Opel Bochum will Kündigung des Betriebsrats Turhan Ersin vor Gericht durchsetzen

Rechtsanwalt warnt vor Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit

Seit einem halben Jahr versucht die Geschäftsleitung der Adam Opel AG in Bochum, die Entlassung des Betriebsratsmitglieds Turhan Ersin zu erreichen. Nur wenige Tage nach Beendigung des siebentägigen Streiks im Bochumer Opel-Werk, mit dem die Belegschaft im Oktober vergangenen Jahres gegen den Abbau von 12.000 Arbeitsplätzen an europäischen Standorten des Mutterkonzerns General Motors protestiert hatte, sprach die Unternehmensleitung Ersin die fristlose Kündigung aus.

Der Betriebsrat wies Ende Oktober vergangenen Jahres den entsprechenden Antrag der Opel AG einstimmig zurück, und nun versucht die Geschäftsleitung, die Entlassung vor Gericht durchzusetzen. Am kommenden Donnerstag, dem 28. April 2005, wird die 4. Kammer des Arbeitsgerichts Bochum darüber verhandeln.

In einer Presseerklärung von Rechtsanwalt Michael Dornieden, der Ersin vor Gericht vertritt, heißt es: "Wer geglaubt hatte, im Rahmen der Verhandlungen über den beschönigenderweise ‚Zukunftsvertrag’ genannten Personalabbauvertrag hätte sich die Adam Opel AG dazu durchringen können, den Kündigungsantrag gegen Turhan Ersin und die Kündigung des Mitarbeiters R.K. zurückzunehmen, hat sich allerdings getäuscht."

Rechtsanwalt Dornieden macht deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Geschäftsleitung geht nach der Einigung mit der Gewerkschaft über den "Zukunftsvertrag" noch härter gegen Turhan Ersin vor. "Hilfsweise" beantragt sie nun auch seinen Ausschluss aus dem Betriebsrat für den Fall, dass sie mit ihrem Kündigungsantrag nicht durchkommt. Hatte sie die Kündigung mit der Behauptung gerechtfertigt, Ersin habe während der Arbeitsniederlegung einen Kollegen genötigt, führt sie nun als Begründung für den Antrag auf Ausschluss aus dem Betriebsrat ein Interview an, das Turhan Ersin am 16. November 2004 der World Socialist Web Site gegeben hatte.

In diesem Interview berichtete Ersin, dass nicht nur er eine fristlose Kündigung erhalten habe, sondern auch ein Opelbeschäftigter, der nicht Mitglied des Betriebsrats sei. Darüber hinaus sei ein weiterer Beschäftigter namens Rosenthal nach der Protestaktion dreimal abgemahnt worden, obwohl die ihm vorgeworfenen Verfehlungen zeitlich vor den Arbeitsniederlegungen lagen. "Der Zusammenhang ist also ganz klar", erklärte Ersin. "Das Ziel der fristlosen Kündigungen und der Abmahnungen des Kollegen Rosenthal ist die Einschüchterung der Belegschaft."

Auf die Frage: "Was müsste getan werden, um Euch zu verteidigen?" antwortete Ersin: "Im Betriebsrat betone ich, dass sie mich außen vor lassen sollen. Es geht um den zweiten Kollegen, der nicht Betriebsrat ist. Das ist ein ganz normaler Arbeiter. Der hat möglicherweise das eine oder andere Wort verfehlt. Darum geht es aber nicht. Er hat niemanden angepackt, er hat nichts beschädigt, gar nichts. Der Betriebsrat müsste meiner Meinung nach jegliche Mehrarbeit auf Null drehen, bis seine Kündigung rückgängig gemacht ist. Ich habe als Betriebsrat bessere Rechte als er. Mich muss Opel aus dem Betrieb klagen, der Kollege muss klagen, um wieder in den Betrieb zu dürfen. Dass der Betriebsrat seiner Kündigung nicht zugestimmt hat, ändert daran nichts. Ich finde es traurig, dass da nicht mehr gemacht wird, um das Unternehmen unter Druck zu setzen und ihn zu verteidigen."

