Derzeit läuft in verschiedenen Städten Deutschlands der Film "Neue Wut", eine sehenswerte Dokumentation über die Hartz-IV-Proteste. Obwohl der Regisseur Martin Keßler seit vielen Jahren für die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD, ZDF, WDR, HR und Arte Dokumentationen dreht, wird "Neue Wut" nicht im Fernsehen gezeigt. Sein neuester Film kann daher nur auf Initiative von Keßler selbst und verschiedenen sozialen Organisationen einem kleinen Publikum vorgeführt werden (Termine sind unter www.neuewut.de zu erfahren).
Martin Keßler dokumentiert mit seiner Arbeit die tiefe Kluft zwischen der Bundesregierung und der Bevölkerung. "Gibt es eine neue soziale Bewegung?" war die Frage, die den Frankfurter Regisseur zu Beginn seiner dokumentarischen Filmarbeit bewegt hatte. Keßler hatte dazu seit dem Frühjahr 2003 Filmmaterial gesammelt, soziale Proteste und deren Teilnehmer begleitet. Schließlich entstand aus rund 200 Stunden Filmmaterial ein 90-minütiger Film, der die Anti-Hartz-Proteste vom August letzten Jahres bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai dieses Jahres begleitet. Der Dokumentarfilmer war zudem bei den streikenden Opel-Arbeitern in Bochum im Oktober 2004.
Keßler lässt sowohl die Betroffenen, die Protestteilnehmer und -organisatoren als auch die verantwortlichen Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführer zu Wort kommen.
So begleitet er die arbeitslose und alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern, die Frankfurterin Barbara Willmann, über ein Jahr. Kessler zeigt, wie die ehemalige Büroangestellte auf die Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung geht, nebenbei im Altkleiderladen der Caritas arbeitet, wie sie ihren Hartz-IV-Fragebogen ausfüllt, bei der Arbeitsagentur abgibt und schließlich den Bewilligungsbescheid für das Arbeitslosengeld II erhält.
Diese Bilder sind teilweise erschütternd. So wenn sie beim Arbeitsamt angeben muss, welche Zinseinnahmen sie hat. Da wären zunächst die 13 Euro Ausschüttung im letzten Jahr von den Aktien, die sie immer noch besitzt. "Aus der Zeit, als ich noch zur arbeitenden Bevölkerung gehörte", sagt Barbara Willmann. Einmal im Jahr durften sich Mitarbeiter zwei Aktien des Unternehmens zum halben Preis kaufen. Die jährlich 13 Euro werden selbstverständlich als Einkommen angerechnet.
Auch die Zinsen ihres Sparguthabens in Höhe von 165,91 Euro, etwa 30 Cent, werden angerechnet. Und die Sparbücher ihrer Töchter werfen schließlich auch Zinsen ab. Je 20 Euro Sparguthaben - macht "1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 oder 9 Cent" im Jahr, glaubt Frau Willmann. Die Bescheinigung über diese Zinseinnahmen müsse sie noch nachreichen, sagt die Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur. Martin Keßler fragt sie, ob es nicht eine Art Geringfügigkeitsgrenze gäbe. "Bei der Arbeitslosenhilfe gab es eine solche Grenze", antwortet sie, "das waren 0,07 Cent pro Woche." Aber sie wisse noch nicht, ob diese Regelung auch beim Arbeitslosengeld II existiere. Das müsse sie überprüfen. Keßler scheint ihr aus dem Herzen gesprochen zu haben, als er bemerkt, der bürokratische Aufwand stehe doch in keinem Verhältnis. "Aber wir werden ja auch geprüft", fügt sie hinzu, "und da möchte ich alles richtig machen."
Schnitt - und der zuständige Bundesminister Wolfgang Clement (SPD) parliert von "weniger Bürokratie" und davon, dass "jetzt endlich die Vermittler der Arbeitsagenturen durch den Bürokratieabbau den Spielraum haben, um den Menschen wieder helfen zu können".
