Während der vergangenen Wochen hat in Frankreich eine intensive Auseinandersetzung über das Referendum vom 29. Mai stattgefunden. An diesem Tag entscheiden die Wahlberechtigten über Annahme oder Ablehnung der Europäischen Verfassung. Aber die Debatte bewegt sich ausschließlich im Rahmen der offiziellen bürgerlichen Politik. Es gibt darin nicht die Spur einer unabhängigen Perspektive, die es der Masse der Bevölkerung erlauben würde, ihre Anliegen und Interessen geltend zu machen.
Das Ja-Lager wird von den Spitzen des politischen Establishments angeführt - von Präsident Chirac und seinen Anhängern in der UMP auf der einen und der Führung der Sozialistischen Partei unter François Hollande auf der anderen Seite. Auch die liberale UDF, die dem Regierungslager angehört, sowie die Grünen machen sich für die Verfassung stark.
Die Sozialistische Partei, die unter Präsident Mitterrand und EU-Kommissionspräsident Jacques Delors noch als die französische Europapartei galt, ist in der Referendumsfrage tief gespalten. Der ehemalige Premierminister Laurent Fabius, ein Vertreter des rechten Parteiestablishments, sowie die Abgeordneten Henri Emmanuelli und Jean-Luc Mélenchon, die dem linken Parteiflügel zugerechnet werden, werben für ein Nein. Bei einer parteiinternen Abstimmung Ende vergangenen Jahres hatten sich 40 Prozent der Mitglieder gegen die Verfassung ausgesprochen.
Auch im Regierungslager gibt es erhebliche Spannungen. Die UMP tritt zwar mit Ausnahme einer kleinen Dissidentengruppe weitgehend geschlossen für die Annahme der Verfassung ein, aber ihre beiden wichtigsten Vertreter, Präsident Jacques Chirac und Parteichef Nicolas Sarkozy, begründen dies mit völlig gegensätzlichen Argumenten.
Das Nein-Lager besteht auf der einen Seite aus der extremen Rechten. Diese bezeichnet die EU als Bedrohung der französischen Nation und hat eine rassistisch gefärbte Kampagne gegen die Aufnahme der Türkei in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gestellt.
Auf der anderen Seite stellt sich ein breites linkes Bündnis gegen die Verfassung, das vom Minderheitsflügel der Sozialistischen Partei über die Souveränisten Jean-Pierre Chevènements, die Globalisierungsgegner von Attac und die Kommunistische Partei bis zur Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) reicht.
Als Präsident Chirac am 14. Juli letzten Jahres, dem französischen Nationalfeiertag, ein Referendum über die europäische Verfassung ankündigte, hatte er nicht damit gerechnet, dass dieses scheitern könnte. Die Meinungsumfragen standen Zwei zu Eins für die Verfassung. Mit dem Referendum wollte er seine Popularität erhöhen, nachdem das Regierungslager bei Europa- und Regionalwahlen empfindliche Niederlagen erlitten hatte. Doch seither hat sich die Stimmung gedreht. Umfragen haben zeitweilig bis zu 60 Prozent für ein Nein ausgewiesen, und der Ausgang der Abstimmung ist weiterhin völlig offen. Dieser Stimmungswandel ist in erster Linie auf die Angst vor den wirtschaftsliberalen Auswirkungen der Verfassung und auf die weitverbreitete Opposition gegen die Sozialpolitik der Regierung Chirac-Raffarin zurückzuführen
Das Ja-Lager
Die Befürworter der Verfassung appellieren unverhohlen an den französischen Chauvinismus und nicht an irgendwelche europäischen Ideale. Das Schicksal anderer europäischer Völker spielt in der Kampagne keine Rolle. Ihr Kernargument lautet, nur im Rahmen der Europäischen Union könne sich ein starkes Frankreich behaupten und der amerikanischen Herausforderung die Stirn bieten.
