Der massive Widerstand der Basis hat die Versuche der Gewerkschaften vereitelt, den Streik gegen die geplante "Reform" der Sonderrenten in Frankreich zu einem schnellen Ende zu bringen. Die Generalversammlungen der Streikenden, die täglich über die Fortsetzung des Arbeitskampfs abstimmen, haben am Freitag mit großer Mehrheit beschlossen, den Streik bei den französischen Staatsbahnen (SNCF) und den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) bis mindestens Montag fortzusetzen.
Für Dienstag sind ein eintägiger Streik sowie Massenproteste im öffentlichen Dienst geplant. Die zwei bis drei Millionen Beschäftigten der Schulen, Krankenhäuser und Kommunalverwaltungen protestieren gegen den Verfall der Kaufkraft und den Abbau von Arbeitsplätzen. Die streikenden Eisenbahner bereiten sich darauf vor, ebenfalls an den Demonstrationen vom Dienstag teilzunehmen. Es gilt daher als wahrscheinlich, dass sie ihren Streik auch an diesem Tag fortsetzen werden.
Auch die Studenten, die seit zwei Wochen gegen ein neues Universitätsgesetz protestieren, werden in großer Zahl zu den Demonstrationen vom Dienstag erwartet. Es wird die größte Protestaktion gegen die Sozialpolitik der Regierung sein, seit Nicolas Sarkozy im Mai das Präsidentenamt übernommen hat.
Am Donnerstag früh hatte es so ausgesehen, als würden die Gewerkschaften die Streiks gegen die Beseitigung der "régimes spéciaux", der Sonderrenten für die Beschäftigten von staatseigenen Betrieben, noch in dieser Woche abbrechen. Der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbands CGT, Bernard Thibault, hatte Arbeitsminister Xavier Bertrand angeboten, getrennt nach einzelnen Bereichen über die "régimes spéciaux" zu verhandeln, und damit eine wichtige Forderung der Regierung erfüllt. Danach schien die Wiederaufnahme von Verhandlungen unmittelbar bevorzustehen.
Bertrand lud am Donnerstag sechs der sieben bei SNCF und RATP vertretenen Gewerkschaften schriftlich zu Verhandlungen auf Betriebs- der Branchenebene ein, an denen sich jeweils auch ein Regierungsvertreter beteiligen würde. Die Gewerkschaft SUD (Solidaires, Unitaires, Démocratiques), die Verhandlungen ablehnt, solange die Regierung ihr Reformprojekt nicht zurückzieht, wurde nicht eingeladen.
Bertrand räumte den Gewerkschaften eine einmonatige Frist für Verhandlungen ein. Danach würden "die Texte, die die Reform der verschiedenen régimes spéciaux’ regeln, veröffentlicht und dann in Kraft gesetzt".
Auf den zahlreichen Generalversammlungen, die dann im Laufe des Donnerstagvormittags an den jeweiligen Arbeitsstellen über die Fortsetzung des Streiks berieten, erhob sich gegen diesen Versuch, sich mit der Regierung zu einigen, massiver Widerstand. Nach Gewerkschaftsangaben beteiligten sich landesweit 17.000 Streikende an den Generalversammlungen, von denen sich 95 Prozent dafür aussprachen, den Streik am Freitag fortzusetzen.
Die Versammlungen waren durch ein tiefes Misstrauen gegen die Gewerkschaftsführer geprägt. Eine Resolution, die die Gewerkschaften auffordert, keine Vereinbarung ohne vorherige Konsultation der Basis zu treffen, fand weite Verbreitung und wurde von vielen Generalversammlungen mit großer Mehrheit verabschiedet. (siehe: Eisenbahner wehren sich gegen Ausverkauf durch die Gewerkschaften)
Am Nachmittag trafen sich dann die Führer der sechs betroffenen Gewerkschaften am Sitz der CGT um über die Reaktion auf Bertrands Einladung zu beraten. Angesichts der eindeutigen Haltung der Basis hielten sie es nicht für ratsam, ohne Umschweife darauf einzugehen.
