Der Spiegel wiederholt alte Lügen über die Oktoberrevolution

Mittelalterliche Gerichte pflegten ihre ärgsten Gegner nicht nur um Tode zu verurteilen, sondern auch mehrere, äußerst grausame Hinrichtungsarten zu verordnen, die eine nach der anderen zu vollstrecken waren. Rachsucht und Abschreckung paarten sich dabei mit der Angst, der Gemarterte könnte wiederkehren und Rache nehmen. Ähnlich ergeht es seit neunzig Jahren der russischen Oktoberrevolution und Wladimir Lenin, ihrem bekanntesten Führer. Bis heute reißen die Bemühungen nicht ab, die bedeutendste Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts propagandistisch totzuschlagen.

Den jüngsten Beitrag zur Sammlung solcher Schmähschriften hat das Nachrichtenmagazin Der Spiegel geliefert. Es erschien am Wochenende mit der Schlagzeile: "Die gekaufte Revolution. Wie Kaiser Wilhelm II. Lenins Oktoberrevolution finanzierte". Die Köpfe Lenins und des deutschen Kaisers schmücken die Titelseite des Magazins, das in einer Auflage von über einer Million Exemplaren erscheint. Dem Heft ist eine DVD mit einem fünfzigminütigen Film zum selben Thema beigelegt, der am Montagabend auch im ZDF gezeigt wurde.

Man ist vom Spiegel vieles gewohnt, doch mit diesem Beitrag hat er sich selbst unterboten. Der zwölfseitige Artikel und der Film sind ein Hohn auf jede halbwegs seriöse Geschichtsschreibung. Die Autoren kündigen zwar sensationell "bislang unbekannte Dokumente" an, die angeblich "das Ausmaß der geheimen Zusammenarbeit" zwischen Lenin und Deutschland belegen. Der Spiegel habe "in mehr als einem Dutzend Archiven in ganz Europa" recherchiert und sei "auf bislang unbekanntes oder nicht ausgewertetes Material gestoßen". Doch dann werden lediglich uralte Verleumdungen wiederholt, ohne die Spur eines ernsthaften Beweises.

"Ohne die Hilfe Wilhelms II. für Lenin hätte es die Oktoberrevolution vor nunmehr 90 Jahren so nicht gegeben", lautet die zentrale These des Spiegels. Doch zum Beweis führt das Magazin nur Argumente an, die so alt sind wie die russische Revolution selbst: Lenins Zugfahrt durch Deutschland und seine angebliche Verbindung zu Alexander Helphand alias Parvus.

Leo Trotzki hat in seiner 1930 erschienen "Geschichte der russischen Revolution" derartigen Vorwürfen ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Verleumdung, Lenin stehe in Verbindung mit dem deutschen Generalstab, beherrschte im Juli 1917 das öffentliche Leben Russlands. Die Spannung zwischen den Volksmassen und der provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski hatte sich dramatisch zugespitzt. Es kam zu einem ersten Aufstand. Die Arbeiter, Soldaten und Bauern wollten Frieden und Brot, Kerenski den Krieg fortsetzen. Die Bolschewiki gewannen rasch an Zulauf.

Unter diesen Umständen wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, Lenin stehe im Sold des deutschen Generalstabs. "Führer einer revolutionären Partei, deren Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern verlaufen war, wurden vor dem ganzen Lande und der ganzen Welt als gemietete Agenten der Hohenzollern hingestellt", schreibt Trotzki. "Eine Verleumdung von nie da gewesenem Maßstabe wurde in die Tiefe der Volksmassen geschleudert, die in ihrer überwiegenden Mehrheit zum ersten Mal nach der Februarrevolution die Namen der bolschewistischen Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor."

Die Verleumdung verfolgte das Ziel, die Frontsoldaten gegen Lenin aufzuwiegeln und eine Pogromstimmung gegen die Bolschewiki zu entfachen. Lenin musste sich schließlich verstecken, Büros und Druckerei der Bolschewiki wurden demoliert, die Parteiführer, darunter auch Trotzki, verhaftet.

Trotzki beweist in seinem Buch nicht nur die inhaltliche, politische und psychologische Unhaltbarkeit der Verleumdung, Lenin stehe im Solde des Kaisers, er deckt auch minutiös ihre Quellen und Ursprünge auf. Sie entstammte dem hinterhältigen Milieu des zaristischen Geheimdiensts, den die Februarrevolution unbeschadet hatte bestehen lassen. "Diese Institution ist nirgendwo eine Pflanzstätte der Moral. In Russland indes bildete die Konterspionage die Kloake des Rasputinschen Regimes", schreibt Trotzki.

