"Niemand kann sich die Güter der Erde oder des Gewerbes ausschließlich aneignen, ohne ein Verbrecher zu sein." - Gracchus Babeuf 1797
Am Krankenhausbett eines Patienten steht ein Verwandter und betätigt einen so genannten Beatmungsbeutel. Per Hand pumpt er Luft in die Lungen des Kranken. Wird nur für kurze Zeit unterbrochen, stirbt der Mann, erläutert ein Arzt. Diese unglaubliche Szene stammt aus dem Dokumentarfilm Der große Ausverkauf von Florian Opitz. Der Regisseur begab sich auf vier Kontinente, um auf die zerstörerischen Konsequenzen der Privatisierungen aufmerksam zu machen, die in den achtziger und neunziger Jahren international vorangetrieben wurden.
Großbritannien:
Am frühesten begann in Großbritannien der Feldzug gegen verstaatlichte Bereiche der Gesellschaft. Thatchers Regierung begann 1984 mit den Bergwerken, ihnen folgten andere Schlüsselbereiche. 1997, unter ihrem Nachfolger Major, war die britische Bahn an der Reihe.
Der britische Lokführer Simon Weller berichtet, wie der ehemalige Staatsbetrieb und seine Angestellten unter zirka 150 Firmen aufgeteilt wurden. Er selbst kam zur Firma Connex, als diese dann ihre Lizenz verlor, zu Southern, dann wieder zu einer neuen Firma.
Alle hätten am Anfang investiert, erklärt er, allerdings nur in Farbe, damit es so aussieht, als ändere sich etwas. Sie investierten in Uniformen, jeder Firmenwechsel bedeutete eine neue Uniform, mal in "unterwürfigem Blau" mit Krawatte, mal in Grün.
Gleise und Signalanlagen kaufte eine Firma namens Railtrack, die mit wenig Personal auskam. Sie hätte die Wartungsaufträge an Subfirmen und diese wiederum an Sub-Sub-Unternehmen weitergegeben. Das Ergebnis - das große Zugunglück von Hatfield (2000); die Ursache - eine gebrochene Schiene.
Es sei heute ein "logistischer Albtraum" mit der Bahn quer durch Großbritannien zu reisen. "Ein ungemeiner Schaden ist in den letzten 20 Jahren angerichtet worden." Früher sei es so etwas wie eine Berufung gewesen, Eisenbahner zu sein, im Dienste der Fahrgäste und der Fracht, man war stolz darauf, heute sei es nur noch eine Schande.
Von den Vorfahren habe man die Bahn übernommen, um sie im Dienste der Allgemeinheit weiter zu betreiben. "Heute haben wir schlechte Arbeitsbedingungen, schlechten Service, weniger Sicherheit für die Fahrgäste." Mit Freiheit und Demokratie habe das alles nichts zu tun. Und Labour setze den Kurs von Thatcher fort: "Es ist nicht vorbei.".
Philippinen
Die anfänglich beschriebene Krankenhausszene stammt aus Manila. Ende der achtziger Jahre begann der philippinische Staat, das bisher staatliche Gesundheitssystem schrittweise zu verkaufen. Nun gibt es neben den nur noch mangelhaft ausgestatteten staatlichen Krankenhäusern für die einfache Bevölkerung moderne Privatkliniken für den betuchten Kunden.
Das Personal ist allerdings überall so unterbezahlt, dass man von dem Verdienst nicht leben kann. In den letzten zehn Jahren sind bereits 100.000 Schwestern und Pfleger sowie 5.000 Ärzte ausgewandert. Die medizinische Ausbildung auf den Philippinen genießt international einen guten Ruf. 20.000 bis 30.000 Absolventen gibt es jedes Jahr. Wegen der Abwanderung mussten in den letzten Jahren an die 1.000 Krankenhäuser ganz oder teilweise schließen.
Der 19-jährige Jinky Lorando benötigt zweimal wöchentlich eine Dialyse. Seine Mutter Minda musste in den letzten Jahren ihr Haus verkaufen, ihre gesamten Mittel aufbrauchen für die Behandlung, ohne die der Junge nach zehn Tagen stirbt. Inzwischen lebt sie mit Kindern und Enkeln in einem Elendsquartier, wo die Bewohner illegal die Stromleitungen anzapfen. Ab und an schmoren die Leitungen wegen Überbelastung durch, es herrscht permanente Brandgefahr. Ohne Strom werden Kerzen benutzt, in einer Behausung, wo auf engstem Raum viele Menschen, darunter viele Kinder leben, und jede Menge leicht brennbare Dinge.