Diese Aussage, der Betriebsrat solle durch die Verweigerung der Zustimmung zur Mehrarbeit die Geschäftsleitung unter Druck setzen, um die Rücknahme der Kündigung eines Kollegen zu erreichen, wird nun von der Geschäftsleitung der Opel AG Turhan Ersin vorgehalten und als grober Verstoß gegen die betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten eines Betriebsratsmitglieds bezeichnet.

Rechtsanwalt Dornieden erklärt dazu: "Wir halten diese Begründung für einen ungeheuerlichen Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit, die bekanntlich auch für Arbeitnehmer-innen und Betriebsratsmitglieder grundgesetzlich garantiert ist."

Die politische und juristische Bedeutung dieses Angriffs wird deutlich, wenn man das Vorgehen der Opel-Geschäftsleitung in größerem Zusammenhang betrachtet. Auch wenn der mehrtägige Proteststreik in Bochum den Arbeitsplatzabbau nicht verhindern konnte, war er doch bedeutsam. Er fand bei den Belegschaften anderer Werke große Resonanz und drohte die Taktik von General Motors zu unterlaufen, einen Unternehmensstandort gegen den anderen auszuspielen. Kommende Auseinandersetzungen werden auf diese Erfahrung zurückgreifen.

Da die Protestaktion in der Bochumer Bevölkerung und der Belegschaft anderer Standorte große Unterstützung fand, sah sich die Geschäftsleitung außer Stande, direkt gegen die Streikenden vorzugehen. Stattdessen arbeitete sie eng mit der Gewerkschaftsführung zusammen, um eine Wiederaufnahme der Arbeit zu erreichen. Als es nach einer Woche zu Lieferschwierigkeiten und Produktionsausfällen an anderen europäischen Standorten kam, setzte die IG-Metall-Führung ihren ganzen bürokratischen Apparat ein, um ein Ende der Aktion durchzusetzen. Durch dieses Verhalten und die spätere Zustimmung zum Arbeitsplatzabbau im Rahmen des so genannten "Zukunftsvertrags" hat die Gewerkschaft ihre Glaubwürdigkeit selbst unter den Mitgliedern weitgehend verloren.

Mit dem Vorgehen gegen einen kritischen Betriebsrat soll nun jeder eingeschüchtert werden, der sich nicht vorbehaltlos dem Diktat der Geschäftsleitung und der Gewerkschaft unterordnet. Ziel ist es, jede selbstständige Regung der Belegschaft zu unterdrücken. Deshalb wurde der Kündigungsantrag gegen Turhan Ersin nicht fallen gelassen, sondern verschärft.

Wieder stützt sich die Geschäftsleitung dabei auf die Gewerkschaft. Bisher hat die IG Metall zur Verteidigung von Ersin keinen Finger gerührt. Rechtsanwalt Dornieden erklärte gegenüber der Presse: "Die IG Metall, deren Mitglied Turhan Ersin ist, hat sich völlig bedeckt gehalten und nichts gegen die Kündigung unternommen." Umso wichtiger ist die Unterstützung für Ersin von Seiten der Belegschaft.

Juristische Argumente

Vom rechtlichen Standpunkt aus, sind die Anschuldigungen gegen Turhan Ersin unhaltbar. Akzeptiert man den Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG), das beide Seiten - Geschäftsleitung und Betriebsrat - zu "vertrauensvoller Zusammenarbeit" im Interesse des "Gemeinwohls" verpflichtet, dann hat nicht Ersin den Betriebsfrieden gestört oder gebrochen, sondern die Unternehmensleitung. Ohne Vorwarnung und ohne Zusammenarbeit in den Mitbestimmungsgremien hat General Motors den Abbau von 12.000 Arbeitsplätzen an den europäischen Standorten verlangt.

