Angesichts der bevorstehenden Kommunalwahlen in Frankreich, die am 9. und 16. März stattfinden, bietet das politische Establishment das Bild einer tiefen Krise.
Die Sozialistische Partei und ihre Partner in der ehemaligen Regierung der Mehrheitslinken haben sich von ihren Niederlagen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2002 und 2007 nicht wieder erholt. Sie stoßen auf breite Ablehnung, sind untereinander tief zerstritten und durch permanente Grabenkämpfe paralysiert. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums verliert Präsident Nicolas Sarkozy rapide an Zustimmung. Nur neun Monate nach seiner Amtseinführung befinden sich seine Sympathiewerte im freien Fall. In der regierenden UMP (Union für eine Volksbewegung) entstehen deshalb tiefe Risse. Teile der Partei greifen Sarkozys Autorität an.
Die Kommunalwahlen entwickeln sich zu einem Experimentierfeld für neue politische Kombinationen und Bündnisse. Während die Spannungen zwischen den Klassen zunehmen, rückt die herrschende Elite enger zusammen. Zwischen der "radikalen" Linken, der Linken, der bürgerlichen Mitte und der Rechten verschwimmen die politischen Unterschiede.
Zur Zeit liegt Präsident Sarkozy in den Umfragen nur noch bei 39 Prozent Zustimmung, wofür es mehrere Gründe gibt. Vor allem konnte seine Regierung das Wahlversprechen nicht halten, sie werde jedem die Möglichkeiten schaffen, aus eigener Kraft seinen Lebensstandard zu verbessern ("Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen"). Bei steilem Anstieg der Preise für Energie und Lebensmittel, sinkt der Lebensstandard rapide.
In den drei letzten Monaten des Jahres 2007 streikten die Arbeiter des öffentlichen Dienstes zur Verteidigung von Renten, Kaufkraft und Arbeitsplätzen, und 2008 kam es bereits zu Streiks im Flugverkehr, bei den Beschäftigten von Rundfunk und Fernsehen und im Einzelhandel, wo die Arbeitskräfte besonders ausgebeutet werden. Nach dem ersten nationalen Streik der Verkäuferinnen und Verkäufer am ersten Februar setzten Arbeiter des Supermarkts Carrefour in Marseille ihren Streik zwei Wochen lang fort. In Frankreichs zweitgrößter Stadt kam es gleichzeitig in siebzehn McDonalds-Restaurants zu Ausständen.
In den Reihen der UMP ruft Sarkozy mit seinem arrogantem Führungsstil und seiner Angewohnheit, sämtliche Entscheidungen allein zu treffen, wachsenden Unmut hervor. Außerdem hat die Besetzung von Regierungsposten mit profilierten Mitgliedern der Sozialistischen Partei bei den Übergangenen in der eigenen Partei große Verstimmung hervorgerufen.
Das Fiasko mit den Kandidatenlisten für die Gemeinderatswahlen in Neuilly, der wohlhabendsten Kommune Frankreichs, in der Sarkozy lange Jahre Bürgermeister war, ist symptomatisch für die in der Partei bestehenden Spannungen. Sarkozy hatte beschlossen, dem Sprecher des Elysée-Palastes, David Martinon, Platz eins der UMP-Liste für den Stadtrat zu reservieren, und damit eine Rebellion des Ortsverbandes provoziert, die auch von seinem eigenen 21-jährigen Sohn Jean Sarkozy mitgetragen wurde. Nach endlosen, schmutzigen Manövern unterstützt die nationale UMP-Führung nun eine Liste mit dem nicht der Partei angehörigen Rechtsaußen Jean-Christophe Fromantin an der Spitze. Arnaud Teullé, Kandidat der UMP-Ortsgruppe, wurde aus der Partei ausgeschlossen, weil er darauf beharrte, eine konkurrierende lokale UMP-Liste aufzustellen.
Schlagzeilen haben verkündet: "Sarkozy verliert die Kontrolle". Eine Übersicht über die Provinzpresse vermittelt einen Eindruck, wie angeschlagen das Image des Präsidenten ist: "Groteske Vorgänge in Neuilly, der betuchtesten Gemeinde Frankreichs", "Ein Coup wie in einer Komischen Oper", etc.
Sarkozys öffentliche Zurschaustellung seiner Liebesaffäre mit dem singenden Model Carla Bruni brachte das Fass dann zum Überlaufen. In Frankreich, wo das Präsidentenamt traditionell mit dem Pomp und der Würde eines absoluten Monarchen verbunden ist, war der alternde Präsident, der am Strand mit einem spärlich bekleideten Model flirtete und auf den Titelseiten von Klatschmagazinen präsentiert wurde, eine allzu große Zumutung für die konservative, teilweise stockkatholische UMP-Basis.
