Zwischen dem Wunsch nach Freiheit und religiöser Rückständigkeit

Deepa Metha im Gespräch mit der WSWS

Die indische Regisseurin Deepa Mehta sprach während ihres jüngsten Aufenthalts in Australien, anlässlich der Vorstellung ihres letzten Films Water , mit World Socialist Web Site -Reporter Richard Phillips. Wie die mit diesem Beitrag verlinkten Artikel genauer erläutern, begann die Produktion für diesen Film vor sechs Jahren in Indien, wurde aber nach einer bösartigen politischen Hetzkampagne rechter Hindu-Extremisten auf Eis gelegt. Vergangenes Jahr wurde er schließlich zu Ende gedreht und hatte auf dem Filmfestival 2005 in Toronto Premiere. Zurzeit wird er in den USA, Kanada, Australien, Deutschland und vielen anderen Ländern gezeigt.

Richard Phillips : Zuerst möchte ich Ihnen gratulieren, dass Sie den Film letztendlich fertig gestellt haben. Er enthüllt zweifellos die furchtbare Situation indischer Witwen und die Art von gesellschaftlichen Werten, für die die Hindu-Extremisten eintreten. Wie war die Resonanz?

Deepa Mehta: Danke. Die Resonanz hat uns überwältigt, besonders im englischsprachigen Kanada, wo unser Film von allen fremdsprachigen Filmen die höchsten Einnahmen erspielt hat. Das ist eine ganz neue Erfahrung, besonders wenn man, wie wir, einer derartigen politischen Hysterie ausgesetzt war.

RP : Haben Sie eine solche Reaktion erwartet?

DP : Nein, nicht in diesem Ausmaß. Mein Vater arbeitete in Indien als Filmverleiher, so lernte ich von klein auf, dass dies eine eigenartige Branche ist, immer für Überraschungen gut. Natürlich hofft man jedes Mal, dass die eigene Arbeit die Menschen erreicht, aber diese Resonanz war enorm.

RP : Was hat es für Sie in künstlerischer Hinsicht bedeutet, als Sie vor sechs Jahren die Arbeit an diesem Film unterbrechen mussten? Und sind Sie der Meinung, das politische Klima hat sich verändert?

DM : In gewisser Weise, denke ich, verschlimmert sich die Situation für Künstler. Überall kommt es zu Angriffen auf demokratische Rechte. Aber es gibt auch Filmemacher, die sich den Mund nicht verbieten lassen, und auch einige gute Filme, zum Beispiel Syriana, Good Night, And Good Luck und München, die das widerspiegeln. Es deutet sicherlich auf einen Wandel hin, wenn jemand wie Spielberg einen Film wie München macht.

RP : Das ist wahr. Aber welche Auswirkungen hatte die hindu-fundamentalistische Kampagne in künstlerischer Hinsicht auf Sie?

DM : Das hängt davon ab, was Sie meinen. Als die BJP-Landesregierung von Uttar Pradesh uns zwang, den Film abzubrechen, war ich sehr isoliert.

Wir hatten einige Menschen in Indien, die uns unterstützten, doch ging es, wie ich Ihnen damals erklärte, nicht mehr um Water, sondern das Ganze wurde Bestandteil einer politischen Kampagne der Fundamentalisten, die es nicht nur auf mich abgesehen hatten, sondern auf jeden, der offen gegen ihre Kulturpolitik auftrat.

Obwohl man wusste, dass es nur eine kleine Gruppe rechter Unruhestifter war und nicht die Mehrheit, war es verwirrend und zeitweise beängstigend. Als Sie und die WSWS auftauchten, war dies eine Unterstützung, die ich dringend brauchte, nicht nur im intellektuellen Sinn, sondern auf emotionaler Ebene. Diese Art von Unterstützung, und noch dazu vom andern Ende der Welt, war sehr ermutigend, und ich war außerordentlich dankbar dafür.

Aber ich beschloss, Water erst einmal ruhen zu lassen, und machte zwei andere Filme - Hollywood Bollywood und Republic of Love, zwei romantische Musical-Komödien, deren Dreharbeiten großen Spaß gemacht haben. Ich wollte etwas vollkommen Respektloses, Andersartiges machen.

Ich sagte zu mir selbst, Water könne ich erst weiterdrehen, wenn ich nicht mehr wütend sei, und das dauerte vier Jahre. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich den Film fertig stellen würde, keine Frage, aber ich durfte meine Wut nicht auf das Drehbuch übertragen. Also halfen mir die anderen Filme in vielerlei Hinsicht - auf der emotionalen und der professionellen Ebene - und wenn ich heute zurückschaue, war das meine Vorbereitung darauf, die Dreharbeiten zu Water wieder aufzunehmen.

RP : Haben Sie Änderungen am Drehbuch vorgenommen?

DM : Nein, aber ich selbst hatte mich verändert. Meine Ansicht über die Rollen und die Anzahl der Dialoge und die Art und Weise, wie ich gewisse Szenen drehen wollte, war anders. Und natürlich gab es andere Schauspieler.