Jeden Tag zieht die Mutter los, Geld aufzutreiben. Sie bittet beim Sozialdienst um ein Empfehlungsschreiben für eine Spende von einem Abgeordneten von Kongress oder Senat. Diesmal bekommt sie das Geld gerade so zusammen, eine Spende von einem Kongressabgeordneten, dem Jungen geht es schon sehr schlecht. Dann liegt er an der Maschine, die sein Blut reinigt. Nächstes Mal brauche er wieder eine Bluttransfusion meint die Schwester zur Mutter. Beim Sozialdienst hat man ihr geraten, erklärt sie dem Zuschauer empört, zu akzeptieren, dass ihr Sohn sterben wird.
Südafrika
Unter der Nelson-Mandela-Regierung wurden Strom und Wasser privatisiert. Der neue Besitzer ESKOM erhöhte die Preise, worauf viele Haushalte im größten Johannesburger Armenviertel Soweto, die bisher grade so übers Jahr kamen, in Zahlungsschwierigkeiten gerieten. Ihnen wurden die Stromkabel gekappt.
Eine Frau, die über zwanzig Jahre in der Kantine des Gerichts arbeitete, sich ein eigenes Haus ersparte, lebt nun von einer kümmerlichen Rente, die auch noch für die arbeitslosen Söhne reichen muss. Den Strompreis, den sie nicht zahlen kann beträgt über ein Drittel ihrer Rente.
Innerhalb eines Monats hat ESKOM 20.000 Anschlüsse durchtrennt, erfährt man durch den Film. Das seit 2001 eingeführte Prepaid-System ist noch brutaler. Man kann keine Schulden aufhäufen, weil die Stromzufuhr sofort unterbrochen wird, wenn die Summe auf der Karte aufgebraucht ist. Egal ob vielleicht gerade Winter ist. Ein Mann verwünscht die ANC-Regierung, die die Privatisierung eingeführt hat.
Auch die Firma Johannesburg Water stellt das Wasser ab, wenn Haushalte nicht zahlen können. "Unserer Regierung hat einfach jemandem das Eigentumsrecht am Wasser gegeben!", ruft ein Mann empört.
Mit dem SECC (Soweto Electricity Crisis Committee) und dem APF (Anti-Privatisierungs- Forum) haben sich Initiativen gegründet, die einen aufreibenden Kleinkrieg gegen ESKOM führen. Der SECC besteht aus Aktivisten, die die abgeklemmten Haushalte illegal wieder ans Stromnetz anschließen. Ohne uns wäre Soweto längst im Dunkel versunken, erklären sie stolz. ESKOM verfolgt sie erbarmungslos mit Hilfe des Staates.
Die junge Frau des SECC-Aktivisten Bongani Lubisi, der bereits im Gefängnis war, erklärt, was für Angst sie um ihren Mann hat. Sie haben eine kleine Tochter. Monate nach den Dreharbeiten stirbt ihr Mann, der bei den Kommunalwahlen antreten wollte, 34-jährig unter ungeklärten Umständen.
Bolivien
Die bolivianische Kommune Cochabamba verkaufte 1999 das Wasser an den US-Konzern Bechtel. Drastische Preiserhöhungen bis zu einem Viertel der Einkommen folgten auf dem Fuße. Gleichzeitig verbot der Vertrag zwischen Kommune und Bechtel den Menschen, Wasser aus Bächen, Flüssen und Seen zu entnehmen und sogar das Auffangen von Regenwasser wurde zu einer illegalen Tat.
"Wie kann man Wasser privatisieren" sagt eine Frau, "eine Sache die jeder notwendig zum Überleben braucht, ohne die sogar Tiere nicht leben können. Weder hier noch in einem anderen Land sollte das Wasser privatisiert sein."
Im Jahr 2000 hatte es hier einen regelrechten Volksaufstand gegeben. Der Film zeigt in einer historischen Rückblende wie Polizei und Armee brutal gegen die Bevölkerung vorgehen. Die Regierung verhängte, um den Vertrag mit Bechtel durchzusetzen, das Kriegsrecht über die Stadt, wobei auch Scharfschützen eingesetzt wurden. Es gab viele Verletzten und einige Tote. Sie wäre bereit gewesen, für das Wasser zu sterben, erklärt die 60-jährige Rosa de Turpo, die damals dabei war.