Außenminister Michel Barnier, ein enger Vertrauter Chiracs, hat unverblümt erklärt, bei dem Referendum könnten die Franzosen entscheiden, ob sie ein "europäisches Europa" oder ein "Europa unter amerikanischem Einfluss" wollten. Werde die Verfassung abgelehnt, so verliere Frankreich international an Einfluss.
UDF-Chef François Bayrou äußerte sich noch deutlicher. In einem Interview nach den Gründen für ein Ja gefragt, antwortete er: "Wir brauchen gegenüber den USA, China und den sich herausbildenden Mächten ein einiges und starkes Europa. Sehen sie sich den enormen Druck Chinas an. Betrachten sie die amerikanische Vorherrschaft. Ohne Europa, ohne Verfassung befinden wir uns in einer Situation der Unterwerfung."
Der Sozialist Pierre Moscovici, Europaminister in der Regierung Jospin, schrieb in einem Beitrag für die Zeitschrift Politique Internationale, das erweiterte Europa werde "für Frankreich ein Multiplikator seines Einflusses sein". Er warnte: "Nachdem die Vereinigten Staaten George Bush eine unbestreitbare Führungsrolle übertragen haben, die in der Innen- wie in der Außenpolitik auf einer zutiefst reaktionären Grundlage beruht, wäre eine Schwächung Europas und die Zurückweisung der Verfassung absurd, ja selbstmörderisch. Europa in der Krise, gelähmt und gespalten, wäre ein unverhofftes - oder besser: erhofftes - Geschenk für eine amerikanische Regierung, die schon jetzt keine Grenzen ihrer Macht mehr kennt."
Im selben Sinne äußerten sich Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac in einer gemeinsamen Erklärung Ende April. Die Ratifikation der europäischen Verfassung sei "eine wichtige Etappe" um "das Gewicht Europas auf der internationalen Bühne zu behaupten", stellten sie fest.
Den Ängsten vor den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Verfassung treten die Befürworter mit dem Argument entgegen, nur eine starke Europäische Union könne das europäische Gesellschaftsmodell vor den Auswirkungen der Globalisierung schützen. Es ist das klassische Argument des Sozialchauvinismus. Das Interesse der Abeiterklasse nach sozialer Sicherheit wird dem Bemühen des französischen und europäischen Imperialismus, sein "Gewicht auf der internationalen Bühne zu behaupten", untergeordnet und von diesem abhängig gemacht. Mit derselben Logik - die Verteidigung des Vaterlandes bilde die Voraussetzung für den Kampf für Sozialismus - hatten die Sozialdemokraten im Ersten Weltkrieg Millionen Arbeiter auf die Schlachtfelder und in den ebenso sicheren wie sinnlosen Tod geschickt.
So erklärte der belgische Sozialistenführer Elio Di Rupo, der in der Zeitung le monde für die Verfassung warb, deren Scheitern würde das europäische "Modell der wirtschaftlichen Prosperität, des sozialen Schutzes und der kulturellen Vielfalt in die Hände Großbritanniens geben, das seine ultraliberalen Ansichten durchsetzen könnte. ... Das Entscheidungszentrum Europas würde in die Downing Street 10 verschoben."
Ins selbe Horn stieß UDF-Führer Bayrou, der erklärte: "Wir Europäer haben ein einmaliges Gesellschaftsmodell aufgebaut, das liberale solidarische Modell. Wir werden durch zwei härtere Modelle bedroht: den amerikanischen individualistischen Liberalismus und den totalitären Ultra-ultra-Liberalismus Chinas. Die Zukunft unseres europäischen Modells selbst steht bei dieser Konfrontation au dem Spiel."
Auch Chirac selbst ging auf die Ängste vor einer "ultraliberalen Entwicklung" ein. Am Rande eines deutsch-französischen Gipfeltreffens behauptete er, erst die Ablehnung der Verfassung werde zu einer solchen Entwicklung führen. Er brüstete sich, die berüchtigte Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen in Europa sei am französischen Widerstand gescheitert.