Jean-Louis Debray, der Präsident der Nationalversammlung, der der alten gaullistischen Garde angehört, verurteilte die großtuerische Darstellung des präsidialen Privatlebens öffentlich. In der herrschenden Elite besteht die Befürchtung, Sarkozy könne das Ansehen des französischen Staates und seiner mächtigsten Institution, des Präsidentenamts, untergraben.
Die Sozialistische Partei (SP) hat sich zu dessen entschiedensten Verteidiger aufgeschwungen. Die sozialistische Präsidentschaftskandidatin von 2007, Ségolène Royal, sorgt sich um das öffentliche Ansehen des Staatsoberhaupts und sagte: "Wir erwarten gutes Benehmen, Distanz und eine gewisse Würde... Wenn das Staatsoberhaupt das Ansehen unseres Staates untergräbt, bedeutet dies auch wirtschaftlichen Schaden."
Royal forderte Sarkozy jedoch nicht zum Rücktritt auf. Sie ermahnte ihn stattdessen im Stil einer Gouvernante: "Da er noch vier Jahre vor sich hat, hoffe ich, dass er im Interesse des Landes zur Ordnung finden wird." Der Generalsekretär der SP, François Hollande, bemerkte: "Der Spaß ist offensichtlich zu Ende, das Amt des Präsidenten der Republik ist in Misskredit geraten."
In der Presse ist man sich der Krise, in der sich das Präsidentenamt befindet, voll bewusst. Le Monde kommentierte am 12. Februar: "Bevor er wegen der schlechten Umfragewerte eine Kehrtwende machte, ließ Nicolas Sarkozy keinen Zweifel daran, dass er sich bei den Kommunalwahlen engagieren und sie zu einem nationalen Ereignis hochstilisieren wollte. Doch dann überlegte er es sich wegen der schlechten Umfragewerte anders. Der taktische Rückzug des Präsidenten wurde von den amtierenden UMP-Bürgermeistern begrüßt, weil sie fürchten, seine wachsende Unbeliebtheit könne ihren Wahlaussichten schaden. Dennoch haben seine Omnipräsenz und die von ihm geweckte Aufmerksamkeit diese Kommunalwahlen zu einer Testwahl für seine Person werden lassen."
Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass es vielen UMP-Bürgermeisterkandidaten nicht gelingen wird, die lukrativen und einflussreichen Posten zu erobern.
Sarkozys persönliches, egomanisches Verhalten hat sicher eine gewisse Rolle dabei gespielt, seine Autorität und Glaubwürdigkeit zu untergraben. Aber die derzeitige Krise hat viel tiefere Ursachen.
Der französische Imperialismus verliert schon seit mehr als einem Jahrhundert an politischem und ökonomischem Gewicht. Dennoch war Frankreich in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch eine der wichtigsten europäischen Mächte und beherrschte in enger Allianz mit Deutschland die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die EU-Erweiterung auf 27 Mitgliedsstaaten haben Frankreichs Gewicht in Europa schwinden lassen. Die aggressive amerikanische Außenpolitik, das Aufsteigen Chinas und der Wiederaufstieg Russlands haben Frankreichs internationale Stellung zusätzlich geschwächt.
Sarkozy versuchte, diese Probleme mit einer aktivistischen und oft sprunghaften Außenpolitik zu überwinden. Anstatt jedoch die Probleme zu lösen, haben seine Aktionen sie noch deutlicher zu Tage treten lassen. Mit dem Verkauf von Airbus-Flugzeugen und Atomkraftwerken an Gaddafi, der militärischen Rettung des korrupten Regimes im Tschad, der Geiselbefreiung Hand in Hand mit Venezuelas Staatschef Chavez in Kolumbien oder mit dem Aufbau eines Marinestützpunktes in Abu Dhabi kann ein grundlegender historischer Entwicklungstrend nicht umgekehrt werden.
Die durch die weltweite Finanz- und Bankenkrise verschärften Probleme Frankreichs können nicht ohne den beschleunigten Abbau des Lebensstandards und der sozialen Rechte der Masse der Bevölkerung gelöst werden. Die Wirtschaftselite in Frankreich ist sich im Klaren darüber, dass Sarkozy weit von der Lösung dieser Aufgabe entfernt ist.
