Als erstes deutsches Bundesland hat Hamburg im Mai damit begonnen, Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben, obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan wieder dramatisch verschlechtert hat und die wirtschaftliche und soziale Lage im Land hoffnungslos ist.
Die Abschiebung der 58.000 afghanischen Flüchtlinge aus Deutschland stand schon lange auf der Agenda der Innenminister von Bund und Ländern. Man wartete nur auf den Abschluss der Verhandlungen zwischen dem Bundesinnenministerium und der afghanischen Regierung. Diese Verhandlungen sind nach Informationen des Spiegel jedoch im März dieses Jahres gescheitert, da die Bundesregierung eine Beteiligung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) bei den Abschiebungen ablehnte.
Die Beteiligung des UNHCR hätte, wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl schreibt, vor allem bedeutet, dass die Rückführungen nur auf freiwilliger Basis hätten stattfinden können. Deutschland wollte jedoch die zwangsweise und massenhafte Deportation afghanischer Kriegsflüchtlinge durchsetzen. Die afghanische Regierung hat deswegen letztlich nur eine schwammige Zusage gegeben, dass sie ihre Landsleute in Empfang nehme, solange es Deutschland ganz langsam angehen lasse.
Das wurde jedoch als Freibrief genommen, umgehend mit der Deportation von Flüchtlingen zu beginnen. Mit der Billigung von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) spielt der Hamburger Senat dabei den Vorreiter, doch auch die Innenminister von Hessen, Bayern und Baden-Württemberg haben bereits angekündigt, bald die ersten Abschiebungen durchzuführen.
Noch im April ist der Hamburger Innensenator Udo Nagel für vier Tage nach Kabul geflogen, um selbst Druck auf die afghanische Regierung auszuüben. Nach seiner Rückkehr erklärte Nagel: "Die Sicherheitslage in Afghanistan ist stabil. In viele Provinzen kann man zurückkehren." Außerdem habe der Flüchtlingsminister Mohammad Azam Dadfar "gegen die Rückkehr seine Landsleute keine Bedenken" gehabt. Nagel ließ daraufhin verlautbaren, dass zunächst alle männlichen Flüchtlinge zwischen 18 und 60 Jahren, die allein stehend sind und weniger als sechs Jahre in Deutschland leben, abgeschoben werden sollen.
Die Darstellung Nagels könnte der Realität kaum ferner liegen. Mit den Äußerungen des Hamburger Innensenators konfrontiert, erklärte Dadfar Anfang Mai gegenüber dem Spiegel : "Ich habe ausdrücklich gesagt, dass wir für sie [die Flüchtlinge] keine Verantwortung tragen können." Die geplanten Abschiebungen bezeichnete er als "kontraproduktiv". Er habe Nagel darum gebeten, "darauf zu verzichten".
Erst nach neuerlichen Verhandlungen erklärte sich Dadfar bereit, monatlich 10 bis 15 Flüchtlinge aus Hamburg aufzunehmen, doch Nagel will insgesamt 5.600 der 15.000 in Hamburg lebenden Afghanen möglichst rasch nach Afghanistan deportieren. Dazu müsste er das vereinbarte Kontingent schnell deutlich überschreiten. Dass den Vorbehalten der afghanischen Regierung keinerlei Bedeutung beigemessen wird, hat der innenpolitische Sprecher der Hamburger CDU, Christoph Ahlhaus, deutlich gemacht. Er erklärte: "Wir nehmen solche Äußerungen zur Kenntnis, wir müssen unsere Rückführung aber an unserer Rechtslage ausrichten. Sie sind nicht von Äußerungen Dritter abhängig."
Auch bei den selbst aufgestellten Kriterien nimmt es die Hamburger Ausländerbehörde nicht so genau. So wurde der 22-jährige Feridun Z. abgeschoben, obwohl er in Hamburg mit seiner Mutter und seinem Bruder lebte und damit keineswegs "allein stehend" war. Auch seinem Bruder wurde inzwischen die Abschiebung angedroht. Die beiden Brüder haben in Afghanistan keine Angehörigen mehr. Der Vater wurde vor zwei Jahren in Herat ermordet, wie der Flüchtlingsrat Hamburg mitteilte.