Das Nein-Lager
Die Argumente der Verfassungsgegner unterscheiden sich kaum von jenen der Befürworter. Auch sie sind für ein starkes Frankreich in einem starken Europa, lehnen aber die Verfassung ab, weil sie ihrer Ansicht nach den USA zu viel Einfluss auf die europäische Politik lässt. ihr. Sie sind zudem der Ansicht, dass Frankreich nicht gleichzeitig den USA die Stirn bieten und Krieg gegen die eigene Arbeiterklasse führen kann. Daher werben sie für eine reformierte Verfassung, deren wirtschaftsliberaler und unsozialer Charakter nicht ganz so offensichtlich ist, die den kapitalistischen und imperialistischen Charakter der Europäischen Union aber unangetastet lässt.
Laurent Fabius führt auf seiner Website "sechs Gründe für ein Nein" an. An erster Stelle rangieren drei offen chauvinistische Argumente: Die Verfassung habe "ein ohnmächtiges Europa", "ein geschwächtes Frankreich" und "blockierte Institutionen" zur Folge. Als Beleg für die Ohnmacht Europas führt er die Unterordnung der Verteidigungspolitik unter die US-dominierte Nato und die erforderliche Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen an. Die Schwächung Frankreichs begründet er damit, dass die Stimmengleichheit zwischen Frankreich und Deutschland aufgehoben werde, Frankreich ab 2014 kein Anrecht mehr auf einen ständigen EU-Kommissar habe und das französische Gewicht automatisch bei jeder Erweiterung reduziert werde. Die Blockade der Institutionen macht er daran fest, dass die Verfassung nur noch einstimmig (und damit kaum mehr) abgeändert und keine "europäische Avantgarde" gebildet werden könne.
Die anderen drei "Gründe für ein Nein" richten sich gegen die wirtschaftliberale Ausrichtung der Verfassung sowie gegen das Fehlen einer Politik des gesellschaftlichen Ausgleichs und einer aktiven Beschäftigungspolitik. Von Seiten Fabius’ ist das reine Demagogie. Er spielte nämlich persönlich eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Politik, die er nun kritisiert. Von 1984 bis 1986 hatte der damals Vierzigjährige als Mitterrands Premierminister eine strikte Austeritätspolitik betrieben. In den 90er Jahren hatte er die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza unterstützt, die Vorreiter der jetzigen Verfassung.
Fabius bekennt sich ausdrücklich zur EU, zu einem handlungsfähigen Europa und zur Stärkung der französisch-deutschen Achse. "Das französisch-deutsche Paar ist absolut entscheidend", sagte er in einem Interview mit France Inter. "Ich hätte meinerseits gewünscht, dass man sich auf eine französisch-deutsche Verteidigung zu bewegt, dass wir unsere Kräfte im IWF und der Weltbank zusammenschließen und gemeinsam den Entwicklungsländern helfen."
In der Humanité begründete er sein Eintreten für die Währungsunion damit, dass der Euro als "Instrument der Stabilität und der Macht im globalen Rahmen" diene. "Die Einheitswährung soll es der Europäischen Union, und damit Frankreich, erlauben, das monetäre Kräfteverhältnis mit den USA ins Gleichgewicht zu bringen."
Fabius tritt für eine Neuverhandlung der Verfassung ein und betont, dies sei im Falle einer Ablehnung durch mehrere Länder ausdrücklich vorgesehen. Wenn Frankreich die Verfassung ablehne, erhöhe dies seinen Einfluss bei einer Revision des Verfassungstextes. Dass es jemals zu solchen Neuverhandlungen kommen wird, ist allerdings höchst unwahrscheinlich. Das weiß auch Fabius. Seine Haltung läuft daher darauf hinaus, dass es besser sei, keine Verfassung zu haben, als eine Verfassung, die Frankreichs Macht beschränkt und den Entscheidungen einer Mehrheit unterwirft, die unter dem Einfluss Washingtons steht.