Während sie Ersin vorwirft er habe seine Meinung über betriebliche Ereignisse im Internet veröffentlicht, nutzte die Konzernleitung die geballte Macht der Medien - Fernsehkanäle, regionale, nationale und internationale Zeitungen - um Entlassungen anzukündigen und mit Betriebsschließungen zu drohen.

Das war eine gezielte Provokation und ein Ultimatum gegenüber Belegschaft und Betriebsrat. Der anschließende Proteststreik war eine völlig legitime Antwort auf diese Provokation.

Der gegen Turhan Ersin erhobene Vorwurf, er habe einige Kollegen verbal attackiert und genötigt, ist vollständig konstruiert. In dem von der Geschäftsleitung beanstandeten Interview mit der WSWS erklärte Ersin, was sich zur fraglichen Zeit abspielte: "Wir waren auf der Nachtschicht in Werk I. Zum Glück war ich dabei nicht alleine, etwa 150 Kollegen waren mit mir dort. Ich habe dort mit einem Megaphon die Zahlen bekannt gegeben, die Opel abbauen möchte. Die Zahlen hatte uns unser Betriebsratsvorsitzender Dietmar Hahn ein paar Stunden vorher in der Betriebsratssitzung mitgeteilt."

Darauf habe sich ein Mitarbeiter, der sich später als Meister vorstellte, vor ihm aufgebaut und ihn der Lüge bezichtigt. Er habe ihm die Zusammenhänge erläutert und gesagt: "Wenn es keine Belegschaft gibt, dann gibt es auch keine Meister, ist dir das bewusst?" Bei dem folgenden Wortwechsel sei es weder zu Handgreiflichkeiten gekommen, noch habe er seinen Gegenüber beleidigt, betonte Ersin.

Von Nötigung also keine Spur. Der Kündigungsantrag der Geschäftsleitung kann nur als Versuch gewertet werden, einen unliebsamen Mitarbeiter im Anschluss an eine betriebliche Auseinandersetzung abzustrafen. Genau das aber verbietet das Betriebsverfassungsgesetz.

Es heißt dort ausdrücklich, dass Arbeitgeber und Betriebsrat dafür sorgen müssen, dass "alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt" werden und dass "jede unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft, politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung... unterbleibt." (§ 75 Absatz 1 BetrVG) In einem Rechtskommentar (von Gnade/Kehrmann/Schneider/Klebe/Ratayczak) wird im Zusammenhang mit diesem Paragraphen ausdrücklich auf Gerichtsentscheidungen zum Maßregelungsverbot nach einem Arbeitskampf verwiesen.

Da dies auch den Rechtsanwälten des Konzerns bekannt sein dürfte, haben sie den Antrag nachgeschoben, dass Ersin aus dem Betriebsrat auszuschließen sei, falls das Arbeitsgericht dem Antrag auf Kündigung nicht stattgebe. Durch einen solchen Ausschluss aus dem Betriebsrat verlöre er den Kündigungsschutz und könnte dann ohne viel Federlesen entlassen werden.

Dieser Antrag ist aber nicht nur eine unmissverständliche Drohung an alle Arbeiter: Wer nicht kuscht, fliegt raus. Er ist auch ein elementarer Angriff auf das verfassungsmäßige Grundrecht der Meinungsfreiheit. Er impliziert, dass ein Betriebsrat nach innen und nach außen nur den Standpunkt der Unternehmensleitung vertreten darf und sich jeder kritischen Äußerung zu enthalten hat. Das aber bedeutet, dass aus dem im Betriebsverfassungsgesetz definierten "Sozialpartner" ein Untergebener der Geschäftsleitung wird, der ihr gegenüber - wie der preußische Beamte gegenüber dem Staat - einer besonderen Treuepflicht unterliegt.