Die Ausländerbehörde erhöht systematisch den Druck auf die afghanischen Flüchtlinge. Sie erhalten nur noch Duldungen für wenige Tage oder Wochen, leben in ständiger Unsicherheit und werden verpflichtend aufgefordert, sich über eine "freiwillige" Rückkehr beraten zu lassen. Zwei Afghanen sollen sogar versucht haben, sich das Leben zu nehmen, um der bevorstehenden Abschiebung zu entgehen.
Bisher konnten afghanische Flüchtlinge ihre erzwungene "Rückführung" oftmals in letzter Minute verhindern, indem sie ihr Recht wahrnahmen, einen Asylantrag zu stellen, Petitionen für ein Bleiberecht einzureichen oder ärztliche Atteste vorzulegen, die zweifelsfrei nachwiesen, dass eine Abschiebung eine Gefährdung für Leib und Leben darstellt. Bei den ersten Abschiebeflügen gelang es dem Innensenator daher nur, zwei Flüchtlinge tatsächlich zu deportieren, was ihm Kritik aus den Reihen der regierenden CDU einbrachte.
Doch die Wahrnehmung dieser demokratischen Rechte, die auf die Genfer Flüchtlingskonventionen zurückgehen, will der Hamburger Senat zukünftig nicht mehr dulden. Ahlhaus forderte von der Innenbehörde Nagels, "sich nicht länger an der Nase herumführen zu lassen und die Abschiebung der Flüchtlinge weiterhin mit der notwendigen Konsequenz zu betreiben". Karl-Heinz Warnholz (CDU) verlangte gleich die Änderung des Asylrechts. Kriegsflüchtlingen soll demnach das Recht verweigert werden, am Tag ihrer Abschiebung, die oft ohne vorherige Warnung erfolgt, noch einen Asylantrag stellen zu dürfen.
Afghanistan versinkt im Elend
Udo Nagel, der die Lage in Afghanistan als sicher und stabil einschätzt, war während seines viertägigen Aufenthaltes in dem Land stets von Bodyguards umgeben, die afghanische Regierung und die deutsche Botschaft werden sich zudem rührend um sein leibliches Wohl und eine angenehme vollklimatisierte Unterkunft gekümmert haben. Für die Flüchtlinge hingegen bedeutet die Abschiebung einen Kampf um das nackte Überleben.
Die Behauptung Nagels, die Lage in Afghanistan sei für die Flüchtlinge sicher, wurde durch die Ankündigung des deutschen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD) konterkariert, das deutsche Truppenkontingent in Afghanistan demnächst auf 2.500 Soldaten auszuweiten und das Einsatzgebiet der Bundeswehr erheblich auszuweiten. Mit dieser Maßnahme soll das Marionettenregime des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai gestützt werden, dessen Autorität kaum über die Hauptstadt Kabul hinausreicht und das militärisch, politisch und wirtschaftlich vollkommen von den westlichen Mächten abhängig ist.
Nach 25 Jahren Bürgerkrieg nimmt Afghanistan im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen den 173sten Platz unter 178 Staaten ein. Eins von fünf Kindern stirbt, bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht hat, die Hälfte der Bevölkerung leidet unter chronischer Unterernährung und nur 25 Prozent haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt nur 44,5 Jahre.
In den über zwei Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen kamen 1,5 Millionen Menschen um, darunter 300.000 Kinder. Fünf Millionen Afghanen wurden zu Flüchtlingen, wobei die meisten in die Nachbarstaaten Iran und Pakistan flohen. Durch den beginnenden Rückstrom wächst die Bevölkerungszahl der Hauptstadt Kabul täglich. Lebten 1988 noch 1,4 Mio. Menschen in Kabul sind es heute ca. 3,5 Mio. Der Aufbau der Infrastruktur in der völlig zerstörten Stadt kann damit nicht annähernd Schritt halten. Es mangelt an allem, an Trinkwasser, Gesundheitsversorgung, Arbeit und Wohnraum.