Der Spiegel übernimmt in großen Teilen die antibolschewistische Propaganda der damaligen Zeit. Als Sachverständige hat er die Publizistin Elisabeth Heresch engagiert. Die gelernte Slawistin und Dolmetscherin hat mehrere wohlwollende Bücher über die russische Zarenfamilie veröffentlicht, was sie in den Augen des Spiegels zur Revolutionsexpertin qualifiziert. Heresch hat schon vor sieben Jahren ein Buch veröffentlicht, dessen Titel "Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution" der Spiegel nun zum Teil übernommen hat. Heresch hat dafür auch in Archiven der zaristischen Geheimpolizei recherchiert. Sie hat also aus derselben Kloake geschöpft, aus der auch die ursprünglichen Verleumder Lenins ihre Gülle bezogen.

Der zentrale Vorwurf des Spiegels lautet, die deutsche Regierung habe "die Bolschewiki und andere Revolutionäre in Russland mit Mark, Munition und Waffen" unterstützt und dafür bis Ende 1917 mindestens 26 Millionen Mark (nach heutigem Wert 75 Millionen Euro) ausgegeben. Der Zusatz "und andere Revolutionäre" ist bezeichnend. Der Spiegel erbringt nämlich keinen Nachweis, dass die Bolschewiki tatsächlich deutsches Geld entgegengenommen haben. Stattdessen bedient er sich der Technik des Amalgams. Verschiedene Episoden, Ereignisse und zweifelhafte Aussagen, die in keinem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang stehen, werden kausal verknüpft und zu einer Indizienkette gefügt, die keiner genaueren Überprüfung standhält.

Als wichtigstes Beweisstück führt der Spiegel einen "23-seitigen Plan um Sturz des Zaren durch Massenstreiks" an, den Alexander Helphand im Februar 1915 dem deutschen Außenministerium in Berlin vorlegte. Der Plan listet einen langen Katalog von Maßnahmen auf, die das Zarenregime, Deutschlands Kriegsgegner, destabilisieren sollten: Sabotageakte, Aufwiegeln nationaler Minderheiten, Streikagitation unter Arbeitern und finanzielle Unterstützung oppositioneller Strömungen, darunter auch der Bolschewiki. Dieser Plan, schreibt der Spiegel, sei in Berlin auf Zustimmung gestoßen und Helphand habe dafür Millionensummen erhalten.

Helphand, Parteiname Parvus, war damals in sozialistischen Kreisen eine ebenso bekannte wie berüchtigte Figur. In Weißrussland geboren und in Odessa aufgewachsen, hatte er sich früh der revolutionären Bewegung angeschlossen. 1886 floh er in die Schweiz. Er verkehrte mit den führenden revolutionären Sozialisten seiner Zeit und schrieb für marxistische Publikationen wie Karl Kautskys Neue Zeit. 1905 beteiligte er sich an der russischen Revolution und erarbeitete gemeinsam mit Trotzki die Theorie der permanenten Revolution.

In den folgenden Jahren wandte sich Parvus scharf nach rechts. Durch einen Finanzskandal in sozialistischen Kreisen diskreditiert, zog er nach Konstantinopel, wo er durch Waffenhandel und andere Geschäfte ein Vermögen verdiente. Bei Kriegsbeginn übersiedelte er nach Kopenhagen und betätigte sich von dort aus als hemmungsloser deutscher Chauvinist. Er gründete und finanzierte die Zeitschrift Die Glocke, die innerhalb der SPD für die Unterstützung des Krieges warb und dies theoretisch zu begründen versuchte.

Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg distanzierten sich damals öffentlich von Parvus und verurteilten seine Machenschaften und seine politischen Standpunkte aufs Schärfste. Als Parvus Lenin 1915 in Zürich aufsuchte, wies ihm dieser - wie selbst der Spiegel zugibt - die Tür. Dennoch unterstellt der Spiegel, Lenin habe sich über Parvus mit deutschem Geld finanzieren lassen.

Auch hier wärmen die Autoren lediglich alte Verleumdungen auf, die bereits im Juli 1917 zirkulierten. Parvus hatte von Skandinavien aus ein Handelsnetz nach Russland aufgebaut. In Petrograd wurde behauptet, es handle sich um ein Spionagenetz, mit dem Lenin durch die polnischen Revolutionäre Ganetzki und Koslowski in Verbindung stehe. Auch der Spiegel führt die Tätigkeit von Ganetzki (Jakob Fürstenberg) und Koslowski für Helphands Unternehmen an, um damit die "These von der bolschewistischen Unschuld" zu widerlegen.