Die Befürworter der Verfassung in der Sozialistischen Partei erachten diese Haltung allerdings als hoch riskant. Lionel Jospin, der sich nach seiner Niederlage bei der Präsidentenwahl 2002 aus der Politik zurückzog, hat sein Schweigen gebrochen, um Fabius öffentlich entgegenzutreten. "Wenn man Europa will, dann muss man Ja zu Europa sagen, man sagt nicht Nein zu Europa", sagte er bei seinem ersten Fernsehauftritt seit drei Jahren.
Die Kommunistische Partei, die ich noch nie Skrupel hatte, einem ungehemmten französischen Nationalismus zu frönen, hat die Argumentation von Fabius weiter ausgefeilt. Sie stellt Frankreich als "Stimme der Völker", Vorkämpferin gegen den Wirtschaftsliberalismus und Verfechterin eines sozialen Europa dar und fordert auf dieser Grundlage mehr Macht und Einfluss für das Land.
"Die Ablehnung des Verfassungsvertrags durch Frankreich gäbe diesem die Möglichkeit, von einer starken Position aus einer anderen Stimme über die Richtung des europäischen Aufbaus Gehör zu verschaffen", begründet das Parteiorgan Humanité (28. April 2005) sein Eintreten für ein Nein. Die Zeitung beruhigt die Verfassungsbefürworter damit, dass Europa im Falle einer Ablehnung auf der Grundlage des Vertrags von Nizza fortbestehen werde - "mit Frankreich in seinem Herzen" und "mit dem Unterschied, das seine Stimme und seine Standpunkte nun besondere Aufmerksamkeit fänden".
Man habe es immer wieder gesehen, fährt die Humanité fort: "Wenn Frankreich den Mut findet, die Stimme der Völker im Konzert der internationalen Institutionen zu Gehör zu bringen, gewinnt es an Prestige und Einfluss." Als Beispiel werden die Opposition Chiracs gegen den Irakkrieg in der UNO und die Revision der Bolkestein-Direktive der Europäischen Kommission auf französisches Drängen angeführt.
Das KP-Organ geht sogar so weit, die Verfassung zu kritisieren, weil sie es den USA ermögliche, über die Nato die militärische Aufrüstung Europas zu torpedieren. "Jedes militärische Programm, das der Regierung der Vereinigten Staaten missfällt, könnte sofort durch die Staaten eingefroren werden, deren Verteidigung Washington über die Nato garantiert. Schon jetzt blockieren gewisse EU-Länder wie Großbritannien die Entwicklung der militärischen Verwendungsmöglichkeiten des satellitengestützten Positionierungssystems Galileo, die das Monopol des völlig von den Vereinigten Staaten kontrollierten Global Positioning System (GPS) brechen könnten."
Integraler Bestandteil des bürgerlichen Nein-Lagers ist die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR). Sie dient ihm als linkes Feigenblatt. Ihre Sprecher treten regelmäßig mit Vertretern der Sozialistischen und Kommunistischen Partei, Attac und den Souveränisten auf gemeinsamen Versammlungen gegen die Verfassung auf. Sie verzichten zwar selbst auf die nationalistische Rhetorik der Stalinisten und Sozialdemokraten und beschwören ein "Europa der Arbeiter". Aber das dient nicht dazu, die Sozialchauvinisten zu entlarven, sondern ihre Standpunkte zu beschönigen. Die LCR verzichtet auf jede Polemik gegen sie und ist bemüht, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Politik der bürgerlichen Verfassungsgegner und einem sozialistischen Programm im Interesse der Arbeiterklasse zu verwischen.
