestand, wurden insgesamt 14.000 volkseigene Betriebe verkauft, umgewandelt oder abgewickelt. 95 Prozent der privatisierten Betriebe gelangten in den Besitz von Eigentümern außerhalb der Neuen Länder. Innerhalb von drei Jahren verloren oder wechselten 71 Prozent aller Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Bis 1991 wurden 1,3 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, eine weitere Million in den Jahren darauf. Im produzierenden Gewerbe beträgt die Anzahl der Beschäftigten heute ein Viertel der Zahl von 1989. Große Teile der ostdeutschen Bevölkerung verloren schnell das Vertrauen in die Zukunft. Der Niedergang der Geburtenrate ist dafür ein deutlicher Indikator: Sie sank von 199.000 Neugeborenen im Jahr 1989 auf 79.000 im Jahr 1994.

Die Folgen dieses industriellen und sozialen Kahlschlags sind auch heute nicht überwunden. Mit 13 Millionen liegt die Bevölkerungszahl der Neuen Bundesländer deutlich unter den 14,5 Millionen zur Zeit der Wende. Auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ziehen noch jeden Tag 140 Ostdeutsche in den Westen. Die Arbeitslosenrate lag über Jahre hinweg bei 20 Prozent. Erst in den letzten fünf Jahren ist sie auf derzeit 12 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang ist aber nicht auf die Schaffung neuer regulärer Arbeitsplätze, sondern auf die Ausweitung von Billiglohn- und Teilzeitarbeit zurückzuführen. Jeder zweite Beschäftigte in Ostdeutschland arbeitet unter der Niedriglohnschwelle von 9,20 Euro. Der Durchschnittsbruttolohn liegt mit 13,50 Euro weit unter dem Westniveau von 17,20 Euro.

Wie konnte es zur kapitalistischen Restauration kommen?

Wir haben in der Einladung zu dieser Versammlung geschrieben: "Der Mauerfall leitete das Ende einer Diktatur ein. Doch an ihre Stelle trat nicht die Demokratie, sondern eine neue Diktatur, die Diktatur des Kapitals."

Wie konnte es dazu kommen? Warum waren diejenigen, die 1989 auf die Straße gingen und oft erheblichen Mut bewiesen, nicht in der Lage, dieser verheerenden Entwicklung einen Riegel vorzuschieben und ihren Interessen stärker Geltung zu verschaffen? Warum hat die Arbeiterklasse der DDR, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung ausmachte, keine selbständige politische Rolle gespielt?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man zwei Themenbereiche untersuchen: Die systematische Ausrottung der sozialistischen Tradition der Arbeiterbewegung durch den Stalinismus und die Politik der politischen Gruppen, die im Herbst 1989 an der Spitze der Bewegung standen

Beginnen wir mit dem ersten. Die SED war trotz ihren gegenteiligen Behauptungen keine sozialistische, sondern eine stalinistische Partei. Der Stalinismus ist, was seine theoretischen Konzeptionen und seine soziale Basis betrifft, das Gegenteil des Marxismus. Theoretisch vertritt er (wie die rechte Sozialdemokratie) eine nationale Auffassung des Sozialismus, oder - wie es Stalin selbst formulierte - die Konzeption vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land". Marxisten bestehen dagegen darauf, dass sich der Sozialismus nur im internationalen Maßstab verwirklichen lässt.

Sozial verkörpert der Stalinismus die Interessen der Bürokratie, die sich in den 1920er Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit und Isolation in der Sowjetunion herausgebildet und zu einer privilegierten Kaste entwickelt hat. Die Bürokratie fand Unterstützung in Teilen der bolschewistischen Partei. Sie entdeckte in Stalin ihren Führer und usurpierte in heftigen Kämpfen gegen die von Leo Trotzki geführte Linke Opposition schließlich die Macht, indem sie die Opposition verdrängte, unterdrückte und physisch liquidierte.

Das größte Verbrechen des Stalinismus bestand in der systematischen Ausrottung der sozialistischen Traditionen der Arbeiterklasse. Während sich Stalin mit imperialistischen Führern wie Roosevelt, Churchill und zeitweise sogar Hitler verbündete, kannte er gegenüber Revolutionären keine Gnade. Sein Terror, der fürchterliche Formen annahm, richtete sich in erster Linie gegen die Arbeiterklasse und ihre marxistische Führung. Dem "Großen Terror" der Jahre 1937/38 fiel praktisch alle führenden Mitglieder der bolschewistischen Partei zum Opfer, die 1917 an der Seite Lenins und Trotzkis die Oktoberrevolution zum Sieg geführt hatten. Hinzu kamen Hunderttausende jüngere Marxisten, Fabrikarbeiter, Ingenieure, Akademiker, Künstler und Offiziere der Roten Armee, die dem Sozialismus treu ergeben waren. Es war ein politischer Völkermord ohne Vergleich in der Geschichte.