Trotzki hatte in seiner "Geschichte der russischen Revolution" über diese Verleumdung geschrieben: "Die Angaben ... betrafen geschäftliche Operationen Ganetzkis und Koslowskis zwischen Petrograd und Stockholm. Dieses Geschäft zur Kriegszeit, das sich wahrscheinlich bei der Korrespondenz einer Decksprache bediente, hatte keine Beziehung zur Politik. Die bolschewistische Partei hatte keine Beziehung zu diesen Geschäften. Lenin und Trotzki hatten Parvus, der gute Geschäfte mit schlechter Politik zu verbinden verstand, öffentlich entlarvt und die russischen Revolutionäre aufgefordert, alle Beziehungen zu ihm abzubrechen."

Wie beweist nun der Spiegel das Gegenteil? Mit reinen Vermutungen. "Kaum anzunehmen, dass Lenin dieses Netzwerk nicht genutzt hat, um Geld nach Petrograd bringen zu lassen," heißt es in dem Artikel. "Sicher ist: Für die Revolutionsarbeit brauchten die Bolschewiki Geld." Anders gesagt: Die Bolschewiki brauchten Geld, folglich haben sie sich kaufen lassen.

Tatsache ist, dass die chronische Geldknappheit der Bolschewiki allgemein bekannt war. Erst als die Partei nach der Februarevolution zu wachsen begann, besserte sich die Lage leicht, dank der Beiträge unzähliger Arbeiter. Im April sammelten die Bolschewiki unter den Arbeitern Petrograds in aller Öffentlichkeit 75.000 Rubel, um die Restsumme für den Kauf einer eigenen Druckerei aufzubringen. Diese historisch belegte Tatsache hindert den Spiegel nicht daran, den Kauf eben dieser Druckerei als Beweis für die Finanzierung der Bolschewiki aus dunklen Quellen anzuführen.

Die Vorstellung, in der Politik ließe sich mit Hilfe von Geld alles machen, einschließlich revolutionärer Aufstände, lässt die Spiegel -Autoren nicht los. Parvus’ Plan, mit deutschem Geld 1916 in Russland einen Generalstreik zu organisieren, schlug zwar fehl. Dennoch behauptet der Spiegel, die Demonstrationen gegen die Kerenski-Regierung seien von den Bolschewiki zwei Jahre später mit deutschem Geld organisiert worden.

Als Beleg wird die Aussage einer "Krankenschwester" angeführt, die Frau Heresch in Petrograder Polizeiunterlagen gefunden hat. Diese "Krankenschwester" will gesehen haben, "wie Bolschewiki Rubelmünzen an Passanten austeilten, um diese für eine Demonstration zu gewinnen. Man habe den Leuten dann Plakate mit Aufschriften wie ‚Nieder mit der provisorischen Regierung!’ in die Hände gedrückt." Im Film wird die "Krankenschwester" sogar durch eine Schauspielerin verkörpert, und man sieht Hände, die sich in einem geldgefüllten Eimer bedienen.

Diese Szene ist bezeichnend für das Geschichts- und Politikverständnis der Spiegel -Autoren. Die Vorstellung einer elementaren Massenbewegung, die sich gegen ein verhasstes Regime wendet, ist ihnen fremd und erfüllt sie mit Schrecken. Dass große soziale Bewegungen ohne finanzielle Anreize und Bestechung auskommen, übersteigt ihre Vorstellungskraft. Sie kennen Politik nur so, wie sie in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft praktiziert wird - kleinkariert, korrupt und käuflich.

Da das Material aus den Petrograder Polizeiarchiven trotz allem wenig überzeugt, bleibt als letztes Argument Lenins Reise durch Deutschland. Sie ist derart gut dokumentiert, dass sich eine längere Darstellung hier erübrigt.

Lenin wusste natürlich, dass sich der deutsche Generalstab aus seiner Anwesenheit in Russland Vorteile versprach, sonst hätte er nicht in Lenins Heimreise durch deutsches Territorium eingewilligt. Der russische Revolutionär sah aber weiter als die deutschen Generäle. Während sich letztere aus Unruhen in Russland (mit einer erfolgreichen Revolution rechneten sie nicht) eine Entlastung im Zweifrontenkrieg versprachen, wusste Lenin, dass ein Erfolg der Revolution in Russland auch das Ende des Wilhelminischen Reichs einläuten würde. Er sollte Recht behalten. Das Kaiserreich überlebte die Oktoberrevolution nur um ein Jahr.