Sarkozy
Während die Wortführer des Ja-Lagers und die Wortführer des Nein-Lagers den französischen Staat gleichermaßen als Garant und Beschützer des "französischen Gesellschaftsmodells" gegen den "Ultraliberalismus" darstellen, vertritt Nicolas Sarkozy, Vorsitzender der UMP und Chiracs schärfster Rivale innerhalb der Partei, den entgegengesetzten Standpunkt. Le Figaro fasste die Differenzen zwischen Chirac und Sarkozy mit den Worten zusammen: "Es gibt das Ja von Chirac, gestützt auf das Lob des französischen Gesellschaftsmodells’, und das Ja von Sarkozy, das Europa als Hebel für die Reform Frankreichs betrachtet."
Sarkozy begründet sein Eintreten für die Verfassung damit, dass sie die Möglichkeit biete, Frankreich im neoliberalen Sinne zu reformieren. "Ich bin Europäer, weil Europa ein hervorragender Hebel ist, um in Frankreich Reformen durchzuführen", sagte er in einem Interview mit le monde. Und auf einer Veranstaltung in Montpellier spottete er über die Kampagne gegen den Neoliberalismus: "Unser Gesellschaftsmodell bedeutet doppelt so viele Arbeitslose wie bei den Anderen. Zum Glück tötet Lächerlichkeit nicht. Ich glaube nicht, dass Frankreich von einem Übermaß an Liberalismus bedroht wird. Ich teile dieses Zittern vor dem Ultraliberalismus nicht."
Sarkozy ist offenbar zum Schluss gelangt, dass sich die Angriffe auf die Arbeiterklasse, die von der französischen Wirtschaft unter dem Druck der globalen Märkte für notwendig erachtet werden, nicht mehr mit der Rhetorik vom "französischen Gesellschaftsmodell" und einem "sozialen Europa" vereinbaren lassen, wie sie von Chirac und den anderen Befürwortern der Verfassung noch gepflegt wird.
Sarkozys Eintreten für eine Art französischen Thatcherismus ist mit einer anderen außenpolitischen Orientierung verbunden. In einer Analyse des Konflikts zwischen den beiden Protagonisten der UMP, der in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschienen ist, heißt es: "In der Außenpolitik steht Sarkozy für ein weitaus stärker pro-atlantisches Profil als Chirac.... Er bevorzugt eine Wiederannäherung an die USA und setzt daneben auch auf engere Beziehungen zu Israel, wo er im Dezember seinen ersten Besuch als frisch gewählter Parteivorsitzender absolvierte." Auf europäischer Ebene stehe er der Doktrin, "wonach der deutsch-französische Block Priorität haben und innerhalb der EU den Ton angeben solle", kritisch gegenüber und sehe auch im Großbritannien Tony Blairs, dem Italien Silvio Berlusconis und in Spanien (als es noch unter der Herrschaft Jose Maria Aznars stand) gleichwertige Partner.
Seine Unterstützung für die europäische Verfassung verknüpfte Sarkozy mit einer eindeutigen Absage an eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. In einer parteiinternen Abstimmung gewann er 90 Prozent der Parteifunktionäre für eine entsprechende Resolution - ein Affront gegen Chirac, der einen Türkei-Beitritt befürwortet, und ein deutliches Signal gegen eine weitere Ausdehnung der EU.
Sarkozys außenpolitische Annäherung an die USA geht mit der Übernahme des innenpolitischen Kurses der Bush-Administration einher. Während Chirac weiterhin die Unterstützung der Gewerkschaften und der offiziellen linken Parteien für die Durchsetzung seiner Ziele nutzt - sie hatten 2002 für seine Wahl zum Präsidenten geworben und führen jetzt im Gleichklang mit ihm die Kampagne für die Verfassung -, versucht Sarkozy durch Law-and-order-Demagogie und die Mobilisierung religiöser Vorurteile eine soziale Basis für seine rechte Politik zu entwickeln. Als Innenminister hatte er die Medien von 2002 bis 2004 durch spektakuläre Polizeiaktionen und die Massenabschiebung von Einwanderern in Atem gehalten. Selbst devoter Katholik, hatte er mit der Gründung des Repräsentativrats der französischen Muslime (CMCF) erstmals versucht, auch konservative islamische Kräfte in den Staat zu integrieren.