In welcher Krise sich die französische Wirtschaft befindet, machen folgende Daten deutlich: Deutschland erwirtschaftete 2007 einen Handelsüberschuss von 199 Milliarden Euro und hat sein Haushaltsdefizit von 3,3 Prozent des BSP im Jahr 2005 auf 0,6 Prozent des BSP abgesenkt. Frankreich dagegen verzeichnete im Jahr 2007 ein Handelsdefizit von 40 Milliarden Euro und ein Haushaltsdefizit von 38 Milliarden Euro, das sind 2,1 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Le Monde schlussfolgert daraus, Frankreich müsse es Deutschland nachmachen, da dort "der Arbeitsmarkt in beachtenswerter Weise zur Wiedererlangung der Konkurrenzfähigkeit umgekrempelt wurde. Die Hauptlast dieser Maßnahmen zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch die Senkung der Lohnkosten trugen die Familien. Durch die Schaffung einer konkurrierenden Deflation in Europa gewann Deutschland enorme Marktanteile gegenüber seinen europäischen Partnern, die diese Politik nicht verfolgten."
Die "radikale" Linke rückt nach rechts
Die politische Krise hat zu hektischen Aktivitäten in allen politischen Lagern geführt. UMP-Gruppen erstellen Dissidentenlisten, Sozialisten treten in die UMP ein oder schließen sich François Bayrous Demokratischer Bewegung (MoDem) an, "radikale" Linke verbünden sich mit der Sozialistischen Partei und werfen ihre Identifikation mit dem Trotzkismus über Bord, usw.
In Mulhouse im Osten Frankreichs, wo der sozialistische Bürgermeister Jean-Marie Bockel zu Sarkozy überlief und jetzt zu seiner Regierungsmannschaft gehört, hat die Mehrheit der SP-Fraktion die Partei verlassen und bildet nun die Moderne Linke (Gauche Moderne), die die offizielle Unterstützung der UMP genießt. Ein Gemeinderatsmitglied der UMP führt eine Kandidatenliste von UMP-Dissidenten an. In Nizza führt der frühere UMP-Bürgermeister Jacques Peyrat eine Liste an, die in Opposition zum offiziellen UMP-Kandidaten Christian Estrosi steht.
Die Partei MoDem, die aus der rechten Zentrumspartei des ehemaligen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing hervorging und immer mit den Gaullisten zusammenarbeitete, beteiligt sich jetzt in verschiedenen Kommunen an Listen der UMP oder der Sozialistischen Partei. In Bordeaux ist sie ein Bündnis mit Alain Juppé eingegangen, der früher einmal gaullistischer Premierminister war. In Dijon ist ModDem für die erste Wahlrunde ein Bündnis mit dem SP-Vorsitzenden François Rebsamen eingegangen, auf einer gemeinsamen Liste mit der Kommunistischen Partei. Rebsamen ist ein Anhänger von Ségolène Royal, die sich 2007 für die SP um die Präsidentschaft beworben hatte.
Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO) haben auf die Tatsache, dass die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung keinerlei politische Vertretung mehr hat, mit einem weiteren Rechtsruck reagiert.
Seit mehr als dreißig Jahren hatte die LO es sich zum Prinzip gemacht, weder mit der Sozialistischen Partei noch mit der Kommunistischen Partei ein Wahlbündnis einzugehen. Zur Überraschung vieler Kommentatoren beschloss die LO dieses Jahr, Bündnisse mit beiden Parteien anzustreben. Unter Verhältnissen, wo sowohl die SP als auch die Kommunistische Partei (KPF) in der Arbeiterklasse äußerst diskreditiert sind, hat LO beschlossen, diese beiden Parteien mit einem linken Deckmantel zu versehen.
Früher hat LO die LCR oft wegen ihrer opportunistischen Bündnisse mit diesen beiden Parteien getadelt und sie als Verteidiger der Interessen des französischen Imperialismus im In- und Ausland gebrandmarkt. Zum Beispiel kritisierte sie die LCR während der Kommunalwahlen 2001 wegen ihrer Teilnahme an Listen der Pluralen Linken folgendermaßen: "Aus unserer Sicht gibt es einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Regierungslinken, die mit allen Kräften die Interessen der Bourgeoisie, das heißt der bürgerlichen Parteien verfolgt, und einer Politik oder einem revolutionären Kurs, die den Anspruch haben, die politischen Interessen der Arbeiter zu verteidigen."
