Am 8. Juni wurde in Mailand der Prozess wegen Entführung eines im Exil befindlichen ägyptischen Imams in Abwesenheit der Angeklagten eröffnet. Angeklagt sind 26 CIA-Agenten und ein amerikanischer Leutnant der Air Force. Hassan Mustafa Osama Nasr, genannt Abu Omar, war in Mailand auf offener Straße entführt und heimlich in ein ägyptisches Gefängnis gebracht worden, wo er fast vier Jahre lang festgehalten und sadistisch gefoltert wurde.
Dies ist der erste Strafprozess, bei dem es um die amerikanische Politik der "außerordentlichen Überstellungen" geht. Im Zuge dieser Politik sind Dutzende, vielleicht Hunderte angeblicher Terroristen von amerikanischen Geheimagenten gekidnapped und in Länder ausgeliefert worden, die für ihre brutalen und missbräuchlichen Untersuchungsmethoden bekannt sind.
Wie alle Opfer der illegalen US-Politik wurde Nasr keines Verbrechens beschuldigt und niemals vor ein ordentliches Gericht gestellt.
Es sind auch sieben Italiener angeklagt, darunter Nicolò Pollari, der ehemalige Leiter des italienischen Militärgeheimdienstes SISMI. Pollari wurde vergangenen November zum Rücktritt gezwungen.
Auf Pollaris Liste möglicher Zeugen der Verteidigung steht Silvio Berlusconi, der zur Zeit der Entführung Ministerpräsident war, wie auch der heutige Ministerpräsident, Romano Prodi, sowie führende Berater der beiden Politiker. Pollaris Rechtsanwalt behauptet, ein hochrangiger Vertreter der italienischen Regierung habe damals der Entführung zugestimmt.
Die Prozesseröffnung fiel mit der Veröffentlichung eines Berichts des Europarats zusammen, der die über zwei Jahre dauernde Existenz geheimer CIA-Gefängnisse in Polen und Rumänien dokumentiert. Darin werden detailliert die Foltermethoden geschildert, die von der CIA in diesen Einrichtungen praktiziert wurden, darunter simuliertes Ertränken. Der Bericht erhebt den Vorwurf, das amerikanische Programm sei mit Wissen und Zustimmung der NATO und europäischer Länder wie Deutschland und Italien umgesetzt worden.
Der Mailänder Prozess begann am Vorabend der Staatsvisite Präsident Bushs, der am späten Freitagabend, den 8. Juni, in Rom erwartet wurde. Am darauf folgenden Tag traf er sich mit dem Papst, Premierminister Romano Prodi und dem italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano. Gegen den Bush-Besuch kam es am Samstag zu großen Demonstrationen.
Der Prozess wird in Abwesenheit der angeklagten Amerikaner geführt, weil Washington einer Auslieferung nach Italien niemals zustimmen will, und weil Berlusconi sich geweigert hat, die Auslieferung zu beantragen. Auch Prodi, der heute an der Spitze einer Mitte-Links-Regierung steht, zu der auch die Nachfolgeparteien der alten KPI gehören, weigert sich, die Auslieferung der Amerikaner zu verlangen. Prodi hat versucht, den Prozess niederzuschlagen, indem er den Chefankläger, Armando Spataro, beschuldigte, er überschreite seine Kompetenzen und habe bei der Beweisaufnahme Geheimhaltungsvorschriften verletzt.
Das italienische Verfassungsgericht wird voraussichtlich im Herbst entscheiden, ob wichtige Beweise der Anklage unter Verschluss gehalten werden müssen oder ob der ganze Prozess gestoppt wird.
Die Verhandlungen haben am 8. Juni vor leeren Käfigen begonnen, die an zwei Wänden des Gerichtssaals aufgereiht waren. Pollari, der jede Beteiligung des italienischen Geheimdienstes an der Entführung abstreitet, war nicht anwesend. Als einziger Angeklagter war Luciano di Gregori, ein SISMI-Agent, im Saal anwesend.
Nasrs ägyptischer Rechtanwalt war aus Kairo angereist, um der Eröffnung beizuwohnen. Er sagte, Nasr, der vergangenen Februar aus dem Gefängnis entlassen worden war, "möchte eine moralische Entschädigung haben und besteht darauf, dass seine Entführer für ihre Verbrechen bezahlen". Er fügte hinzu, Nasr habe kommen wollen, "aber die ägyptischen Behörden haben ihn daran gehindert". Nasr wird als Zeuge der Anklage geführt.