Die stalinistische Bürokratie stützte ihre Herrschaft zwar auf die Eigentumsverhältnisse, die 1917 durch die russische Oktoberrevolution geschaffen worden waren. Aber sie tat das als Parasit, der seinen Wirt aussaugt und letztlich zerstört. Indem sie jede Form von Arbeiterdemokratie unterdrückte, erdrosselte sie das kreative Potential des gesellschaftlichen Eigentums. Dasselbe galt für ihre internationale Politik. Die von ihr abhängigen Kommunistischen Parteien erstickten jede revolutionäre Bewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zu einer wichtigen Säule des Status Quo, der die Stabilität der kapitalistischen Herrschaft im Weltmaßstab sicherte. In Absprache mit den westlichen Alliierten dehnte die stalinistische Bürokratie ihre Herrschaft auch auf Osteuropa aus, wo sie jede unabhängige Regung der Arbeiterklasse unterdrückte - wie am 17. Juni 1953 bei der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR.

Dem "Großen Terror" der 1930er Jahren waren nicht nur die Führer der Oktoberrevolution zum Opfer gefallen, sondern auch die meisten deutschen Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren. Nur Speichellecker hatten überlebt, die ihre eigenen Genossen an die stalinistischen Henker verraten hatten - Leute wie Ulbricht und Mielke, die nun die Führung der SED bildeten. Auch Herbert Wehner gehörte dazu, der nach dem Krieg in der SPD Karriere machte.

Die SED setzte Stalins Kreuzzug gegen den Marxismus auch in der DDR fort. Oskar Hippe, ein führender Trotzkist, der unter den Nazis zwei Jahre im Gefängnis gesessen und das Hitler-Regime überlebt hatte, wurde 1948 in der DDR verhaftet, misshandelt und acht Jahre lang eingesperrt. Während westdeutsche Politiker und Medien Zugang zur DDR hatten, durften Trotzkisten bis zum Mauerfall nicht offen arbeiten und galten als Staatsfeind Nummer Eins. Trotzkis Werke blieben tabu.

Als Folge davon waren die Arbeiter, die sich an den Demonstrationen vom Herbst 1989 beteiligten, völlig von der marxistischen Tradition abgeschnitten, die sie nur in ihrer stalinistisch pervertierten Form kennen - und verachten - gelernt hatten. Sie verfügten über keine unabhängige Perspektive, um ihre sozialen Errungenschaften zu verteidigen, die untrennbar mit dem gesellschaftlichen Eigentum verbunden waren.

Zum Wortführer der Proteste wurde so die Bürgerrechtsbewegung, die sich im Schatten der Kirche entwickelt hatte und von der SED toleriert worden war. Nicht wenige ihrer Mitglieder - wie der erste Vorsitzende der DDR-SPD Ibrahim Böhme und der Vorsitzende des Neuen Aufbruchs Wolfgang Schnur - entpuppten sich später als Mitarbeiter der Stasi. Es waren Pfarrer, Rechtsanwälte und Künstler, deren Perspektive nicht über die Forderung nach einer Reform des bestehenden Regimes und einen Dialog mit ihm hinausgingen.

So begann der Gründungsaufruf des Neuen Forums mit den Worten: "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Und Demokratie Jetzt leitet ihre "Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR" mit dem Satz ein: "Das Ziel unserer Vorschläge ist es, den inneren Frieden unseres Landes zu gewinnen und damit auch dem äußeren Frieden zu dienen." Diese Aufrufe waren nicht revolutionär, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes konservativ, darauf ausgerichtet, das Bestehende zu erhalten. Die Forderung nach Reformen entsprang nicht dem Wunsch nach, sondern der Angst vor einer Revolution.

Kaum hatte das Regime die ersten Zugeständnisse gemacht und Erich Honecker durch Egon Krenz und Hans Modrow ersetzt, arbeitete die Bürgerrechtsbewegung - erst am "Runden Tisch", dann in der Regierung - eng mit der SED zusammen, um die Protestbewegung unter Kontrolle zu bringen und die Initiative an die Bundesregierung von Helmut Kohl auszuhändigen.