Das kleine Mädchen, das ursprünglich eingeplant war, war nun zwölf oder dreizehn Jahre alt. Kalyini sollte ursprünglich von Nandita Das verkörpert werden, die eine starke Persönlichkeit ist, aber ich wollte jemanden, der verletzlicher ist. Lisa Ray war mehr der Typ, den ich brauchte. Auch sollte Shabana Azmi die Rolle von Shakuntala spielen, aber ich kam zum Schluss, dass ich eine direktere Persönlichkeit brauchte, und die beste Wahl dafür war Seema Biswas, jemand, mit dem ich schon immer zusammenarbeiten wollte. Sie war großartig.

RP : Und Sarala, das kleine Mädchen?

DM : Wir fanden sie in Sri Lanka. Sie stammt aus einem kleinen Dorf außerhalb von Galle, das südlich von Colombo liegt. In Indien sah ich mir viele Mädchen an, aber die meisten hatten Schauspielerfahrung, und auch die, die keine hatten, waren stark von Bollywood geprägt. Sie hatten alle möglichen falschen Vorstellungen darüber, wie man die Sätze sprechen sollte. All diese Gefühle und das ganze Drum und Dran des Bollywood-Betriebs ist übertrieben, gekünstelt. Das war nicht, was wir brauchten.

Wir besuchten in Sri Lanka mehrere Schulen und nahmen zahlreiche Mädchen auf. So haben wir Sarala gefunden. Sie kam zum Vorspielen, und als ich sie sah, wusste ich im gleichen Augenblick, dass sie es war, die wir suchten.

RP : Sie spricht kein Hindi. War das ein Problem?

DM : Nein. Es hat sich im Ende als Segen erwiesen. Obwohl sie nicht viele Sätze zu sagen hatte, brachte man ihr ganz genau bei, was sie und andere sagen würden und wie sie reagieren sollte. Nachdem wir diese Hürde genommen hatten, war sie großartig, eine wahre Schauspielerin. Natürlich nahmen wir kleinere Korrekturen vor - hier etwas mehr, da etwas weniger, kein Bollywood - und sie war gut.

RP : Waren in Sri Lanka besondere Sicherheitsvorkehrungen nötig?

DM : Nein. Wir haben mit sehr guten Leuten vor Ort zusammengearbeitet, und sie haben "Anti-Publicity-Experten" angeheuert, was heißt, dass so gut wie niemand erfahren hat, dass der Film gedreht wurde. Wir sagten den Schauspielern, sie sollten keine Einzelheiten über das, was sie tun, bekannt machen und keine Interviews geben, und der Film hatte einen völlig anderen Arbeitstitel. Jemand schlug den Namen River Moon vor, den wir auch benutzten.

RP : Wie sind sie zu der Handlung des Films gekommen?

DM : Ich traf in den neunziger Jahren zum ersten Mal auf einen Witwen-Ashram, als ich in Varanasi eine Folge von Young Indiana Jones für das Fernsehen drehte. Es war früh am Morgen, und ich sah eine alte Witwe in einem einteiligen Sari, über achtzig Jahre alt und gebeugt wie eine Krabbe.

Sie war fast blind und ihre Brille war heruntergefallen. Ich half ihr die Brille zu finden und brachte sie zum Ashram zurück, wo sie lebte. Dies war mein erster Kontakt mit der Unterbringung von Witwen in diesen Anstalten, und ich war schockiert, über was ich da sah, und schwor mir, irgendwann in meinem Leben einen Film über ihre erbärmliche Lage zu drehen.

Wenn der Ehemann einer Frau stirbt, dann hat sie wirklich nur noch ein halbes Leben. Sie muss tatsächlich auf ihren Tod warten, um wieder mit ihm vereint zu werden. Also müssen Witwen als Asketinnen leben und sich alle Dinge versagen, die ein normales menschliches Wesen haben sollte. Das habe ich im Film zu zeigen versucht.

RP : Wie sieht heute die Lage der Witwen aus?

DM : Also die Ashrams gibt es immer noch, und in Varasani und anderswo sind sie recht zahlreich. Es gibt keine Kinderwitwen mehr, und junge Witwen müssen im Ashram ihr Haar nicht abrasieren.

Gegen die schlechte Behandlung von Witwen gibt es natürlich Opposition, aber die ist noch nicht sehr weit entwickelt. Wenn es den Witwen dauerhaft besser gehen soll, dann brauchen sie wirtschaftliche Unabhängigkeit und eine Atmosphäre, die sie davon überzeugt, dass sie, falls sie den Ashram verlassen, nicht als schlechte Hindus gebrandmarkt werden.

RP : Was ist die wichtigste Erkenntnis, die Sie den Leuten mit dem Film gerne mitgeben wollen?

DM : Für mich ist das Wesentliche an diesem Film, dass er den Unterschied zwischen Gewissen und Glauben auslotet. Die Menschen müssen auf sich selbst hören und ehrlich mit sich sein, statt intolerante Ideologien zu akzeptieren, die mit ihrem moralischen Gewissen und der Realität des Lebens in Konflikt stehen.