Ersin machte in der beanstandeten Interview-Passage ausdrücklich deutlich, dass es sich um eine persönliche Meinungsäußerung handelt. Er sagte: "Der Betriebsrat müsste meiner Meinung nach jegliche Mehrarbeit auf Null drehen...". Darüber hinaus sprach er nicht für sich, sondern setzte sich für einen anderen gekündigten Kollegen ein, der nicht Mitglied im Betriebsrat war und daher keinen zusätzlichen Kündigungsschutz hatte. Er tat also genau das, was ein Betriebsrat tun sollte.

Der Versuch, mit dem Hinweis auf die betrieblichen Verhältnisse und Abhängigkeiten die Grundrechte einzuschränken, widerspricht geltender Rechtssprechung. Bereits 1954 hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass die Grundrechte als "Ordnungssätze für das soziale Leben in näher zu entwickelndem Umfang unmittelbar Bedeutung auch für den Rechtsverkehr der Bürger" haben.

1958 fällte das Bundesverfassungsgericht die grundlegende, später viel zitierte "Lüth"-Entscheidung. Sie erklärte einen Boykottaufruf des Journalisten Erich Lüth gegen einen Nachkriegsfilm von Veit Harlan für rechtmäßig, den der damalige Leiter der Pressestelle der Stadt Hamburg mit der früheren Propagandaarbeit von Veit Harlan für die Nazis begründet hatte.

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heißt es: "Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt... Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist." (BVerfGE 7, 198)

Aus dieser "grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich- demokratischen Staat" ergebe sich, dass es nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts "jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen".

Mit derselben Arroganz, mit der die Geschäftsleitung von Opel die Senkung der Löhne und den Abbau von Arbeitsplätzen verfügte, setzt sie sich über diese geltenden Rechtsgrundlagen hinweg. Sie betrachtet den Betriebsrat als willfähriges Gremium, dessen Aufgabe darin besteht, die Interessen der Unternehmensleitung gegenüber den Beschäftigten zu erläutern und durchzusetzen. Daher maßt sich der Vorstand an, die Zusammensetzung des Betriebsrats zu bestimmen, indem er versucht, durch Gerichtsbeschluss ein unbequemes Betriebsratsmitglied auszuschließen. Aber noch werden die Betriebsräte nicht von der Geschäftsleitung eingesetzt, sondern von den Beschäftigten gewählt. So sieht es das Betriebsverfassungsgesetz trotz aller sonstigen Einschränkungen jedenfalls vor.

Wie sehr der Opel-Vorstand entschlossen ist, an Turhan Ersin ein Exempel zu statuieren und jeden einzuschüchtern, der es wagt "aufzumucken", wird auch daran deutlich, dass er eine der größten und teuersten Anwaltsfirmen mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt hat. Baker & McKenzie ist eine weltweit agierende und in vielen Bereichen des Unternehmensrechts führende Kanzlei. Alleine im Bereich Arbeitsrecht sind bei Baker & McKenzie über 400 Rechtsanwälte tätig.

Während der Konzern gegenüber den Beschäftigten bei jeder Gelegenheit betont, es müssten drastische Sparmaßnahmen durchgeführt werden, finanziert er in diesem Fall eine Anwaltskanzlei, die für jeden Schriftsatz Tausende von Euros kassiert. Bei früheren, weniger wichtigen arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen hatte Opel Bochum sich meist mit Rechtsanwälten des Arbeitgeberverbandes NRW begnügt.

Vieles hängt nun davon ab, dass die Beschäftigten von Opel und General Motors den Angriff auf grundlegende demokratische Rechte mit derselben Entschiedenheit zurückschlagen, mit der er verfochten wird, und Turhan Ersin prinzipiell gegen die Konzernleitung und ihre Handlanger in der Gewerkschaft verteidigen.

* * *

Verhandlungstermin: Donnerstag, 28. April 2005, 10.00 Uhr, Arbeitsgericht Bochum, Marienplatz 2, Saal 35.

Siehe auch:
"Das Ziel der fristlosen Kündigungen ist die Einschüchterung der Belegschaft" - Interview mit Turhan Ersin, fristlos gekündigter Opel-Betriebsrat
(16. November 2004)
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