Die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags durch die französischen Wähler hat die herrschenden Kreise Frankreichs und Europas in eine tiefe Krise gestürzt. Die vollen Auswirkungen des Schocks werden erst in den kommenden Wochen und Monaten sichtbar werden.
Obwohl Präsident Jacques Chirac, die Regierungsparteien, die großen Oppositionsparteien und die Medien alle verfügbaren Mittel einsetzten, um ein Ja zu erreichen, wurde die Verfassung mit einer eindeutigen Mehrheit von 55 Prozent abgelehnt. Die Wähler erteilten damit dem gesamten Kurs der gesellschaftspolitischen Entwicklung eine unmissverständliche Absage. Selbst Chirac musste in seiner ersten Stellungnahme eingestehen, dass sich Frankreich "demokratisch entschieden" und "eine souveräne Entscheidung" getroffen habe.
Dominique Strauss-Kahn, führendes Mitglied der Sozialistischen Partei und ein Wortführer des Ja-Lagers, führt das Scheitern der Verfassung auf die Auswirkungen von "Angst" und "Demagogie" zurück. Doch wenn es irgendwo Angst gab, dann im Lager der Befürworter. Diese standen unter einem starken Druck von Seiten der Bevölkerung und reagierten darauf mit Einschüchterungsversuchen und Drohungen.
So warnte Außenminister Michel Barnier, mit einem negativen Votum stelle sich Frankreich "ins Abseits" und falle "in die zweite Liga" zurück, während Innenminister Dominique de Villepin das Schreckgespenst eines von Immigranten überfluteten Landes an die Wand malte, falls die Verfassung und die darin enthaltenen Regelungen zur Abschottung der EU-Außengrenzen scheitern sollten.
Das Nein ist das Ergebnis einer breiten politischen Mobilisierung, die in den letzten vier Wochen einen erstaunlichen Umfang annahm. Hunderttausende besuchten die zahlreichen Versammlungen für und gegen die Verfassung, Fernsehdiskussionen fanden ein Millionenpublikum. Schließlich herrschte im Land eine Wahlkampfstimmung, wie man sie sonst nur von Parlaments- oder Präsidentenwahlen kennt. Bei vielen Wählern hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, sie könnten durch ihr Votum einer unerwünschten gesellschaftlichen Entwicklung einen Riegel vorschieben.
Je breiter sich die politische Mobilisierung entwickelte, desto stärker traten die so genannten "Angstthemen" der extremen Rechten, wie Immigration und Fremdenfeindlichkeit, in den Hintergrund und soziale und politische Themen in den Vordergrund. Der neoliberale und undemokratische Charakter der Verfassung stand im Mittelpunkt der Nein-Kampagne. Sie richtete sich nicht gegen "Europa", sondern gegen eine unsoziale, reaktionäre Verfassung. Während das Ja-Lager für "ein starkes Frankreich" warb, lautete die populärste Parole im Nein-Lager: "Für ein anderes Europa".
Die Spaltung zwischen den beiden Lagern entsprach der sozialen Spaltung des Landes. Drei Viertel der Arbeiter, zwei Drittel der Angestellten und die Mehrheit der Landwirte stimmten mit Nein, Angehörige der Mittel- und Oberschichten dagegen mehrheitlich mit Ja.
Ein politischer Scherbenhaufen
Nach dem Scheitern des Referendums steht die herrschende Elite Frankreichs vor einem innen- und außenpolitischen Scherbenhaufen.
Für Präsident Chirac bedeutet die Ablehnung der Verfassung eine herbe persönliche und politische Niederlage, die größte seit seiner Amtsübernahme vor zehn Jahren. Das Auswechseln des Premierministers wird diese Krise nicht lösen. Chirac hat die Wahl zwischen einem engen Vertrauten - Dominique de Villepin oder Michèle Alliot-Marie - und seinem schärfsten innerparteilichen Rivalen, dem UMP-Vorsitzenden Nicolas Sarkozy, der einem französischen Thatcherismus das Wort redet. Egal wie er sich entscheidet, werden die Grabenkämpfe innerhalb des Regierungslagers zunehmen und dessen Unbeliebtheit wird weiter wachsen.
Größter Wahlverlierer ist allerdings nicht Chirac oder die UMP, sondern die Sozialistische Partei. Sie wurde durch das Referendum mittendurch gespalten. Führende Sozialisten spielten im Ja-Lager und im Nein-Lager die Hauptrolle und bekämpften sich gegenseitig erbittert. Hatten im Dezember bei einer parteiinternen Abstimmung noch 60 Prozent der Mitglieder mit Ja und 40 Prozent mit Nein votiert, war beim Referendum das Verhältnis unter den Anhängern der Partei umgekehrt. Eine Spaltung der Partei ist durchaus möglich.
Die gegenwärtige Führungsriege unter François Hollande, die ihren politischen Aufstieg Lionel Jospin verdankt, hat sich durch ihr vehementes Eintreten für die unpopuläre Verfassung stark diskreditiert. Jospin selbst, der sein dreijähriges Schweigen brach, um für die Verfassung zu werben, hat seinen Ruf als "linker" Sozialist endgültig verspielt.