"Die Demokraten vom Herbst 1989", kommentierten wir ihr Verhalten im Vorwort zum Buch "Das Ende der DDR", "erwiesen sich in jeder Hinsicht als würdige Nachfolger der Demokraten von 1848, der Abgeordneten der Paulskirche, über die Engels einst so treffend schrieb: ‚Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen.’ Auf ihre Leistungen trifft dasselbe Urteil zu, das Engels schon über jene ihrer historischen Vorgänger gefällt hatte: Sie können ‚mit Recht als Maß dessen genommen werden, wessen das deutsche Kleinbürgertum fähig ist - zu nichts anderem als dazu, jede Bewegung zugrunde zu richten, die sich seinen Händen anvertraut.’"

Warnung vor der kapitalistischen Restauration

Diese Entwicklung war nicht unvermeidlich. Der Bund Sozialistischer Arbeiter, wie die heutige Partei für Soziale Gleichheit damals noch hieß, hatte damals die Folgen der Einführung des Kapitalismus mit erstaunlicher Präzision vorausgesehen und davor gewarnt. Seine Erklärungen aus der Wendezeit und die Artikel, die in der Wochenzeitung Neue Arbeiterpresse erschienen, sind in dem Band "Das Ende der DDR" gesammelt, aus dessen Vorwort ich eben zitiert habe.

Am 4. November schmuggelte der BSA Tausende von Aufrufen über die Grenze und verteilten sie auf der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz. Er unterstützte die Proteste gegen das SED-Regime, warnte aber vor den Fallstricken der bürgerlichen Demokratie. Er stellte die Alternative, vor der die Arbeiter der DDR standen, in folgenden Worten dar: "Reform, bürgerliche Demokratie bzw. Diktatur des Kapitals auf der einen Seite oder Revolution, Arbeiterdemokratie und Sozialismus auf der anderen - aus dem Klassencharakter des in der DDR herrschenden Regimes ergibt sich zwangsläufig, dass es für die Arbeiterklasse in Ostdeutschland ebenso wie in Westdeutschland keinen Weg außerhalb dieser Alternative gibt."

Ausdrücklich warnte der Aufruf vor den Gefahren der kapitalistischen Restauration. Nach der Ablösung Erich Honeckers werde die neue Führung "versuchen, selbst die sehr begrenzten Reformen und wirtschaftlichen Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, die mit den staatlichen Eigentumsverhältnissen und der Planwirtschaft verbunden waren, zu beseitigen, den Kapitalismus wieder herzustellen und die Bürokratie dabei in eine neue Klasse von Kapitalisten zu verwandeln", heißt es darin.

Am 5. Januar 1990 schrieb der BSA in einer Erklärung über die zwischen der Bundesrepublik und der DDR vereinbarte Vertragsgemeinschaft: "Lasst nicht zu, dass das SED-Regime unter den neuen Köpfen Modrow und Gysi zusammen mit Kohl und den Kapitalisten die Früchte des Sieges über Honecker erntet! Die Vertragsgemeinschaft zwischen beiden Regierungen zur vollständigen Wiederherstellung des Kapitalismus in der DDR richtet sich gegen die Arbeiter in beiden Teilen Deutschlands: Die DDR-Arbeiter sollen in Billiglohnsklaven für westliche Konzerne und Joint Ventures verwandelt und im Westen soll dies zur Spaltung der Arbeiterklasse und zur Durchsetzung von Lohnsenkungen und Stilllegungen benutzt werden."

Zahlreiche Artikel der Neuen Arbeiterpresse warnten vor der Politik des Runden Tischs, des Neuen Forums und der Vereinigten Linken, in der auch die Anhänger Ernest Mandels aktiv waren und sich an der Regierung Modrow beteiligten.

Obwohl er erst seit wenigen Wochen offen in der DDR arbeiten konnte, gewann der BSA genügend Unterstützer, um sich am 18. März mit eigenen Kandidaten an der letzten Volkskammerwahl zu beteiligen. Aus dem damaligen Wahlaufruf möchte ich einige Passagen vorlesen, weil sie deutlich machen, wie klar wir damals die kommende Entwicklung voraussahen.

Es heißt darin: "Die Arbeiterklasse muss voller Verachtung alle politischen Tendenzen zurückweisen, die die stalinistische Diktatur durch die Diktatur der Deutschen Bank, d.h. durch die Diktatur des Imperialismus ersetzen wollen. Die wild gewordenen Kleinbürger vom ‚runden Tisch’ schwärmen über die Vorzüge des Kapitalismus zu einem Zeitpunkt, wo sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in allen kapitalistischen Ländern über zehn Jahre hinweg drastisch verschlechtert haben; wo in Europa jeder vierte, in Südeuropa jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit und Ausbildung ist; wo die Lebenserwartung in den Armenvierteln New Yorks niedriger liegt als in Bangladesch; wo in den ärmsten Ländern der Welt täglich Hunderttausende als Folge der imperialistischen Ausplünderung Hungers sterben. ...