Diese Gegenüberstellung der Phrasen Clements und der Wirklichkeit wendet Keßler häufiger an. So zeigt er den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit am 5. Januar 2005 in der Arbeitsagentur im ostdeutschen Wismar. "Das haben sie toll hingekriegt", gratuliert er den peinlich berührten Angestellten. Es sei doch toll, dass "alle ihr Geld bekommen haben" und "niemand abgestürzt" sei.
Anschließend zeigt Keßler ihn auf Stippvisite im Flur. "Was haben Sie gelernt", fragt Clement einen Arbeitslosen. Auf die Antwort "Schlosser" fragt der Minister verdutzt: "Und da kriegen Sie keinen Job?" Kopfschütteln. "Handwerk auch nicht?" Wieder ungläubiges Kopfschütteln. Clement tut dann das, was er am besten kann. Er spricht in die Kamera von wirtschaftlichem Aufschwung und den Möglichkeiten der besseren Vermittlung als Garanten, dass es wieder bergauf geht. Clement entfernt sich, und Keßler fragt den Schlosser, ob er jetzt Hoffnung habe, nachdem was der Minister gerade gesagt habe. Der Mann beginnt zu weinen. "30 Jahre habe ich gearbeitet. Sport getrieben. Und jetzt gehört man zum alten Eisen. So was Ungerechtes", entfährt es ihm.
Barbara Willmann weint (noch) nicht. Sie erhält ab Januar 2005 für sich und ihre zwei jugendlichen Töchter 915,13 Euro, 50 Euro weniger im Monat als zuvor. Im Altkleiderladen der Caritas arbeitet sie jetzt nicht mehr wie früher für 6 Euro die Stunde, sondern für 1,50 Euro. "Auf dem Arbeitsamt hat man mir gesagt, ich könne doch noch zufrieden sein", berichtet die Alleinerziehende. Man hätte sie auch "nach Fechenheim zum Laubharken" schicken können. Dorthin hätte sie eine An- und Abfahrt von jeweils einer Stunde gehabt.
"Man versucht sich nicht zu ärgern", versucht sie zu erklären, "weil das Magengeschwür, das man dann hat, schadet noch mehr."
Keßler ist auch bei Andreas Ehrholdt aus Magdeburg, dem Initiator der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Er zeigt den schließlich erfolglosen Kampf, den der Arbeitslose gegen die Bundesregierung und die Agenda 2010 geführt hat, spürt den Widrigkeiten der Demonstrationsorganisation und der zermürbenden Auseinandersetzung mit der MLPD ebenso nach wie dem Versuch, eine eigene Partei zu gründen ("Freie Bürger für Soziale Gerechtigkeit"). Zum Schluss sagt Ehrholdt, der inzwischen Arbeitslosengeld-II-Empfänger ist und immer noch bei seinen Eltern wohnen muss, eine wichtige Erfahrung sei: "Solidarität existiert immer noch. Das lässt hoffen."
Der Regisseur begleitet ebenso Paul Fröhlich, Opelarbeiter aus Bochum. Dass der Protest von ihm und seinen Kollegen so heftig ausgefallen sei, dass sei auch auf die Diskussion um Hartz IV zurückzuführen, sagt der Opel-Arbeiter. Auch er kann im Mai 2005, das Hartz-IV-Gesetz und der Arbeitsplatzabbau bei Opel sind inzwischen durchgesetzt, nur ein einziges positives Resümee ziehen: Die Solidarität war groß.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat mit den Protestierenden keine Solidarität gezeigt. Da Keßler auch mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer mehrere Gespräche geführt hat, kann er zeigen, warum der DGB sich nicht den Protesten angeschlossen hat. Sommer ist da gerade heraus: "Wenn wir einen anderen Weg gegangen wären, wäre die Gewerkschaftsbewegung insgesamt gespalten worden, dauerhaft. Diesen Preis konnte und wollte ich nicht zahlen." Einem großen Teil der Gewerkschaftsfunktionäre sei die SPD näher als die Proteste gegen Hartz IV, also die jetzigen und künftigen Arbeitslosen. "Wäre das gleiche unter einer CDU-geführten Koalition gelaufen, wären die Proteste anders gewesen, mit Sicherheit", ergänzt er.