Aber auch die Verfassungsgegner innerhalb der Sozialistischen Partei sind zu tief in die rechte Politik früherer sozialistischer Regierungen verstrickt, um als glaubwürdige Alternative auftreten zu können. Dasselbe trifft auf die Vorsitzende der Kommunistischen Partei Marie-George Buffet zu, die als Sportministerin im Kabinett Jospin saß. Die "linken" Sozialisten sind zudem untereinander tief zerstritten.
Der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein internationales Phänomen. Es ist bezeichnend, dass zahlreiche Sozialdemokraten aus Deutschland und Spanien, einschließlich der Regierungschefs Schröder und Zapatero, in Frankreich für die unpopuläre Verfassung warben. In Deutschland selbst hat die SPD nach der elften verheerenden Wahlniederlage in Folge beschlossen, abzutreten und den Weg für die Konservativen frei zu machen.
Die Krise der französischen Regierung entwickelt sich so unter Umständen, unter denen der Weg blockiert ist, auf dem solche Krisen in parlamentarischen Demokratien normalerweise gelöst werden - die Ablösung der Regierung durch die Opposition. Das wird zwangsläufig zur Folge haben, dass sich die politische Krise vertieft und bösartigere Formen annimmt.
Lähmung der Europäischen Union
In der Außenpolitik hat das Scheitern der Verfassung einen Grundpfeiler der französischen Strategie der letzten fünfzig Jahre in Trümmer gelegt.
Seit Jean Monnet und Maurice Schuman 1950 die Initiative zur Bildung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) ergriffen, hat Frankreich bei der wirtschaftlichen Integration Europas gemeinsam mit Deutschland die führende Rolle gespielt. Der jetzt gescheiterte Verfassungsvertrag wurde vom ehemaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing ausgearbeitet, der an der Spitze des europäischen Verfassungskonvents stand. Er sollte den krönenden Abschluss des europäischen Einigungsprozesses bilden und die wirtschaftliche durch die politische Integration ergänzen. Europa - und damit Frankreich - sollte durch die Verfassung in die Lage versetzt werden, auf der internationalen Bühne mit einer Stimme aufzutreten, eine führende Rolle zu spielen und den USA ebenbürtig entgegenzutreten.
Diese Pläne liegen nun erst einmal auf Eis, wenn nicht sogar eine Rückwärtsentwicklung einsetzt. Der amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker (Luxemburg) hatte am Vorabend der Abstimmung ein mögliches Nein noch als "eine Katastrophe für Frankreich, für Chirac und für die ganze Welt" bezeichnet.
Nun versucht er zu beschwichtigen. "Europa geht weiter und seine Institutionen funktionieren. Wir sind uns der Schwierigkeiten bewusst, aber wir sind zuversichtlich, dass wir wieder einmal eine Möglichkeit finden, Europa voranzubringen", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von Juncker, EU-Kommissionspräsident Barroso und EU-Parlamentspräsident Borrell zum Ausgang des französischen Referendums.
Wie diese Möglichkeit, Europa voranzubringen, aussehen soll, steht allerdings in den Sternen. Ein Scheitern der Verfassung in Holland, wo am Mittwoch über die Verfassung abgestimmt wird, ist so gut wie sicher, und in Großbritannien wird Regierungschef Blair das angekündigte Referendum wohl gar nicht mehr abhalten. Der absehbare Machtwechsel in Deutschland, wo im September vorgezogenen Neuwahlen stattfinden, droht zudem das Verhältnis zwischen Paris und Berlin abzukühlen, die bisher den Motor der Europäischen Union bildeten. Die Kanzlerkandidatin der CDU, Angela Merkel, hat Schröders Konfliktkurs zu Washington im Bündnis mit Chirac wiederholt kritisiert.
Auch in den USA selbst verschärft sich die wirtschaftliche und politische Krise. Die Besatzung des Irak entwickelt sich zu einem auswegslosen Desaster und das Haushalts- und Außenhandelsdefizit ist längst außer Kontrolle geraten. Die amerikanische Regierung wird in Zukunft noch stärker dazu neigen, ihre Probleme unilateral, auf Kosten ihrer europäischen Rivalen und durch neue militärische Interventionen zu lösen.
Die Lähmung der Europäischen Union auf der einen und der verstärkte amerikanische Druck auf der deren Seite werden auch in Europa die Tendenz zu außenpolitischen Alleingängen und militärischen Abenteuern verstärken. Eine Option, die bereits heftig diskutiert wird, ist die Herausbildung eines Kerneuropa unter deutsch-französischer Führung, das sich vom lähmenden Einfluss der pro-amerikanischen Briten und Osteuropäer befreit.
Hier vermischen sich die Fronten zwischen Gegnern und Befürwortern der Verfassung. Einer der aggressivsten Vorstöße in diese Richtung stammt von einem Verfassungsgegner, von Jacques Nikonoff, dem Präsidenten von Attac-Frankreich. In einem Beitrag für Le Monde, der den uneingeschränkten Beifall General De Gaulles gefunden hätte, wirft Nikonoff der "monströsen institutionellen Konstruktion der Verfassung" vor, sie ziele darauf ab, "die französisch-deutsche Dynamik zu ersticken".
