Der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Deutschland hat eine politische Kampagne nach sich gezogen, die von Intoleranz und offener Ausländerfeindlichkeit geprägt ist.
Erdogan hatte am Samstag die Eröffnungsrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz gehalten, wo er die strategische Bedeutung der Türkei für Europa und den Nahen Osten unterstrich und für die EU-Mitgliedschaft der Türkei warb. Im Rahmen seiner Reise fuhr er auch nach Ludwigshafen, wo bei einem Großfeuer neun türkische Immigranten umgekommen waren, besuchte in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Schulklasse und sprach in Köln zu einer Versammlung von 20.000 türkischen Immigranten.
Erdogan ist ein konservativer bürgerlicher Politiker mit islamistischen Wurzeln, dessen politische Ansichten wir ablehnen. Doch sein Auftreten in Deutschland bewegte sich in einem Rahmen, der für den Vertreter eines Landes durchaus üblich ist, das über eine große Bevölkerung im Exil verfügt. Bedenkt man, dass in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Abstammung leben, von denen etwa drei Viertel den türkischen Pass besitzen (die doppelte Staatsbürgerschaft wird ihnen von der deutschen Politik verwehrt), dann ist es völlig normal, dass der türkische Regierungschef zu ihnen Kontakt aufnimmt und sich um ihre Interessen kümmert.
Die deutsche Regierung geht in dieser Hinsicht viel weiter als Erdogan. Sie versteht sich bis heute als Interessenvertreterin von Russland- und Rumäniendeutschen, deren Vorfahren im 18. Jahrhundert ausgewandert waren. Kaum ein deutscher Staats- und Regierungschef besucht Russland, ohne eine Delegation von Russlanddeutschen zu treffen. Ihre Nachkommen gelten bis heute als Deutsche, haben das Anrecht auf einen deutschen Pass und können jederzeit nach Deutschland zurückkehren.
Doch für Türken gelten andere Maßstäbe. Der Auftritt des türkischen Regierungschefs löste in der Union, aber auch in der SPD einen Sturm der Entrüstung aus, der an Heuchelei und borniertem Nationalismus nicht zu überbieten ist.
CSU-Chef Erwin Huber warf Erdogan vor, er habe "türkischen Nationalismus auf deutschem Boden gepredigt", und forderte den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) sprach von nationalistischen und unerfreulichen Tönen und behauptete, die türkische Regierung unterstütze Tendenzen zur Ghettobildung. "Da müssen wir noch einmal sehr offen und ernst mit der türkischen Regierung reden", sagte er.
Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach (CDU) beschuldigte Erdogan, er mische sich in die deutsche Innenpolitik ein. "Für das Zusammenleben in Deutschland ist die deutsche Politik zuständig. Man sollte nicht versuchen, als türkische Regierung Innenpolitik in Deutschland zu betreiben", sagte er der Westdeutschen Zeitung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte etwas verhaltener, Erdogan habe eine falsche Vorstellung von Integration. "Deshalb, denke ich, sind wir hier noch nicht am Ende der Diskussion."
Erdogan hatte vorgeschlagen, in Deutschland türkische Schulen und Gymnasien einzurichten und türkische Lehrer ins Land zu schicken. In seiner Kölner Rede zog er eine scharfe Trennlinie zwischen Integration und Assimilierung. Er forderte seine türkischen Landsleute auf, Deutsch zu lernen und sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, warnte aber vor einer Assimilierung. Letztere, so Erdogan wörtlich, sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Damit traf er einen wunden Punkt der deutschen Politik. Seine Formulierung mochte überspitzt sein, doch niemand, der die Ausländerdebatte der vergangenen Jahre verfolgt hat, konnte missverstehen, was gemeint war.
Das Verlangen nach vollständiger Assimilierung - d.h. nach Aufgabe der eigenen Kultur, Sprache und Staatsangehörigkeit - zieht sich wie ein roter Faden durch diese Debatte. Es steht hinter der unsäglichen Forderung nach einer "deutschen Leitkultur", die die CSU in ihr Parteiprogramm aufgenommen hat, der Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, mit der Roland Koch (CDU) vor neun Jahren die hessische Landtagswahl gewann, den schwierigen Einbürgerungstests, die einige Bundesländer zur Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft gemacht haben, und einem Einwanderungsgesetz, das den Familiennachzug nur bei ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen erlaubt.
Der Begriff Assimilierung geht übrigens auf den früheren Innenminister Otto Schily (SPD) zurück, der vor sechs Jahren, auf dem Höhepunkt der Debatte über die deutsche Leitkultur, verkündet hatte, Assimilierung sei die beste Form der Integration. Schily verstand unter Assimilierung "eine gewisse Anpassung und Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse".
Seither haben Politiker gelernt, den provokativen Begriff zu meiden, doch inhaltlich hat sich nichts geändert. Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Reaktion auf Erdogans Auftritt erneut betont, Integration bedeute, sich in die Lebensweise eines Landes hineinzufinden und dessen Gewohnheiten anzunehmen.
Das ist, gelinde gesagt, eine höchst einseitige und undemokratische Auffassung von Integration. Integration im Sinne eines einvernehmlichen Zusammenlebens setzt vor allem Gleichberechtigung voraus. Wer die eine Seite zwingt, ihre Sprache und Kultur aufzugeben und sich einer vermeintlichen "Leitkultur" unterzuordnen, macht Integration unmöglich. Nicht kulturelle Vielfalt führt zur Bildung von Ghettos, sondern kulturelle und wirtschaftliche Diskriminierung. Türkische Immigranten, die kaum Bildungschancen hatten, in schlecht bezahlten Berufen arbeiten und als erste entlassen werden, sind davon besonders stark betroffen.
Der immer wieder erhobene Vorwurf, die Immigranten seien selbst für ihre Lage verantwortlich, weil sie sich weigerten, die deutsche Sprache zu erlernen, ist schlicht gelogen und verdreht Ursache und Wirkung. Obwohl die Immigration in den 1960er und 1970er Jahren begonnen hat, gibt es bis heute viel zu wenig entsprechende Sprachkurse. Werden sie angeboten, gibt es eine rege Nachfrage. So beteiligten sich nach Angaben des Innenministeriums in den vergangenen drei Jahren rund 350.000 der 500.000 berechtigten Zuwanderer an Integrationskursen, in deren Rahmen auch die deutsche Sprache unterrichtet wird.
In den Schulen und Kindergärten fehlt es an der Zahl und Qualifikation von Lehrkräften, die nötig wären, um Kinder aus Immigrantenfamilien zu fördern. Diese haben daher im selektiven deutschen Schulsystem nur geringe Chancen. Ebenso schwierig ist es für deutsche Schüler, türkisch zu lernen, was angesichts der hohen Zahl türkischer Immigranten durchaus sinnvoll und integrationsfördernd wäre. Bisher bieten nur wenige Schulen türkisch als Fremdsprache an.
Erdogans Vorschlag, türkische Lehrer nach Deutschland zu schicken, ergibt daher durchaus Sinn. Der Vorwurf, Unterricht in türkischer Sprache behindere die Integration, ist dagegen absurd. Die meisten Pädagogen sind der Ansicht, dass die Beherrschung der im Elternhaus gesprochenen Sprache in Wort und Schrift von Vorteil für das Erlernen einer weiteren Sprache ist. Viele Jugendliche aus türkischen Familien stehen vor dem Problem, dass sie weder die eine noch die andere Sprache richtig beherrschen und einen Slang sprechen, der ihre Ausbildungs- und Berufschancen gegen Null sinken lässt.
Auch in dieser Frage gilt für deutsche Politiker ein doppelter Maßstab. Während sie auf Erdogans Vorschlag mit einem Aufschrei der Empörung reagieren, betreibt die Bundesregierung zahlreiche deutsche Schulen im Ausland. Derzeit sind es 117, darunter auch eine in Istanbul. Eine weitere deutsch-türkische Schule bietet dort auch das Abitur an. 1.700 deutsche Lehrer unterrichten im Regierungsauftrag im Ausland, und die Hälfte des Kulturhaushalts des Außenministeriums dient der internationalen Förderung der deutschen Sprache. Umgekehrt gibt es in Deutschland englische und französische Gymnasien, die nicht nur von Kindern mit entsprechender Muttersprache, sondern auch von deutschen Kindern besucht werden. An einigen Universitäten setzt sich zudem im Zeichen der Globalisierung Englisch als zweite Unterrichtssprache durch.
Doch wenn es um das Türkische geht, gelten andere Regeln. Die arrogante Überheblichkeit, die sich hinter dieser Haltung verbirgt, ist unübersehbar. Sie ist nicht auf den rechten Rand der Union beschränkt. Auch führende SPD-Politiker, darunter der Parteivorsitzende Kurt Beck, und zahlreiche Medien haben sich der Kampagne gegen Erdogan angeschlossen
Anne Will
Den Auftakt machte am Sonntagabend die Talkshow von Anne Will. Die früher von Sabine Christiansen moderierte Show, in der sich seit Jahren die Prominenz aus Politik und Medien trifft, erlebte dabei einen neuen medialen Tiefpunkt. Sie artete streckenweise in reine Hetze aus.
Die Sendung trug den Titel "Trauer, Vorwürfe, Misstrauen - Ludwigshafen zwischen Hysterie und Wahrheit". Thema waren die Reaktionen auf die Brandkatastrophe, die neun türkischen Staatsangehörigen das Leben gekostet hatte.
Als erstes kam als Augenzeuge der Notarzt Albrecht Reineke zu Wort, der glaubhaft versicherte, Feuerwehrleute und Helfer seien nach kurzer Zeit zur Stelle gewesen und hätten ihr Bestes getan, um die im Feuer Eingeschlossenen zu retten. Die gegen sie erhobenen Verdächtigungen und Angriffe seien daher völlig unbegründet.