Lenin achtete sorgfältig darauf, jeden Verdacht einer Komplizenschaft mit den Hohenzollern auszuräumen. Daher die Exterritorialität seines Wagens und die detaillierten Vereinbarungen, die der Schweizer Revolutionär Fritz Platten (und nicht Parvus) mit den Deutschen aushandelte. Das hindert den Spiegel allerdings nicht, die Mär von Lenin als deutschem Agenten wieder aufzuwärmen. Auf dem Titelblatt und über dem Artikel prangt ein fotografischer Ausriss aus einer "Deutschen Geheimdienstinformation", in der es heißt: "Lenin Eintritt nach Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch." Das Wunschdenken eines deutschen Spions wird hier einfach mit der Realität gleichgesetzt.

Der Spiegel wiederholt damit die Hetze der russischen Vaterlandsverteidiger, die auch 1917 noch bereit waren, Hunderttausende zusätzliche russische Soldaten in den Tod zu schicken, um die Interessen des russischen, britischen und französischen Imperialismus gegen den deutschen und österreichischen zu verteidigen. Lenin hatte sich dagegen vom ersten Tag des Kriegs auf den Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse gestellt und die Parole ausgegeben: "Der Hauptfeind steht im eigenen Land." Er unterstützte keines der kriegsführenden Lager und betrachtete den Krieg als Beweis, dass das kapitalistische System sein Endstadium erreicht hatte und reif war für die sozialistische Revolution.

Betrachtet man Lenins Verhalten im Lichte seiner politischen Grundsätze, für die er öffentlich eintrat und kämpfte, findet man nicht die geringste Diskrepanz zwischen seinen Worten und Taten. Der Vorwurf, er sei Söldner der Hohenzollern gewesen, die er hasste und öffentlich bekämpfte, erscheint schlichtweg absurd.

Die Arbeiter Russlands und Deutschlands verstanden das. In Russland verloren die Verleumdungen gegen Lenin schnell ihre Wirkung, als die Arbeiter und Soldaten merkten, dass nur die Bolschewiki bereit waren, den Krieg zu beenden und ihre Forderung nach Land und Brot zu erfüllen. Und als sich in Deutschland im November 1918 die Arbeiter und Soldaten gegen den Kaiser erhoben, betrachteten sie Lenin als Vorbild und nicht als Söldner Wilhelms.

Doch den Spiegel -Autoren ist ein derartiges Verständnis fremd. Ihre Geschichtsauffassung ist rein subjektiv. Sie können in großen historischen Ereignissen, die Millionen mitreißen und beeinflussen, lediglich das Ergebnis von Intrigen und Bestechung sehen. Allein die Tatsache, dass sich Lenin 1914 dem allgemeinen chauvinistischen Taumel widersetzte und keinen Burgfrieden mit dem Zaren schloss, ist ihnen Beweis genug, dass Lenin ein deutscher Agent war.

"Aus der Sicht der anderen russischen Sozialisten waren sie so was wie deutsche Agenten, ob sie dafür Geld bekamen oder nicht, weil sie die Selbstbehauptung Russlands gegenüber der deutschen Kriegsmaschine von Innen heraus entscheidend sabotierten," verkündet im Spiegel -Film der Historiker Gerd Koenen. Ausgerechnet Koenen! Er hatte in den 1970er Jahren als Maoist und Stalin-Anhänger Leo Trotzki und das marxistische Erbe der Oktoberrevolution verleumdet, heute greift er sie als Anti-Kommunist an.

Es stellt sich die Frage, warum der Spiegel einen derartigen Aufwand betreibt, um nach 90 Jahren die Oktoberrevolution zu verleumden. Wird nicht seit 15 Jahren behauptet, mit dem Ende der Sowjetunion seien nicht nur deren stalinistisches Regime, sondern auch der Sozialismus und der Marxismus für immer erledigt? Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Angesichts der wachsenden sozialen Krise, der horrenden Kluft zwischen Arm und Reich, der Rückkehr von Krieg und Militarismus, wächst auch die Angst der herrschenden Kreise vor dem Gespenst der Revolution wieder.

Viele Arbeiter und Jugendliche suchen nach einer gesellschaftlichen Alternative. Sie könnten sich der Oktoberrevolution zuwenden und das von der bürgerlichen und stalinistischen Propaganda gestrickte Lügendickicht hinterfragen. Dem gilt es vorzubeugen. Daher gräbt der Spiegel den alten Dreck wieder aus und schießt aus vollen Rohren.

Siehe auch:
Leo Trotzki und die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung
(5. Januar 2007)
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