Eine internationale Sicht auf die Welt
Opitz macht anschaulich und greifbar, welche dramatischen Folgen es hat, wenn existentielle Dinge wie Wasser, Strom, Gesundheitsversorgung, Mobilität in Privatbesitz sind. Und er will mit seinem bewegenden Film nicht einfach Verständnis für die Opfer in einer ungerechten Welt wecken: "Der Film möchte die Öffentlichkeit aufrütteln und auf eine schleichende und gefährliche Entwicklung aufmerksam machen, die unser aller Leben betrifft."
Sich durch ein Kunstwerk in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzumischen, war bisher in der deutschen Filmszene eher verpönt. Der erhobene moralische Zeigefinger wies stets warnend auf die vermeintliche "Macht der Bilder" in Faschismus und Stalinismus. Geschichtliche Verantwortung verbiete die Manipulation des Publikums mit Bildern. Kein Regisseur dürfe sich anmaßen, seine persönliche Meinung als Wahrheit auszugeben. So rümpfte man noch über Michael Moores "Propagandafilme" die Nase.
Inzwischen sind die Wahrheiten, die z.B. Moores The Big One (1997) aussprach, ein Film, der anschaulich die gesellschaftlichen Spannungen in den USA wiedergab, die Empörung der einfachen Bevölkerung über soziale Ungerechtigkeit, die kalte Ignoranz von Firmenvertretern und Politikern sozialen Fragen gegenüber, immer mehr auch zur Erfahrung der westeuropäischen Bevölkerung geworden. Stärker als noch vor Jahren wird heute die kapitalistische Ökonomie als globale Bedrohung wahrgenommen.
Der von uns besprochenen Film Jarmark Europa (2004), der in den Jahren vor der EU-Osterweiterung produziert wurde, war noch stark von der Sichtweise reicher Westen - armer Osten’ geprägt. Die junge Regisseurin schämte sich ein wenig, dass sie in Russland und Polen den Existenzkampf armer Menschen filmte. Die Filmarbeit wurde durch das Misstrauen erschwert, das der Regisseurin teilweise von dort lebenden Menschen entgegengebracht wurde, die vermuteten, da käme jemand aus dem Wohlstand und wolle ihr Elend im Westen zur Schau stellen.
In Opitz Film existiert diese geistige Trennlinie nicht. So gelingt es ihm besser, mit den Protagonisten auf Augenhöhe zu stehen. Sie agieren sehr selbstbewusst vor der Kamera, zeigen offen ihre Wut über die soziale Ungerechtigkeit und über Regierungen, die zulassen, dass das Allgemeinwohl zu Gunsten privaten Profits mit Füßen getreten wird.
Simon sieht seinen Bericht als Warnung an die Bevölkerung anderer Länder, wo es vielleicht noch Illusionen in die Privatisierung gibt. Minda zeigt ohne Scham einem internationalen Publikum ihre erbärmliche Behausung, deren Insassen sich nicht im Geringsten durch die Kameras stören lassen.
Die Frage kultureller Unterschiede, Religion usw., denen in der öffentlichen Diskussion hierzulande immer so eine schrecklich große Bedeutung zuerkannt wird, schrumpft vor der Macht einfacher sozialer Fakten zu Bedeutungslosigkeit: So reibt sich bei Opitz das Elend Manilas an der modernen Infrastruktur einer Großstadt, wie es sie inzwischen auf allen Kontinenten gibt. Der Film schneidet hart und unmittelbar von einem Land in das andere, so dass sich Eindrücke überlappen. Nach einer Sequenz über die britische Bahn, einem modernen Industrieland, sieht man plötzlich alte, stillgelegte Gleise, die durch die Slums von Manila führen.
Eine andere kapitalistische Welt ist möglich?
Ungeachtet seiner Stärken beinhaltet Opitzs Film einige deutliche Widersprüche. Während er sehr anschaulich die Konsequenzen der Globalisierung zeigt und einige Szenen die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der sozialen Verhältnisse nahe legen, bereitet er gleichzeitig eine Plattform für die Auffassung, die gezeigten Probleme könnten durch Reformen und Tüfteleien im Rahmen der bestehenden Verhältnisse überwunden werden. Opitz sympathisiert mit der Attac-Bewegung, und das prägt den Film stellenweise.