Spataro, ein altgedienter Mailänder Staatsanwalt und Spezialist für Ermittlungen gegen Inlandsterrorismus, sagte Reportern, der aktuelle Fall werde zeigen, dass es beim Kampf gegen Terrorismus notwendig sei "die Gesetze unserer westlichen Demokratien uneingeschränkt zu respektieren".
Der vorsitzende Richter, Oscar Magi, vertagte den Prozess auf den 18. Juni. Dann werde er über einen Antrag von Pollaris Anwalt entscheiden, der den Prozess bis zum Urteil des Verfassungsgerichts aussetzen möchte.
Nasr, ein muslimischer Geistlicher, wurde am 17. Februar 2003 auf offener Straße entführt, als er auf dem Weg von seiner Mailänder Wohnung in die Moschee war. Er wurde in einen Lieferwagen gezerrt und zum US-Luftwaffenstützpunkt Aviano in Norditalien gebracht. Von dort aus wurde er nach einem Zwischenhalt auf der US-Luftbasis Ramstein in Deutschland, schließlich nach Ägypten geflogen und dort ins Gefängnis geworfen.
Nasr wurde damals schon eine Weile von Spataros Mailänder Behörde beobachtet, da er verdächtigt wurde, sich an der Rekrutierung und Finanzierung islamischer Dschihadisten in Europa zu beteiligen. Der Imam lebte legal in Italien und hatte den Status eines politischen Flüchtlings.
Spataro besteht darauf, dass die Entführung nicht nur italienische Gesetze verletzt, sondern außerdem die laufenden polizeilichen Ermittlungen sabotiert hat. Es gibt scharfe Spannungen im italienischen Geheimdienst- und Polizeiapparat über das amerikanische Vorgehen und die italienische Beteiligung daran. Das kam in Spataros Worten zum Ausdruck, als er sagte: "Die Entführung Abu Omars war ein schweres Verbrechen und hat unserm Kampf gegen Terrorismus schweren Schaden zugefügt."
Sobald Nasr in der Hand der Ägypter war, geriet er in einen wahren Alptraum an Folter und Misshandlung. Dem Spiegel erzählte er: "die ägyptische Regierung hat das gemacht, was sie immer macht: die Wünsche Washingtons erfüllt. Hier sollte die Drecksarbeit erledigt werden, damit ich rede. Deshalb haben sie mich gefoltert, Elektrodrähte an meinen Genitalien angeschlossen, mich in der Einzelzelle tagelang an der Wand aufgehängt, mir unerträglich laute Musik über Kopfhörer verabreicht."... "In den ersten 14 Monaten hätte ich alles gestanden, was sie wollten."
Er beschrieb eine Form der Folter, bei der er gezwungen wurde, sich auf eine nasse Matratze zu legen, durch die elektrischer Strom geleitet wurde. "Kakerlaken und Ratten rannten über meinen Körper", berichtete er weiter. "Wenn die Wache rein kam, musste ich niederknien, sonst schlugen sie mich wieder und gaben mir Elektroschocks."
Als er 2004 für kurze Zeit freikam, rief er Verwandte und Freunde in Ägypten an, die jetzt erst erfuhren, wo er war und was ihm angetan worden war. Nach ein paar Wochen wurde er erneut ins Gefängnis geworfen.
Spataro wurde im Juni 2005 mit den Ermittlungen in diesem Fall betraut. Die anklagende Richterin, Caterina Interlandi, sagte damals: "Es ist eine Prinzipfrage. Heute betrifft es Abu Omar, morgen könnte es meine Tochter sein. Es geht um grundlegende Menschenrechte, und wir müssen sie respektieren."
Die Haltung der US-Regierung zu solchen Erwägungen wurde von einem nicht genannten führenden Regierungspolitiker auf den Punkt gebracht, der den Medien sagte: "Wenn dieser Kerl nicht mehr frei herumläuft, ist die Welt ein besserer Ort."
Spataro hatte keine Schwierigkeiten, die Wege der CIA-Agenten aufzuspüren, da sie nicht einmal versucht hatten, ihre Spuren zu verwischen. Sie koordinierten ihre Tätigkeit über Mobiltelefone, die leicht zu verfolgen waren, und hinterließen eine Spur von Rechnungen für Mietwagen, teure Mahlzeiten und Hotelzimmer in einigen der luxuriösesten Mailänder Hotels. Laut der Anklageschrift kam allein an Hotelrechnungen eine Summe von 150.000 Dollar zusammen.
Dies alles weist stark darauf hin, dass sie keine Angst hatten, gefasst zu werden, weil sie hochrangige Protektion von der italienischen Regierung genossen.