Die Runde gab sich keine Mühe, die Ursachen für die aufgeheizte Stimmung zu hinterfragen, die zu solchen Verdächtigungen geführt hatte. Dabei war offensichtlich, dass die Feuerwehrleute stellvertretend für jene Politiker Prügel bezogen, die seit Jahren ausländerfeindliche Stimmungen schüren. Vor allem der hessische Landtagswahlkampf Roland Kochs (CDU), der sich als geistiger Brandstifter betätigte und hemmungslos gegen "kriminelle Ausländer" hetzte, hatte den Verdacht genährt, auch bei dem Feuer in Ludwigshafen müsse Brandstiftung im Spiel sein.
Statt sich mit diesen Hintergründen auseinanderzusetzen, empörte sich die Runde über die "aufkeimende Deutschfeindlichkeit" (Anne Will) von Türken. Mit dem Publizisten Henryk M. Broder und Innenminister Wolfgang Schäuble waren zwei Gäste geladen, die selbst zum Kreis der geistigen Brandtstifter zählen. Sie durften sich weitgehend unwidersprochen verbreiten.
Broder hat sich durch seine zynischen und hemmungslosen Tiraden gegen den Islam einen Namen als politischer Provokateur gemacht. Er wähnt die Welt von der "Welle eines todessüchtigen, islamischen Fundamentalismus" überrollt und wirft Europa eine Appeasement-Politik gegenüber dem Islamismus vor. Den Irakkrieg hat er ebenso wie die Kriegsdrohungen der Bush-Regierung gegen den Iran unterstützt. Kritiker der Politik Israels bezichtigt er regelmäßig des Antisemitismus, vor allem wenn sie links stehen. Durch seine herabsetzenden und beleidigenden Angriffe auf politische Gegner hat er sich mehrfach Gerichtsprozesse zugezogen. Ausgerechnet diesem Mann bot Will nun eine Bühne, um sich über die angebliche "Deutschfeindlichkeit" türkische Immigranten auszulassen.
Broder erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen. Er behauptete: "Wir haben es zum ersten Mal in der Geschichte der Migration mit einem Phänomen zu tun, das es noch nie gegeben hat, nämlich dass ein Teil der Migranten die Gesellschaft verachtet, in die er gekommen ist." Dies sei "die Ursache für die Bereitschaft, selbst Feuerwehrleute, die Menschen gerettet haben, hinterher anzuspucken und zu verachten". Erdogans Auftritt in Köln nannte er "schäbig" und "geschmacklos".
Innenminister Schäuble empörte sich über "unverantwortliche" türkische Zeitungen, die falsche Emotionen geschürt hätten, gab sich aber ansonsten versöhnlich. Dem Hinweis des hessischen Grünen-Chefs Tarek Al-Wazir auf die Wahlkampagne seines Parteifreunds Koch wich er aus und schwadronierte stattdessen darüber, wie die Katastrophe die Menschen wieder zusammenbringen werde. Al-Wazir hakte nicht nach.
Schäuble trägt als Innenminister die Hauptverantwortung für die Abschottung der Grenzen, die Zuwanderung nahezu unmöglich macht. Und als führender CDU-Politiker ist er immer wieder mit ausländerfeindlichen Äußerungen aufgefallen.
So verlangte er vor zwei Jahren in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung, dass Zuwanderer, die die deutsche Lebensart nicht akzeptieren, das Land wieder verlassen, und lehnte eine staatliche Verantwortung für arbeitslose türkische Jugendliche ab. Er hat ausdrücklich den restriktiven hessischen Einwanderungstest unterstützt. Und seine ständige Forderung, Zuwanderer müssten deutsch lernen, hielt ihn vor zwei Jahren nicht davon ab, beim Haushalt für Integrations- und Sprachkurse für Ausländer und Zuwanderer 69 Millionen Euro zu kürzen und diese stattdessen in den Etat der Bundespolizei zu stecken.
Die arrogante Überheblichkeit, mit der Teile der herrschenden Elite türkischen Zuwanderern gegenübertreten, erinnert an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte. Sie offenbaren einen erschreckenden Mangel an elementaren demokratischen Grundsätzen. Ihre Ursache liegt aber weniger in der Vergangenheit, als in der Gegenwart.
Die Politik der vergangenen Jahren, insbesondere die Auswirkungen der Agenda 2010, hat zu einer dramatischen sozialen Polarisierung geführt. Bereite Teile der Bevölkerung beziehen niedrige Löhne oder Sozialleistungen, die kaum zum Leben reichen, während eine dünne Oberschicht in Saus und Braus lebt. Immigranten sind besonders stark von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Durch die Hetze gegen Ausländer sollen sie isoliert und zum Sündenbock gestempelt werden, bevor es zu einer breiten sozialen Bewegung kommt, die deutsche und ausländische Arbeiter vereint.