Dieses Jahr verhandelt LO in über 50 Städten über die Teilnahme an gemeinsamen Kandidatenlisten mit einer oder beiden Partien der ehemaligen "Regierungslinken". Dazu gehören einige der größten Kommunen, mehrere in der Region Paris, drei in der Region Marseille und die Industriestadt Clermont-Ferrand.
LO hat Disziplinarmaßnahmen gegen die Minderheitstendenz Etincelle (Funke) eingeleitet, die sich weigerte, diesem Kurs zu folgen, und in einer Stadt beschloss, eine eigene Liste aufzustellen. Die Tendenz Etincelle, die es seit mehr als zehn Jahren innerhalb der LO gibt, darf ihre eigenen Standpunkte nicht mehr in der Parteipresse publizieren.
Die Annäherung von LO an die Sozialistische Partei sagt viel über ihre soziale und politische Orientierung aus. Trotz ihres Arbeiterkults, der das Markenzeichen von Arlette Laguiller bildet, identifiziert sie sich mit der Gewerkschaftsbürokratie, insbesondere der CGT, die von den Stalinisten dominiert wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Niedergang der Kommunistischen Partei und dem Mitgliederschwund der Gewerkschaften sieht LO die Möglichkeit eines Kampfs der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus äußerst pessimistisch. Deswegen wirft sie sich den rechten Bürokraten an den Hals.
Der Sprecher von LO, Georges Kaldy, rechtfertigte diese Wende mit den Worten: "Wir bieten der SP nicht unsere Dienste an, aber wo die Linke an die Rechte verlieren könnte, oder wo sie eine Stadt zurück gewinnen könnte, da diskutieren wir. Wir wollen nicht, dass eine Stimme für uns der Rechten einen Vorteil bringt... Als die Linke 2001 an der Regierung war, wollten wir sie nicht unterstützen. Die Wahl Sarkozys und sein Generalangriff haben die Lage verändert."
So stellt LO die "Linke", personifiziert von Ségolène Royal und Dominique Strauss-Kahn, dem Direktor des Internationalen Währungsfonds, und ihre stalinistischen Verbündeten, als eine wirkliche Alternative zu den anderen kapitalistischen Parteien hin.
Die Reaktion der LCR auf die Krise aller kapitalistischen Parteien besteht im Aufbau einer neuen "antikapitalistischen Partei", die jeglichen Bezug auf den Marxismus und den Trotzkismus abgelegt hat. Die neue Partei wird für Radikale jeder Couleur offen sein - Anarchisten, ehemalige Stalinisten, Che Guevara-Anhänger, Antiglobalisierungsaktivisten, Feministen, Umweltschützer. Einheitliche politische oder theoretische Positionen werden ausdrücklich abgelehnt.
Eine solche Partei soll dazu dienen, das politische Vakuum zu füllen, das SP und KPF hinterlassen haben, und Arbeiter, die nicht länger an eine reformistische Lösung der sozialen Krise glauben, von marxistischen Perspektiven abhalten. Von jeglichen marxistischen und trotzkistischen Ansprüchen befreit, kann sie sich opportunistisch an sämtliche politischen Kräfte und Wechselfälle anpassen.
Der langjährige Führer der LCR, Allain Krivine, versicherte im vergangenen Dezember den Führern der SP bei einer öffentlichen Versammlung im Théatre du Rond Pont, dass die neue antikapitalistische Partei keinen fundamentalen Bruch mit der SP bedeute. "Ich muss umgehend klar machen", sagte Krivine, "dass für mich der Feind nicht SP heißt, sondern Sarkozy und Medef (Unternehmerverband)."
Anders als LO, die ihrer Auflösung sehr nahe zu sein scheint, hat die LCR eine klar definierte Rolle vor Augen, die sie nur spielen kann, wenn sie den Schein der Unabhängigkeit von der diskreditierten "Regierungslinken" aufrecht erhält. So erklärt sich ihre hartnäckige Beteuerung, kein Wahlbündnis mit der SP eingehen zu wollen. Sie beabsichtigt, die Kommunalwahlen zum Aufbau der neuen Partei zu nutzen und jene einzubinden, die auf Abstand zur KPF, SP oder zu anderen linke Gruppierungen gegangen sind.
Ungeachtet der Unabhängigkeitserklärungen der LCR gibt es einige gemeinsame Kandidatenlisten mit der SP und der KPF. So in der Stadt St. Quentin im Norden Frankreichs, wo eine Liste aus SP, KP, LCR, LO und PT (Arbeiterpartei) kandidiert. In La Seyne sur Mer, einer Stadt im Süden mit 60.000 Einwohnern, gibt es eine Liste aus LCR, PT und KP.