Die Arbeiterklasse muss dem Einhalt gebieten. ... Der Bund Sozialistischer Arbeiter, die deutsche Sektion der Vierten Internationale, wendet sich als einzige Partei direkt an die Arbeiterklasse und ruft sie zur bedingungslosen Verteidigung ihrer Errungenschaften auf: Die Produktionsanlagen, die von der Arbeiterklasse unter größten Opfern aufgebaut worden sind, dürfen nicht an die Kapitalisten verschachert werden. Das verstaatlichte Eigentum muss von den stalinistischen Schmarotzern gereinigt und in die Hände der Arbeiterklasse gelegt werden. Verhindert das Eindringen kapitalistischer Konzerne und Banken! Die Arbeiterklasse trägt keinerlei Verantwortung für die stalinistische Misswirtschaft. Verhindert alle Preiserhöhungen, Mietsteigerungen und Lohnsenkungen, die das Modrow-Regime im Namen von ‚Subventionsabbau’ durchführt!"

Warum war BSA in der Lage, die Folgen der Einführung des Kapitalismus vorauszusehen?

Wir gründeten unsere Einschätzung auf ein marxistisches Verständnis der Geschichte und der Krise des Kapitalismus. Wir wussten, dass der Stalinismus in jeder Hinsicht konterrevolutionär ist, und hatten dieses Verständnis jahrzehntelang auch gegen opportunistische Strömungen in den eigenen Reihen verteidigt.

Und wir verstanden, dass die Krise der stalinistischen Regime lediglich ein Vorbote des Bankrotts aller Organisationen war, die sich auf ein nationales Programm stützen. Der globale Charakter der modernen Produktion hatte dem Nationalstaat den Boden entzogen, auf dem nicht nur die stalinistischen Regime, sondern auch die kapitalistische Gesellschaft beruhte. Der Gegensatz zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaat musste - wie schon zwischen 1914 und 1945 - unweigerlich schwere wirtschaftliche Krisen, internationale Spannungen und gesellschaftliche Erhebungen hervorrufen. Der Kollaps des Stalinismus war der Auftakt zu einer neuen Epoche von Kriegen und Revolutionen.

Diese Einschätzung ist in den zwanzig Jahren seit dem Mauerfall bestätigt worden. Die Finanzkrise vom Herbst 2008 hat gezeigt, wie zerrüttet die Fundamente des Kapitalismus sind. Und diese Krise ist nicht gelöst. Der Spiegel hat in seiner letzten Ausgabe ein vernichtendes Bild des Zustands der kapitalistischen Gesellschaft gezeichnet. "Inmitten einer noch immer kriselnden Weltwirtschaft scheffelt die Finanzelite erneut Milliarden", schreibt er. "Die alte Gier ist wieder da und die alte Hybris auch." Nie zuvor in der modernen Wirtschaftsgeschichte habe "die Finanzindustrie einen derart ungehinderten Zugriff auf die Staatsfinanzen" gehabt. Das Nachrichtenmagazin hält einen baldigen Finanzkrach für unausweichlich. Die Frage sei nicht ob, sondern wann die derzeitige Spekulationsblase platze. Er warnt ausdrücklich vor dem "Risiko einer Hyperinflation - einer rasend schnell fortschreitenden Geldentwertung, wie sie Deutschland Anfang der zwanziger Jahre erlebt hat".

Gleichzeitig wachsen die internationalen Spannungen und eskaliert der Krieg in Afghanistan. Die deutsche Regierung benutzt das Massaker von Kundus - das größte von deutschen Soldaten verantwortete Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg - um der Bundeswehr einen Freibrief zum Töten zu verschaffen.

Der Kapitalismus kennt nur eine Antwort auf diese Krise - immer schärfere Angriffe auf die Arbeiterklasse. Das macht gesellschaftliche Auseinandersetzungen, deren Ausmaß weit über das vom Herbst 1989 hinausgehen wird, unausweichlich. Die wichtigste Lehre aus den damaligen Ereignissen lautet, dass solche Auseinandersetzungen politisch und theoretisch vorbereitet werden müssen. Das macht den Aufbau der Partei für Soziale Gleichheit und die Entwicklung der World Socialist Web Site zur dringenden Aufgabe.

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