Die Gewerkschaften wollten um jeden Preis verhindern, dass der soziale Protest außer Kontrolle gerät und die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft erschüttert. "Wenn wir mit der Macht, mit der wir den 3. April organisiert haben, die Montagsdemonstrationen begleitet hätten, dann würden wir jetzt in einem anderen Land leben. Das hätte eine andere soziale Dimension gehabt." Am 3. April 2004 waren eine halbe Million Menschen, weitaus mehr als erwartet, dem Aufruf des DGB gefolgt, gegen Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau zu demonstrieren.
Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer sagt damit nichts anderes, als dass er die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der eigenen Mitglieder dem Erhalt der SPD und der bestehenden Ordnung - Sommer würde dies "den sozialen Frieden" nennen - unterordnet.
Der Film lässt somit kein gutes Haar an der Bundesregierung und dem DGB. Genauso wenig vertraut Keßler augenscheinlich auf Oskar Lafontaine, dem er entgegenhält, er handele nicht aus Sorge um die Arbeitslosen, sondern aus eigenen machtpolitischen Interessen. Lafontaine teste nur aus, wie er ankomme und ob eine neue Bewegung links von der SPD trage. "Die Führungsrolle bei den Anti-Hartz-Protesten will er nicht übernehmen", so der Filmsprecher. Bei der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), Attac und auch Gregor Gysi (PDS) ist er zurückhaltender und weniger kritisch.
Der Grund ist nahe liegend: War er vor zwei Jahren gestartet, um eine Antwort auf die Frage nach der Existenz einer neuen sozialen Bewegung zu suchen, ist er inzwischen - nicht zuletzt durch seine Arbeit - zur Frage nach der notwendigen politischen Ausrichtung der Bewegung gekommen. Auf einer Diskussion im Anschluss an eine Filmvorstellung in Oberhausen sagte Keßler, er gehe davon aus, dass mit der nächsten Regierung eine neue Offensive gegen den Sozialstaat starte. Er befürchte, dass "die Bevölkerung nicht vorbereitet ist".
Sein Film lässt dies in der Tat deutlich werden. Neben der enormen Wut und Empörung dokumentiert er auch große politische Verwirrung unter den Protestierenden. So haben alle Proteste nicht dazu geführt, dass die Berliner Regierung auch nur einen Zentimeter von ihrer Agenda 2010 abgerückt ist. Keßler fragte daher im Laufe der Diskussion: "Welche politische Strategie braucht die Bevölkerung?" Er selbst sucht noch eine Antwort.
Martin Keßler hat einen Dokumentarfilm über die Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse produziert. Doch die Beschränkung auf die Bewegung und ihrer Protagonisten liefert nicht die Antwort auf seine Frage nach der "politischen Strategie". Diese wird erst klarer in der Auseinandersetzung mit der Frage, woher die Angriffe auf die sozialen Rechte der Arbeiterklasse kommen. Warum führen die rot-grüne Regierung und die Wirtschaft die Offensive gegen die sozialen Errungenschaften der Bevölkerung? Warum wollen und können die Gewerkschaften, WASG und PDS sowie Organisationen wie Attac dem nichts entgegensetzen?
Dann würde deutlich, dass die Gründe dafür in der Globalisierung der Produktion, den nationalstaatlichen Konzepten und der Verteidigung der kapitalistischen Gesellschaft durch die oben genannten Parteien und Organisationen liegen. Dann würde deutlich, dass die Antwort in einer internationalen sozialistischen Perspektive liegt. Doch das wäre Stoff für einen weiteren Film.
Mit "Neue Wut" kommt Martin Keßler das Verdienst zu, bewusst gemacht zu haben, dass es bei den zahlreichen Protesten an einer tragfähigen Perspektive und nicht an Wut, Empörung, Solidarität oder Einsatz gemangelt hat. Sein Film rückt die Frage nach einer politischen Strategie der arbeitenden Bevölkerung in den Mittelpunkt der Diskussion um die Agenda 2010 und die nach der Bundestagswahl zu erwartenden Angriffe. Das ist nicht wenig.