So präsentiert Opitz den amerikanischen Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft Professor Joseph E. Stiglitz als konsequenten Kämpfer gegen Privatisierung. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank (1997-2000) und Gegner der neoliberalen Wirtschaftspolitik Bushs, wettert gegen den IWF und die heutige Weltbank, die nur noch auf unmittelbaren Profit ausgerichtet seien und die armen Länder vollkommen abhängig machten - als ob, bevor die "Ideologie" des freien Marktes um sich griff, IWF und Weltbank ein Hort uneigennütziger Humanität gewesen wären.
Als Stiglitz 1993 bis 1999 Wirtschaftsberater von Bill Clinton war (was der Film nicht erwähnt) und dieser Sozialabbau betrieb, war von einem Kampf gegen Privatisierung allerdings nichts zu bemerken.
Stiglitz betont, der neoliberale Kurs habe vor allem ideologische Ursachen, da sei der alte falsche Glaube, dass der freie Markt zu mehr Effizienz führe. Dass der Lokführer Simon fast genauso über diese Dinge denkt, wie der ehemalige Weltbankchef, verblüfft zunächst.
Auch für ihn ist Neoliberalismus vor allem eine Ideologie, eine irrige Idee, die scheinbar wie ein Wunder plötzlich aus dem Nichts auftauchte, sich mittels falscher Versprechungen erst in Großbritannien und von dort aus über die Welt verbreitete und auch die Weltbank und den IWF infizierte - eine Art Verschwörungstheorie.
"Die Menschen", so Simon, "glauben an den Mythos Privatisierung." Heute seien viele eines Besseren belehrt. Simons Fazit, die Katastrophe der britischen Bahn sei der beste Beweis dafür, dass es den großen Konzernen nur ums Geld gehe.
Die Auffassung, dass die Globalisierung mit all ihren negativen Konsequenzen eine Art Verschwörung sei, die durch bereicherungssüchtige Geschäftemacher und Politiker geschaffen wurde und aufrechterhalten wird, ist in politischen Organisationen wie Attac weit verbreitet. Auch der Vorsitzende der Linkspartei Oskar Lafontaine verbreitet derartige Standpunkte, wonach die sozialen Probleme im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung gelöst werden könnten. Es komme lediglich darauf an, den "Neoliberalismus" und "Turbokapitalismus" in die Schranken zu weisen.
Auf dieser Grundlage vermittelt Opitz die Illusion, dass Basisbewegungen und Widerstand von unten ausreichend seien, um die Probleme zu lösen. So vergisst er nicht positiv zu vermerken, dass nach dem hartnäckigen Widerstand der bolivianischen Bevölkerung die Wasserversorgung wieder unter kommunaler Kontrolle sei, dass das britische Schienennetz wieder rückverstaatlicht wurde (2001), der Strom dank dem Widerstand des SECC in Soweto weiter fließt. Anhänger des südafrikanischen APF, einer Sammelbewegung verschiedener sozialer Initiativen und Gewerkschaften, tanzen, klatschen und rufen: "Nieder mit dem Kapitalismus!" Sogar das Wort "Sozialismus" fällt. Hinterfragt wird das alles nicht.
Stattdessen heißt es in einem Flyer zum Film: "Machen Sie mit! Der große Ausverkauf zeigt, dass man sich zur Wehr setzen und etwas bewegen kann. (...) man kann sich wehren, Guerilla-Elektriker’ unterwandern die Stromabschaltungen in Südafrika. Britischer Gewerkschaftsgeist bekämpft die Schrecken der privatisierten Bahn." Dann werden Organisationen genannt, wo man aktiv werden kann, an prominenter Stelle Attac.
In Wahrheit ist die Globalisierung eine objektive gesellschaftliche Entwicklung, beinhaltet eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte und hat damit ein sehr großes progressives Potenzial. Unter den Profitverhältnissen des Kapitalismus führt diese Entwicklung aber notwendiger Weise zu immer mehr Armut und Ausbeutung, wie Opitz Film es anschaulich zeigt.
Darüber hinaus hat die Globalisierung der Politik des Sozialreformismus den Boden entzogen, die der Film als Lösung andeutet. Jeder vorübergehend erfolgreichen gewerkschaftlichen Basisbewegung stehen Hunderte von Beispielen gegenüber, in denen die Gewerkschaftsbürokratie bei der Durchsetzung von Privatisierung eine entscheidende Rolle gespielt hat - ganz besonders bei der Privatisierung der britischen Eisenbahn.
Der große Ausverkauf von Florian Opitz ist ein beeindruckender und anregender Film, den man sehen sollte und der zweifellos dazu beitragen wird, eine Diskussion darüber anzuregen, was getan werden muss, um die sozialen Probleme zu überwinden.