Krise der Außenpolitik
Die heftige Auseinandersetzung über die europäische Verfassung ist Ausdruck einer tiefen Krise der französischen Außenpolitik.
Zwischen 1870, als Deutschland Frankreich bei Sedan militärisch besiegte, und 1945, als das Dritte Reich in Schutt und Asche zerfiel, dominierte der Konflikt mit dem deutschen Nachbarn die französische Außenpolitik. Im Ersten Weltkrieg befand sich Frankreich zwar auf der Seite der Sieger, doch der Versuch, den deutschen Rivalen durch den Versailler Vertrag zu fesseln, misslang gründlich. Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende überrannte die hochgerüstete Wehrmacht in einem Blitzkrieg die französischen Abwehrstellungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schlug Frankreich eine andere außenpolitische Strategie ein. Durch den Krieg ausgeblutet, durch die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Nazis diskreditiert und im vergeblichen Versuch, den Kolonialbesitz in Indochina und Algerien zu verteidigen, an den Rand des Bürgerkriegs getrieben, setzte die Bourgeoisie auf die europäische Integration. Frankreich gehörte zu den Gründerstaaten der Montanunion (1951), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957), der Europäischen Gemeinschaft (1967) und schließlich der Europäischen Union (1992). Es verfolgte damit zwei Ziele: Die Einbindung Deutschlands, um ein Wiederaufflammen des deutsch-französischen Konflikts zu vermeiden, und die Erhöhung des eigenen weltpolitischen Gewichts.
Der Kurs war erfolgreich, weil er von den USA finanziell und politisch unterstützt wurde und auch im deutschen Interesse lag. Die USA brauchten ein stabiles Westeuropa als Bollwerk gegen die Sowjetunion und als Absatzmarkt für die eigene Wirtschaft.
Als es in den siebziger Jahren verstärkt zu Spannungen zwischen dem ökonomisch erstarkten Europa und den USA kam, setzte Frankreich noch deutlicher auf die europäische Integration. Hatte de Gaulle die Außenpolitik noch im Namen der "Grande Nation" geführt, trat nun das Konzept des "Europe puissance", des starken und handlungsfähigen Europas, an ihre Stelle. Das Magazin Internationale Politik kommentierte im April 2005: "Die Außenpolitik Frankreichs lässt sich weitgehend immer noch dadurch erklären, dass als Ziele die Wahrung des eigenen Ranges sowie der Unabhängigkeit verfolgt werden. Spätestens seit den siebziger Jahren ist sich Frankreich bewusst, dass es diese Ziele nur mit Hilfe der europäischen Integration erreichen kann."
Europa sollte zum politischen und ökonomischen Gegengewicht der USA entwickelt werden und diesem ebenbürtig entgegentreten können. Die Zusammenarbeit mit Deutschland wurde verstärkt. Zwischen den jeweiligen Staats- und Regierungschefs entwickelte sich ein enges Verhältnis, obwohl sie fast immer aus gegenteiligen politischen Lagern stammten - zwischen dem Liberalen Giscard und dem Sozialdemokraten Schmidt, dem Sozialisten Mitterrand und dem Christdemokraten Kohl, und schließlich dem Gaullisten Chirac und dem Sozialdemokraten Schröder.
Die objektiven Voraussetzungen dieser Politik erhielten allerdings 1990 einen ersten schweren Schlag. Der Zusammenbruch des Warschauer Pakts, die deutsche Wiedervereinigung und das Ende der Sowjetunion veränderten das Kräfteverhältnis in Europa. Die USA benötigten Europa nicht mehr als Bollwerk gegen die sowjetische Supermacht und mussten nicht mehr auf europäische Interessen Rücksicht nehmen. Deutschland hatte sein Gewicht im Vergleich zu Frankreich deutlich erhöht und war mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs wieder ins Zentrum Europas gerückt.