RP : Was erwarten Sie, welche Auswirkungen wird der Film in Indien haben?

DM : Das weiß ich nicht. Es ist schwer, zweitausend Jahre aufgezwungene Dressur auszulöschen, und ganz offensichtlich wird ein Film das nicht schaffen. Fire, Earth und Water handelten im Wesentlichen von dem Konflikt zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit und der religiösen Tradition, oder zumindest den rückständigsten Formen dieser Traditionen. Wenn ich in dieser Richtung gewisse Fortschritte erreicht habe, dann bin ich zufrieden.

Indien hat sich in gewisser Hinsicht verändert, seitdem die BJP-Partei die Wahlen verloren hat, und jetzt ist die Kongresspartei an der Regierung. Indien wird heute als Nuklearmacht und Software-Riese bejubelt, und da ist auch Bollywood, und die großen Konzerne kommen ins Land, um die Billiglohnarbeit auszunutzen. Das ist mir alles ziemlich unheimlich, denn obwohl einige Inder damit viel Geld machen werden, wird die große Mehrheit nichts davon haben, und für die untersten Schichten wird sich nicht viel ändern. Die Menschen ohne Ausbildung werden nicht davon profitieren, sie werden dadurch nicht zu sauberem Wasser und vernünftigen Häusern kommen.

Vor kurzem war Bush auf der Titelseite von Newsweek mit einer Schlagzeile abgebildet, die in etwa "India Rising" [Indien steigt auf] lautete. Aber was heißt das alles, und wo wird es hinführen? Wird ein Land darüber definiert, wie viele Autos es hat oder wie viele Kernkraftwerke, Millionäre oder teure Nachtlokale? Sie haben uns jahrelang ignoriert, und jetzt auf einmal gibt sich die US-Regierung so vertraulich. Warum?

RP : Als Sie Earth drehten - das war noch vor dem 11. September und dem so genannten Krieg gegen den Terrorismus - da versuchten Sie, die Konsequenzen von Nationalismus und sektiererischer Gewalt darzustellen. Wie sehen Sie die Situation heute?

DM : Offensichtlich ist das noch wesentlich schlimmer als die Fragen, mit denen ich mich in Water befasst habe, aber der Fundamentalismus nimmt überall zu, das ist nicht nur eine indische Frage. Schauen Sie sich heute mal die USA an: Die christlichen Fundamentalisten sitzen direkt im Weißen Haus. Ich mache mir große Sorgen über die Entwicklung.

Wenn die Macht der Religion für persönliche oder politische Vorteile benutzt wird, ist das äußerst zerstörerisch. Dies ist das mächtigste Instrument, das die Politiker haben, um die Menschen zu spalten und ihre Ziele durchzusetzen. Man spricht von biologischer Kriegsführung [Krieg durch Verbreitung von Keimen], aber dies sind die schlimmsten Keime, die uns bedrohen, und sie werden täglich von Politikern auf der ganzen Welt verbreitet.

RP : Wie sollten Filmemacher darauf reagieren?

DM : Filme sind sehr mächtige Werkzeuge, sie sollten zum Wohl der Mehrheit eingesetzt werden, obwohl ich nicht sicher bin, ob sie all das ändern können, was wir möchten - das ist ein viel komplizierterer Prozess. Aber Filme können die Menschen dazu auffordern, nachzudenken und dazu beitragen, etwas vom Aberglauben und der Ignoranz zurückzudrängen.

Regisseure mit Einfluss, ob das Spielberg, Clooney oder wer auch immer ist, sollten ihre Fähigkeiten einsetzen, um zu unterhalten und zu erziehen und eine andere Sichtweise der Dinge zu zeigen als die Massenmedien und Regierungen.

RP : Ihr nächstes Projekt?

DM : Mein nächster Film heißt Exclusion [Ausschluss], und ich bin sicher, das Thema wird Ihnen gefallen.

Es ist eine wahre Geschichte, und sie handelt von einer Gruppe Inder - Sikhs, Hindus und Moslems - die versuchten, nach Kanada auszuwandern. Sie trafen 1914 auf einem japanischen Kohleschiff namens Kamagata Maru ein, aber, wie viele andere vor ihnen, verwehrte ihnen die rassistische Einwanderungspolitik die Einreise. Sie gingen dann vor Gericht und versuchten, Asyl zu bekommen. Es dauerte zwei Monate, sie verloren, und sie wurden nach Indien zurückgeschickt.

Als sie in Kalkutta von Bord gingen, eröffnete die britische Armee das Feuer auf sie und tötete die meisten. Einer der Überlebenden ging schließlich nach Kanada zurück und erschoss einen Einwanderungsbeamten, der für die Zurückweisung der Gruppe verantwortlich war. Es ist eine unglaubliche Geschichte.

Siehe auch:
Water - Drehbuch und Regie von Deepa Mehta
(4. November 2006)
Appell des World Socialist Web Site : Stoppt die Angriffe der Hindu-Extremisten auf die indische Filmemacherin Deepa Mehta
( 14. März 2000)
Loading