Die wachsende Wut über steigende Treibstoffkosten hat sich in einer europaweiten Welle von Streiks und Demonstrationen entladen, die sich zu einer politischen Krise für die europäische Bourgeoisie auswächst. Nachdem in Frankreich die Fischer in den Streik getreten waren, protestieren ihre Kollegen in Portugal, Spanien und Italien seit dem 30. Mai mit landesweiten, zeitlich nicht begrenzten Arbeitsniederlegungen gegen die hohen Ölpreise. LKW-Fahrer, Landwirte, Taxifahrer und Rettungskräfte auf dem ganzen Kontinent haben ebenfalls protestiert.
Der steile Anstieg des internationalen Ölpreises hat Auswirkungen auf zahlreiche Wirtschaftsbereiche wie Fischerei, Transport und Landwirtschaft, sowie auf das Leben der Bevölkerung auf der ganzen Welt. In den letzten fünf Jahren sind die durchschnittlichen Benzinpreise in den meisten Teilen Europas zwischen 50 und 100 Prozent gestiegen.
Der Streik der französischen Fischer im Mai dauerte mehr als zwei Wochen. Fischer in Spanien, Italien und Portugal riefen letzte Woche einen Streik von unbestimmter Dauer aus. Sie forderten, dass die Regierung die Treibstoffpreise senkt und Subventionen gewährt, um das Gefälle zwischen den hohen Treibstoffkosten und den niedrigen Preisen für Fisch auszugleichen. Die Fischerei beschäftigt in der EU ungefähr 400.000 Menschen. Sie ist vor allem in Spanien, Frankreich, Italien und Portugal ein wichtiges Gewerbe.
In Frankreich stieg der Preis für einen Liter Schiffsdiesel in sechs Monaten von 45 auf 70 Cent. Obwohl die französische Regierung einwilligte, vorübergehend Treibstoffsubventionen zu gewähren, um die Fischer zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit zu bewegen, setzten diese ihre Proteste am Freitag als Zeichen der Solidarität mit ihren europäischen Kollegen fort. Am Freitag besetzten Fischer Ölraffinerien und Lagerhäuser in Fos-sur-mer. In Arcachon, Cherbourg, und Saint-Brieuc stimmten Fischer für eine Fortsetzung des Streiks.
Am 30. Mai blieben überall in Spanien, dem Land mit der größten Fischereiflotte Europas, Netzboote und größere Handelsschiffe im Hafen. 5.000 Demonstranten kamen in Madrid zusammen und verteilten kostenlos 20 Tonnen Fisch. Die Nachrichtenagentur Associated Press schrieb: "Laut Angaben des spanischen Fischereiverbands, der 1.400 Fischereibetriebe mit 20.000 Beschäftigten umfasst, handelt es sich um die schwerste Krise des Jahrhunderts. Er schätzt, dass die Treibstoffpreise in den letzten fünf Jahren um 320 Prozent gestiegen sind, und behauptet, viele Fischer könnten es sich nicht mehr leisten, mit ihren Booten raus zu fahren."
"Die Menschen können die hohen Preise nicht mehr zahlen und protestieren, weil die Regierungen und die Europäische Kommission nichts unternehmen", sagte Javiar Garat, Generalsekretär der spanischen Fischer-Vereinigung Cepesca. "Ich bin überzeugt, dass es in den nächsten zwei Wochen weitverbreitete Arbeitsniederlegung geben wird. Ich erwarte, dass die europäische Flotte für die nächsten 15 bis 20 Tage zum Stillstand kommt."
In Italien traten ebenfalls Tausende Fischer in den Streik, so dass an beiden italienischen Küsten nichts mehr lief. Landesweit nahmen 2.000 Fischer am Streik teil. Dies ist knapp ein Drittel der Gesamtzahl im Land. Ein Fischer sagte dem italienischen Fernsehen: "Wenn wir keine Ergebnisse erzielen, wird es einen offenen Krieg geben. Wir sind es leid, 80 Stunden in der Woche zu arbeiten, ohne einen Cent zu verdienen."
In Portugal trat die große Mehrheit der Fischer in den Streik. "Nicht ein einziges Boot ist ausgefahren", sagte Antonio Macedo, Führer des Landesverbands der Fischereigewerkschaften der Nachrichtenagentur AFP.
Das neu gegründete Überwachungskomitee der französischen Fischer gab bekannt, dass französische, italienische, spanische und portugiesische Fischer gemeinsam in Brüssel demonstrieren wollen, und forderte die EU-Behörden auf, den Preis von Schiffsdiesel bei 40 Cent pro Liter zu halten. Der Sprecher des Komitees, Alain Rico sprach mit dem Nouvel Observateur: "Die Italiener und Portugiesen haben dafür gestimmt, die Spanier werden am Dienstag abstimmen. Aber sie werden mehrheitlich dafür stimmen. Wir haben alle französischen Häfen aufgerufen, ihre Boote im Hafen zu lassen oder dorthin zurückzukehren. Die Crews sollen nach Brüssel fahren."
Die Proteste gegen teuren Treibstoff breiten sich von den Fischern schnell auf Landwirte, LKW-Fahrer und den öffentliche Verkehr aus. In Frankreich blockierten letzte Woche Landwirte überall im Land Öl-Depots, unter anderem in der Nähe von Toulouse, Sète, Frontignan und Marseille. Tausende von Landwirten demonstrierten am 28. Mai in Lille. Die Öl-Depots in Villete-Vienna und zwei Depots südlich von Dijou blieben auch gestern durch Landwirte blockiert, während die Polizei Tränengas und Schlagstöcke einsetzte, um das von Bauern blockierte Depot in Toulouse und das von Fischern blockierte in Fos-sur-mer zu räumen.