Völlig ungeniert fällt der Chef der französischen Globalisierungsgegner über Großbritannien her, das in der EU "auf dem Notsitz hockt", alle Initiativen blockiert und vor allem "atlantisch orientiert" ist; über "die drei alten faschistischen Diktaturen (Spanien, Portugal und Griechenland)", die "der Union enorm viel verdanken", "ständig europäische Gelder bekommen", aber "die EU nur als Schalter für ihre eigenen Entwicklungsbedürfnisse und nicht als Schicksalsgemeinschaft betrachten"; und schließlich über die Neumitglieder aus dem ehemaligen Warschauer Pakt. Diese hätten sich anstatt der EU den USA zugewandt. "Als ihnen der Irakkrieg eine Möglichkeit bot, ihre Bindung an Europa zu beweisen, haben sie das falsche Lager gewählt."
Nikonoffs Artikel gipfelt in einer Lobeshymne auf "das deutsch-französische Paar und Benelux": "Hier befindet sich der Motor der Union, künftig ertränkt in diesem zähen Schlamm [der Verfassung]. ... Bei einem ehrgeizigen politischen Projekt braucht die Macht die entsprechenden Attribute. Die Union besitzt sie nicht."
Ähnlich argumentiert Laurent Fabius vom rechten Flügel der Sozialistischen Partei, der sich öffentlich gegen die Verfassung ausgesprochen hat. Auch in der Bürgerbewegung Jean-Pierre Chevènements und der Kommunistischen Partei, die sich stets gaullistischer als die Gaullisten gab, wenn es um die Verteidigung französischer Interessen ging, könnte ein derartiger Kurs Anklang finden.
Politische Aufgaben
Die Ablehnung der Verfassung hat wichtige politische Fragen aufgeworfen, aber nicht gelöst. Die herrschenden Kreise werden ihre Niederlage nicht kampflos hinnehmen. Der Druck der Weltwirtschaft und die wachsende Konfrontation mit den USA treibt sie zu neuen Angriffen auf die Arbeiterklasse.
Während Chirac Verständnis für die Entscheidung der Wähler heuchelte, hielten andere Vertreter des Regierungslagers trotzig an ihrer Unterstützung für die Verfassung fest. Er sei stolz, dass er sie verteidigt habe, erklärte Francois Bayrou, Chef der liberalen UDF. Er forderte einen sofortigen, grundlegenden Politikwechsel.
Auch der UMP-Vorsitzende Nicolas Sarkozy interpretierte das Ergebnis des Referendums als Mandat für eine grundlegende "Reform" Frankreichs. Seine erste Stellungnahme nach Bekanntwerden des Ergebnisses glich einer Bewerbung um das Amt des Regierungschefs. Selbst ein Rücktritt des Präsidenten, den Sarkozy beerben möchte, kann nicht ausgeschlossen werden, sollte sich die Krise weiter verschärfen.
Der größte Trumpf des Präsidentenlagers besteht darin, dass die Arbeiterklasse weder über eine eigene politische Orientierung und noch über eine unabhängige Partei verfügt. Die Rolle der sogenannten "Linken" - vom linken Flügel der Sozialistischen Partei über die Kommunistische Partei bis hin zur Ligue Communiste Révolutionnaire - besteht darin, eine solche Entwicklung zu unterbinden. Sie schüren die Illusion, die herrschenden Kreise könnten durch Druck von unten zu einer grundlegend anderen Politik gezwungen werden, und klammern sich an deren "linken" Flügel.
Die LCR bemüht sich um ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei, die ein Zusammengehen mit dem linken Flügel der Sozialistischen Partei anstrebt, der seinerseits nach dem Parteirechten Laurent Fabius schielt. Dabei kann es keinen Zweifel geben, wohin ein Laurent Fabius, ein Henri Emmanuelli (SP) oder eine Marie-George Buffet (KP) gehen würden, sollten sie politischen Einfluss erlangen. Sie sind allesamt bürgerliche Politiker, die den französischen Staat und die kapitalistische Ordnung verteidigen.
Man erinnere sich an François Mitterand, der in den 1970er Jahren ähnliche linke Töne von sich gab, bis er 1982, kaum ein Jahr im Präsidentenamt, einen abrupten Rechtsruck vollzog. Einer seiner damaligen Premierminister war Laurent Fabius, der heute seine Fühler zu den linken Verfassungsgegnern ausstreckt. Auch Lionel Jospin pflegte einen Nimbus als "Linker", bevor er sich als Regierungschef als ganz normaler bürgerlicher Politiker entpuppte.
Die Rechte und Errungenschaften der Arbeiterklasse können nur im Rahmen eines sozialistischen Programms verteidigt werden, das die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Frage stellt. Nur im Kampf für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa können die Spaltung des Kontinents in rivalisierende Nationalstaaten überwunden und seine gewaltigen Reichtümer und Produktivkräfte im Interesse der gesamten Gesellschaft genutzt und weiterentwickelt werden.