Nach einem kurzen, vergeblichen Versuch, die Vereinigung Deutschlands zu unterbinden, trat Mitterrand die Flucht nach vorne an. Die ökonomische und politische Integration Europas wurde mit Nachdruck vorangetrieben und auf Osteuropa ausgedehnt. Europa sollte zum größten Binnenmarkt der Welt werden, die USA ökonomisch überholen und in der Außen- und Verteidigungspolitik mit eigener Stimme sprechen. Dieser Kurs wurde von Deutschland unterstützt. Der Maastricht-Vertrag von 1992, der die Europäische Union, die Einführung einer gemeinsamen Währung und schließlich die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Mitglieder begründete, war in erster Linie ein Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand.
Die Europäische Verfassung sollte diesem Prozess die Krone aufsetzen und die wirtschaftliche durch die politische Integration ergänzen. Doch das stieß auf wachsende Hindernisse.
Die EU-Osterweiterung, die eigentlich das Gewicht Europas gegenüber den USA erhöhen sollte, stärkte stattdessen den amerikanischen Einfluss in Europa. Die schwachen und instabilen Regimes, die aus dem Zusammenbruch des Ostblocks hervorgegangen sind, sehen in den USA ihre militärische und politische Schutzmacht. Stark antirussisch eingestellt, betrachten sie die deutsch-französische Vormachtstellung in der EU mit Misstrauen und fürchten eine Achse Paris-Berlin-Moskau. Ökonomisch auf die EU angewiesen, stehen sie politisch auf Seiten der USA, sobald es zu Spannungen kommt. Großbritannien, das Gefahr lief, in Europa isoliert zu werden, sah sich gestärkt und war sich nicht länger geneigt, der Währungsunion beizutreten oder Brüssel mehr Vollmachten einzuräumen. Hinzu kamen die rechten Regierungen in Italien und Spanien, die ebenfalls Richtung Washington tendierten.
Spätestens der Irakkrieg brachte die Spaltung Europas ans Licht. Seither mussten Deutschland und Frankreich wiederholt Rückschläge einstecken. Die vorliegende Verfassung ist lediglich ein Abklatsch des ursprünglichen Entwurfs, der Berlin und Paris weit mehr Gewicht und größere Möglichkeiten einräumte, ihren Willen durch Mehrheitsentscheidungen zu erzwingen. Im vergangenen Sommer konnten Chirac und Schröder ihren Kandidaten für den Kommissionsvorsitz, den Belgier Guy Verhofstadt, nicht durchsetzen und mussten den Portugiesen José Manuel Barroso akzeptieren.
Wie soll es weitergehen? Wie kann Frankreich seine Stellung wahren in einer globalisierten, zunehmend in Machtblöcke zerfallenden Welt? Soll es an der Perspektive einer expandierenden Europäischen Union festhalten, auch wenn es darin in die Minderheit gerät? Soll es auf ein Kerneuropa hinarbeiten, das notfalls auch gegen den Willen der anderen EU-Mitglieder außenpolitische Initiativen ergreift? Und was ist mit Deutschland? Kann man ihm trauen? Was ist, wenn sich Berlin nach einem Regierungswechsel auf Kosten Frankreichs mit Washington arrangiert? Soll man Berlin zuvorkommen und selbst den Ausgleich mit Washington suchen? Kann man sich angesichts des Aufstiegs Chinas und Indiens zur Großmacht eine Konfrontation mit den USA überhaupt leisten?
Mit diesen und ähnlichen Fragen ist die herrschende Klasse Frankreichs konfrontiert. Sie stehen hinter der Auseinandersetzung über das Referendum und werden verschärft aufbrechen, falls dieses scheitern sollte.