Die Arbeitslosigkeit in Kabul beträgt schätzungsweise 90 Prozent, das durchschnittliche Monatseinkommen selbst eines Lehrers oder Arztes beläuft sich auf gerade einmal 50 Dollar. Einfacher Wohnraum ohne Wasser und Strom kostet hingegen bereits um die 250 Dollar im Monat. Wer keine Angehörigen in Kabul hat, wie die meisten der Flüchtlinge in Deutschland, ist oftmals gezwungen im Freien zu schlafen. Viele Rückkehrer leben an den Stadträndern in illegal errichteten Slumhütten und einfachen Verschlägen. Sie erhalten weder von der Zentralregierung noch von den Vereinten Nationen finanzielle Zuwendungen. Und auch die Bundesregierung weigert sich, den abgeschobenen Flüchtlingen Hilfen zukommen zu lassen.
Hinzu kommt die angespannte Sicherheitslage. Im Land liegen noch geschätzte 10 Millionen unentdeckte Minen. Der Hass gegen die amerikanischen und internationalen Besatzungstruppen und gegen das Marionettenregime des Präsidenten Hamid Karzai entlädt sich immer öfter in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften der Regierung und Milizen regionaler Warlords haben wieder an Heftigkeit zugenommen. Paul Barker von Care International betrachtete es schon als Erfolg, dass am Tag der Präsidentschaftswahlen offiziell "nur" 38 Menschen ums Leben kamen.
Selbst das Bundeswehrkommando in Afghanistan hat auf die problematische Sicherheitslage hingewiesen und vom Auswärtige Amt in Berlin ist eine akute Reisewarnung für Afghanistan herausgegeben worden. Darin heißt es, in Kabul "kommt es häufig zu Schießereien und Gewaltverbrechen. (...) Im übrigen Land bestehen sogar noch höhere Sicherheitsrisiken. Die Sicherheitskräfte der Regierung sind nicht in der Lage, landesweit Ruhe und Ordnung zu gewährleisten." Geradezu zynisch angesichts der derzeit vollzogenen Abschiebungen mutet der Hinweis an: "Das Auswärtige Amt rät dringend, auf Auslands-Krankenversicherungsschutz mit Rückholversicherung zu achten."
Pro Asyl berichtet zudem davon, dass alleine in Kabul binnen eines Jahres 160 Kindesentführungen "im Rahmen von Erpressungen oder Zwangsrekrutierungen, in anderen Fällen auch mit dem Ziel, Getöteten Organe zu Transplantationszwecken zu entnehmen", gemeldet wurden.
Obwohl die Regierung von Präsident Hamid Karzai kaum über den Raum Kabul hinaus Einfluss hat, werden Asylanträge von afghanischen Flüchtlingen vom Bundesamt reihenweise negativ beschieden und anerkannte Flüchtlinge mit Widerrufsverfahren überzogen. Begründet wird die Ablehnung der Asylanträge oder der Entzug des Asyls mit dem stattgefundenen "Regimewechsel". Dabei sind politische Verfolgungen sowohl durch Provinzfürsten als auch durch die Sicherheitsbehörden der Karzai-Regierung und der westlichen Besatzungstruppen weiterhin an der Tagesordnung.
Angesichts dieser desaströsen und lebensbedrohlichen Lage in Afghanistan ist es menschenverachtend, afghanische Flüchtlinge zu deportieren.
Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, hat folgerichtig erklärt: "Für jeden abgeschobenen Menschen, der in Afghanistan zu Schaden kommt oder gar getötet wird, ist diese Bundesregierung ungeachtet aller Ressortzuständigkeiten politisch verantwortlich."
Während Hamburg und einige weitere Bundesländer bereits mit den Abschiebungen beginnen, sollen auf der nächsten Innenministerkonferenz Bleiberechtsregelungen für afghanische Flüchtlinge verabschiedet werden, die länger als sechs Jahre in Deutschland leben. Voraussetzung: Die Flüchtlinge müssen seit mindestens zwei Jahren arbeiten und ein eigenständiges und für den eigenen Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen nachweisen.
Rund 15.000 afghanischen Flüchtlingen, die kürzer als sechs Jahre in Deutschland leben, droht damit die unmittelbare Abschiebung. Hinzu kommen mehrere Tausend Flüchtlinge, die einer Abschiebung in Trümmer und Elend preisgegeben werden, weil sie keine dauerhafte Beschäftigung nachweisen können und Sozialleistungen erhalten.