Die Staatsanwaltschaft sagt, sie habe Tausende Seiten Dokumente und Zeugenaussagen ehemaliger und heutiger italienischer Agenten zusammengetragen, von denen einige zugegeben hätten, mit den USA bei der Planung der Entführung zusammengearbeitet zu haben.
Unter den angeklagten Amerikanern befindet sich der ehemalige Mailänder CIA-Chef, Robert Seldon Lady, der CIA-Chef von Rom, Jeffrey Castelli, und der Leutnant der US Air Force, Colonel Joseph Romano, der damals in Aviano stationiert war.
Nasr bestreitet, ein Terrorist zu sein oder islamischen Extremismus zu befürworten. In einem Interview, das am 7. Juni in Le Monde veröffentlicht wurde, sagte er, er weise die "Ideologie und Methoden" des Dschihad zurück. "Ich kann nicht einmal mit einem Gewehr umgehen", sagte er. "Ich bin vor meiner Militärdienstzeit aus Ägypten geflüchtet."
In einem Bericht der Chicago Tribune vom Juli 2005 über diesen Fall wird Nasr als "eine Art mäßigende Kraft" bezeichnet.
Der Artikel enthielt Informationen, die auf eine Verbindung zwischen dem Imam und amerikanischen Geheimdiensten hinweist. Laut dem Tribune- Artikel vom 2. Juli 2005 sei Nasr 1995 für die CIA ein wertvoller Agent gewesen, als er im Exil in Albanien lebte. Darin heißt es, Nasr sei "von den USA ausgebildet worden, um gegen die Sowjets in Afghanistan zu kämpfen".
Wie es heißt, habe er Verbindungen zur islamistischen Gruppe Ansar-al-Islam gehabt. Fünf Tage vor Nasrs Entführung sprach der damalige US-Außenminister Colin Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die bevorstehenden Militäraktionen zum Sturz von Saddam Hussein. Seine Rede bestand aus groben Entstellungen und Lügen. Powells wichtigster "Beweis" für Verbindungen zwischen dem Irak und Al-Qaida war die Anwesenheit von Ansar al-Islam im Norden des Irak.
Dies legt nahe, dass die Entführung des Imam durch den Wunsch motiviert war, ihn zu Falschaussagen zu zwingen, um die bevorstehende Invasion des Irak zu rechtfertigen. Es ist vollkommen plausibel, dass die CIA versuchte, aus Nasr belastende Zeugenaussagen gegen diese Gruppe herauszuholen, um damit die falsche Behauptung zu stützen, die Gruppe arbeite mit Saddam Husseins Billigung als Vorposten von Al-Qaida im Irak.
Die Zeitschrift Newsweek schrieb am 29. Juni 2005: "Wenn auch ein großer Teil der angeblichen CIA-Operation im Dunkel bleiben wird, legen die italienischen Prozessakten und das Timing der angeblichen Entführung doch nahe, dass der Grund dafür vielleicht das Interesse des Dienstes war, rasch neue Informationen darüber herauszufinden, was Abu Omar [Nasr] über Ansar al-Islam wusste. Entweder wollten sie damit die Rechtfertigung der Invasion durch die Regierung unterstützen, oder sie wollten ein terroristisches Netz im Innern des Irak zerstören, das die US-Kräfte, die in den Irak eindrangen, hätte bekämpfen können, wie einige frühere CIA-Funktionäre sagten."
Es ist auch möglich, dass die USA Spataros Ermittlungen über Nasr abwürgen wollten, um zu verhindern, dass für die CIA kompromittierende Informationen durchsickerten.
Zur Zeit der ersten Ermittlungen in diesem Fall schrieb die World Socialist Web Site (am 6. Juli 2005): "Ob die beschuldigten CIA-Agenten vor Gericht gestellt werden oder nicht, die Anklage gegen sie hat die ungesetzliche Rolle, die die Vereinigten Staaten weltweit spielen, ins Rampenlicht gerückt. Doch wirft die Praxis der US-Regierung, die Untersuchung und Verfolgung von Terrorverdächtigen in andern Ländern zu vereiteln, noch ganz andere Fragen auf.
Wovor haben die Bush-Regierung und der amerikanische Geheimdienst Angst? Gehen sie nach dem alten Sprichwort vor, dass Tote - und "Verschwundene" - keine Geschichten erzählen? Sabotieren sie gewisse Prozesse ganz bewusst, damit nicht Verbindungen zwischen dem amerikanischen Staat und terroristischen Gruppen oder Einzeltätern, wie zum Beispiel den Attentätern vom 11. September 2001, ans Licht der Öffentlichkeit kommen?"
Diese Fragen behalten bis heute ihre volle Gültigkeit.