Wie die Fischer sind auch Milchbauern überall in Europa im Streik. Ihr Grundanliegen ist das Gleiche wie das der Fischer: Sie sind gefangen zwischen hohen Energiekosten und niedrigen Preisen, die von Supermärkten und Lebensmittelketten gezahlt werden. Es gab Panik-Milchkäufe, als Landwirte in Deutschland, Dänemark, Holland, Belgien und Frankreich ihre Milch an Kälber verfütterten oder als Düngemittel auf ihre Felder sprühten, um gegen die niedrigen Milchpreise zu protestieren.
Ein deutscher Landwirt sagte dem britischen Guardian : "Unsere Produktionskosten steigen ständig an. Wenn wir keine Verluste machen wollen, müssen wir wenigstens 43 Cent pro Liter erhalten, aber trotz des Anstiegs der Kosten für Fütterung, Düngemittel und Energie bekommen wir nur 27 bis 35 Cent."
LKW- und Taxifahrer haben in mehreren Ländern Proteste organisiert und weitere Streiks sind geplant. Am 27. Mai besetzten Hunderte britische LKW-Fahrer Straßen in London und forderten die Regierung auf, Hilfe für die gestiegenen Treibstoffpreise bereitzustellen. Französische LKW-Fahrer organisierten eine Demonstration auf wichtigen Autobahnverbindungen rund um Paris und in anderen Teilen des Landes. In Bulgarien protestierten LKW-, Bus- und Taxifahrer und blockierten den Hauptzufahrtsring rund um die Hauptstadt Sofia.
In der EU sind schwere Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit der Krise aufgetreten. Einige direkt von Protesten betroffene Regierungen waren für ein europaweites Vorgehen gegen Preissteigerungen. Am 27. Mai forderte der portugiesische Wirtschaftsminister Manuel Pinho eine Krisendebatte über die steigenden Treibstoffpreise in der EU.
Am selben Tag gab der französische Präsident Nicolas Sarkozy ein ungewöhnliches einstündiges Morgen-Interview auf Radio RTL und schlug eine europaweite Senkung der Mehrwertsteuer auf Treibstoff vor. Der Reporter fragte skeptisch, ob damit nicht eine wichtige Steuerquelle für den Staat wegfalle - und das zu einer Zeit, in der Frankreich in der EU wegen des Staatsdefizits in der Kritik steht. Der Staatshaushalt wird nicht vor 2012 ausgeglichen sein, anstatt, wie von Sarkozy versprochen, im Jahre 2009.
Gegen diesen Vorschlag gab es heftigen Widerspruch der europäischen Regierungen, vor allem derjenigen, die von den Streiks weniger betroffen sind. Die slowenische Regierung, die derzeit die rotierende EU-Präsidentschaft inne hat, weigerte sich, das von Pinho vorgeschlagene Krisentreffen einzuberufen. Der österreichische Finanzminister Wilhelm Molterer warnte vor dem Langzeiteffekt, den Steuersenkungen auf staatliche Einkommen hätten, und fragte: "Was wollen Sie tun, wenn die Preise wieder fallen? Die Steuer wieder anheben? Ich freue mich auf die politische Diskussion, die dann folgt!"
Die Europäische Kommission gab zu bedenken, dass Steuersenkungen den Öl produzierenden Staaten und Öl-Firmen signalisieren würden, dass die europäischen Staaten steigende Benzinpreise mit Steuersenkungen und steigenden Haushaltsdefiziten ausgleichen wollten. Der Sprecher sagte: "Die fiskalische Behandlung von Treibstoff zu verändern, nur um den Anstieg der Ölpreise zu bekämpfen, würde ein sehr schlechtes Signal an Öl produzierende Länder senden. Wir würden ihnen sagen, dass sie ruhig die Ölpreise anheben können, und dass die Europäer das mit ihren Steuern bezahlen werden. Das wäre ein sehr schlechtes Zeichen, das wir nicht geben wollen."
Es geht um die globale Verteilung der enormen Einnahmen, die aus dem Verkauf von Treibstoff in Europa gewonnen werden. Derzeit geht der Löwenanteil dieser Einnahmen an die europäischen Regierungen, die zusammengenommen Hunderte Milliarden Euro Steuern für Treibstoff erheben. 2007 beliefen sich die Einnahmen aus Treibstoff-Steuern in Großbritannien auf 38 Milliarden Euro; 68 Prozent des Preises an der Tankstelle waren Steuern. In Frankreich machten Steuern 2006 70 Prozent des Preises von Benzin aus und erbrachten 33,2 Mrd. Euro. Das waren 13 Prozent der gesamten Steuereinnahmen der Regierung.
Benzin wird in den meisten Ländern der Eurozone stark besteuert: mit 60,2 Cent pro Liter in Frankreich, 56,4 in Italien, 65,5 in Deutschland, und 66,5 in den Niederlanden im März 2008.
Eine Vereinbarung der europäischen Regierungen, die Steuer zu senken, würde möglicherweise den Ölmärkten die Chance eröffnen, die Preise weiter zu erhöhen. Damit würden den europäischen Regierungen Einnahmen entzogen und die Profite der Ölgesellschaften und die Einkommen der Öl produzierenden Länder weiter steigen. Die Ölgesellschaften erzielen dank der hohen Preise zurzeit Rekordgewinne - so erzielten die beiden britischen Konzerne Shell und BP allein im 1. Quartal 2008 7,2 Milliarden Pfund Gewinn und der französische Konzern Total gab einen Gewinn von 3,6 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum bekannt.