Stattdessen sprachen sie sich für die vorläufige Fortsetzung des Streiks aus und übermittelten dem Minister eine schwammige Antwort, die ihr ganzes Dilemma zum Ausdruck bringt: Einerseits wollen sie den Weg für Verhandlungen offen halten und sich möglichst schnell mit der Regierung einigen, andererseits aber gegenüber den Streikenden nicht vollständig das Gesicht verlieren.
Wie ein Arbeiter auf einer Generalversammlung sagte: "Der Brief der Verbände ist unklar. Er versucht sowohl den Streikenden wie der Regierung zu gefallen."
Da sich Präsident Sarkozy darauf festgelegt hat, nicht von den Grundprinzipien der geplanten Reform abzurücken - Erhöhung der Beitragsjahre von 37,5 auf 40 Jahre, höhere Abzüge bei einem früheren Rentenbeginn und Indexierung der Renten anhand der Preise statt der Löhne - spricht der Antwortbrief der Gewerkschaften diese Frage nicht an. Stattdessen werden nur völlig allgemein "die Motive des gegenwärtigen Konflikts" aufgezählt: "Die Ablehnung des Rahmens der Regierungsreform, die Zukunft des Frachtverkehrs, die Arbeitsplätze und die Kaufkraft."
Dann verweisen die Gewerkschaftsführer entschuldigend auf die Streikenden, um ihre Zurückhaltung zu erklären: "Die Eisenbahner(innen) haben sich auf den Generalversammlungen dafür ausgesprochen, genaueres über die Einzelheiten zu erfahren, auf denen diese dreiseitigen Verhandlungen beruhen werden."
Das ist, gelinde gesagt, eine Untertreibung. In Wirklichkeit hatten sich die Generalversammlungen unmissverständlich gegen Verhandlungen ausgesprochen, solange die Regierung die drei Grundprinzipien ihrer Rentenreform nicht zurücknimmt. Die Gewerkschaftsführer wollen über die inhaltliche Ausgestaltung der "Reform" der Regierung verhandeln, während die Streikenden das ganze Projekt ablehnen und die Regierung zu seiner Rücknahme zwingen wollen.
Schließlich bittet der Brief der Gewerkschaften den Arbeitsminister, am Freitag eine erste Versammlung einzuberufen, um - "im Interesse der vollständigen Transparenz" - den genauen Verhandlungsrahmen und einen Zeitplan festzulegen.
Bertrand hat dies umgehend zurückgewiesen. Noch am Donnerstagabend erklärte er: "Es wird keine Verhandlungen geben, solange der Streik andauert."
Am Freitagvormittag beschlossen dann die Generalversammlungen der Streikenden erneut mit großer Mehrheit, den Ausstand über das Wochenende hinweg fortzusetzen. Wiederum herrschte großes Misstrauen gegenüber den Gewerkschaftsführern, das die anwesenden Funktionäre nur mit Mühe dämpfen konnten.
Wie schon am Vortag beobachtete die WSWS eine Streikversammlung am Pariser Gare du Nord, an der sich 75 Streikende beteiligten. Über die Fortsetzung de Streiks herrschte Einmütigkeit, darüber gab es keine Debatte.
Eine intensive Diskussion kam erst über die Frage auf, ob man sich erst am Montag zur nächsten Streikversammlung treffen solle, oder bereits am Samstag - was für viele mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Hinter dieser scheinbar technischen Frage verbarg sich offensichtlich die Angst, die Gewerkschaften könnten das Wochenende für einen Ausverkauf nutzen. Man einigte sich schließlich auf den Montag und eine informelle Versammlung am Samstag.
Wie schon am Vortag verabschiedete die Generalversammlung auch diesmal wieder eine Resolution an sämtliche beteiligten Gewerkschaften, in dem diese eindringlich vor Zugeständnissen hinter dem Rücken der Streikenden gewarnt werden.
Im Arbeitgeberlager hat inzwischen Präsident Sarkozy wieder persönlich die Initiative übernommen. Er lud für Freitagnachmittag die Führungskräfte aller betroffenen Staatsunternehmen, den Premierminister, den Arbeits- und den Transportminister zu einer Lagebesprechung in den Elysée-Palast ein, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren.