Henri Cartier-Bresson (1908-2004)

Ein Pionier der modernen Fotografie

"Der starke Einsatz von Fotos durch die Massenmedien verleiht dem Fotografen eine ständig wachsende Verantwortung... Wir müssen mehr denn je darauf achten, dass wir uns nicht unversehens von der realen Welt und der Menschheit trennen."

Diese klugen Zeilen schrieb der Fotograf Henri Cartier-Bresson in einem 1968 erschienenen Band über sein Gesamtwerk. Cartier-Bresson ist am 3. August in Paris verstorben. Zu Recht wird er als einer der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts betrachtet; indes bleiben die kulturellen und politischen Wurzeln seiner Kunst oft unerwähnt.

Cartier-Bresson wurde am 22. August 1908 in Chanteloup bei Paris als Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten geboren. Als junger Erwachsener zeigte er wenig Interesse am Geschäft der Familie, weit mehr fühlte er sich angezogen von Kunst und Literatur. Mit der Ermutigung und finanziellen Unterstützung seines Vaters studierte er Malerei bei Jean Cottenet, einem Freund der Familie, und bei dem Porträtmaler Emile Blanche, der ihn in die Pariser Künstler- und Literatenkreise einführte.

Nach seinem Schulabschluss 1927 arbeitete Cartier-Bresson ein Jahr im Fotostudio André Lohtes, eines frühen kubistischen Malers und Bildhauers, und eignete sich die wesentlichen Begriffe des Kubismus an. Er las viel - Dostojewski, Thomas Hardy, Arthur Rimbaud, Sigmund Freud, Marcel Proust, James Joyce, Friedrich Engels und Karl Marx - und studierte an der Cambridge University von 1928-1929 englische Literatur.

Den stärksten Einfluss auf Cartier-Bresson übten André Breton und der Surrealismus aus. Breton war inspiriert von der Russischen Revolution und war in den 1920er Jahren Mitglied der französischen Kommunistischen Partei, ehe er wegen der bürokratischen Herrschaft des Stalinismus mit der Partei brach. Mitte der 1930er Jahre unterstützte er den Aufbau der Vierten Internationale und arbeitete eine Zeitlang mit Leo Trotzki zusammen. Bretons künstlerische Vision gründete sich auf sozialistische Prinzipien und die feste Überzeugung, dass wahrhaft schöpferische Kunst alle Formen bürgerlicher Autorität herausfordern müsse.

Diese revolutionären Anschauungen hatten eine enorme Wirkung auf Cartier-Bresson und seine Freunde, die sich als Jugendliche zu den Surrealisten hingezogen fühlten und Zugang zum Umkreis der frühen Bewegung hatten. Später sagte er gegenüber einem Interview-Partner: "Geprägt haben mich nicht die surrealistischen Gemälde, die ich zu nüchtern fand, sondern die Konzeptionen Bretons, die mir sehr gut gefielen: die Rolle des spontanen Ausdrucks und der Intuition und, vor allem, die Haltung der Revolte... in der Kunst, aber auch im Leben."

Cartier-Bresson wollte "die Welt malen und verändern", was, so sagte er, "für mich mehr zählte als alles andere in meinem Leben". Die künstlerischen Versuche des jungen Mannes waren jedoch nicht besonders erfolgreich. Zwar besaß er eine Kamera, doch erst als er 1931 von einem Jahr als Großwildjäger in Westafrika zurückgekehrte, begann er, das künstlerische Potential der Fotografie zu erkennen.

Die Jagd hatte zweifellos seine Reflexe geschärft, doch seine Entwicklung zum ernsthaften Fotografen spielte sich vor dem Hintergrund enormer sozialer und politischer Erschütterungen ab: die Depression der 1930er Jahre, der Aufstieg des Faschismus und, was besonders wichtig war, der weitverbreitete Glaube von Millionen einfachen Bürgern, dass menschlicher Fortschritt nur in einem Kampf gegen die alten kulturellen Werte und politischen Institutionen erreicht werden könne.

Zu gleicher Zeit befreiten technische Fortschritte, insbesondere die Erfindung der Kleinbild-Kamera Leica und eines empfindlicheren Films, Cartier-Bresson und andere Fotografen von den Einschränkungen, die mit den Großformaten und dem Einsatz eines Stativs verbunden waren, und förderten das Improvisieren. Während André Kertész, Robert Capa und andere die neuen Kameras eingesetzt hatten, um große Wirkung zu erzielen, führte Cartier-Bresson eine einzigartige künstlerische Sensibilität in die Fotografie ein.

Während der folgenden Jahre wurde Cartier-Bresson mit seinen Aufnahmen von Obdachlosen und Armen in Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Ungarn und Polen zum Wegbereiter. Später bemerkte er einmal: "Ich zog den ganzen Tag durch die Straßen, angespannt und bereit, auf den Auslöser zu drücken, entschlossen, das Leben einzufangen - den Moment des Lebens zu bewahren. Vor allem war ich darauf aus, das Wesentliche einer Situation, die sich gerade vor meinen Augen abspielte, in einem einzigen Foto einzufangen."

Cartier-Bressons Frühwerk, das das machtvollste Kapitel in seiner langen Laufbahn bildet, ist außergewöhnlich und hat auch heute noch Bestand. Die spanischen Fotos - Kinder in zerstörten Häusern, verarmte Bauern, demonstrierende Arbeiter, republikanische Kämpfer - und Aufnahmen in Osteuropa, insbesondere aus dem Warschauer Ghetto, sind einzigartig. Seine Bilder, die von einem großartigen Gefühl für den Augenblick und oft feinsinnigem Humor zeugen, sind aufrüttelnd und überraschend, immer von großer Schönheit und zutiefst menschlich.

Er lehnte gestellte Fotografie und künstliches Licht, auch Blitzlicht, ab - alles, was eine Barriere zwischen ihm und seinem Objekt hätte bilden können. Meisterhaft in der Beherrschung seiner Kamera, lehnte es Cartier-Bresson auch ab, Ausschnitte seiner Aufnahmen herzustellen, - das Negativ musste ganz vergrößert werden oder gar nicht.

In einer seiner aufschlussreichen Bemerkungen sagte er: "Das Denken sollte vor und danach, nicht während des Fotografierens stattfinden. Der Erfolg hängt vom Grad der Allgemeinbildung, dem Wertesystem, der Klarheit des Denkens, der Lebendigkeit ab. Am meisten muss man sich vor dem künstlich Erfundenen, vom Gegenteil des Lebens, in Acht nehmen."

Auch wenn es kaum angebracht sein mag, einzelne Aufnahmen aus dieser Zeit herauszugreifen, so sind doch "Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare, Paris" (1932) und "Madrid" (1933) wichtige Beispiele für den, der mit Cartier-Bressons Fotografie nicht vertraut ist.

"Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare, Paris" zeigt einen Mann, der fliehen will und vergeblich versucht, über eine riesige Pfütze zu springen. Sein Schatten und andere Dinge bilden in der Pfütze - wie eine Leiter - ein faszinierendes geometrisches Muster. Der Moment des Sprungs spielt sich vor dem Hintergrund eines eisernen Gitterzauns und eines Posters ab, das einen Tänzer zeigt.

"Madrid" (1933) zeigt elf Kinder, die auf einem kleinen Platz spielen. Die Kinder, die wir in den verschiedensten Haltungen und Stimmungen sehen, werden von einer Wand eingefasst, die mit zahlreichen unterschiedlich großen Fenstern versehen ist. In der Mitte des Bildes geht ein dickbäuchiger Mann mittleren Alters quer über den Platz.

Internationaler Erfolg

Von der Kritik gelobte Ausstellungen in den USA und Spanien brachten Cartier-Bresson neue Aufgaben ein. 1934 reiste er nach Mexiko und freundete sich mit linken mexikanischen Fotografen und Intellektuellen an, darunter dem amerikanischen Schriftsteller Langston Hughes. Cartier-Bressons Aufnahmen, die während dieses zwölfmonatigen Aufenthalts entstanden, sind bemerkenswert. Seine Fotos mexikanischer Prostituierten bleiben im Gedächtnis haften.

Von Mexiko begab sich Cartier-Bresson nach New York und machte sich bei dem Fotografen Paul Strand mit dem Medium Film vertraut. Er war der Stadt verfallen, verbrachte viele Stunden in Jazzclubs und bei politischen Diskussionen mit Hughes und anderen Mitgliedern der Harlem Renaissance. Sein enger Freund, der Komponist Nikolas Nabokov, erinnert sich: "Wir führten [in Harlem] lange Gespräche über Moral und Politik. Für Cartier-Bresson war die kommunistische Bewegung der Träger der Geschichte und der Zukunft der Menschheit, besonders in den Jahren, als Hitler Deutschland beherrschte und in Spanien ein Bürgerkrieg heraufzog."

Gegen Ende 1935 kehrte Cartier-Bresson nach Frankreich zurück, wurde Kameraassistent des Regisseurs Jean Renoir und näherte sich der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) an. Diese jedoch machte sich stark für eine Wahlbündnis mit sogenannten fortschrittlichen Teilen der Kapitalistenklasse - der bürgerlichen Radikalen Partei und der Sozialistischen Partei -, die als "kleineres Übel" gegenüber den faschistischen Kräften dargestellt wurden.

Diese Perspektive, bekannt unter der Bezeichnung "Volksfront", wurde von allen Sektionen der stalinistisch kontrollierten Kommunistischen Internationalen verfolgt, was für Frankreich und Spanien verheerende Konsequenzen hatte. Sie lähmte die Arbeiterklasse politisch und sicherte Francos Faschisten den Sieg in Spanien. Als das Proletariat in Frankreich im Juni und Juli 1936, nach dem Wahlsieg der Volksfront, Massenstreiks durchführte, fiel die PCF dieser Bewegung in den Rücken, indem sie erklärte, sie schwäche die neue Regierung. Große Verwirrung war die Folge, die die extrem rechten Kräfte stärkte.

Entgegen der Perspektive der Stalinisten betonte Leo Trotzki damals, die Ursachen des Faschismus lägen in der kapitalistischen Gesellschaft, und nur die Mobilisierung der Arbeiterklasse unter ihrem eigenen, unabhängigen Banner - einem revolutionären sozialistischen Programm - könne den Faschismus aufhalten.

Im Vorfeld der Wahlen 1936, die die Volksfront an die Macht brachten, produzierte Cartier-Bresson für die PCF einen Film zur Wahl: La Vie est à nous (Das Leben gehört uns). Darauf folgte sein Film Victoire de la vie (Rückkehr ins Leben) über den spanischen Bürgerkrieg. Bei Renoirs Une Partie de campagne (Ein Tag auf dem Land) war er dessen Regieassistent und arbeitete auch mit bei dessen Film La Règle du jeu (Die Spielregeln) . Als Fotograf war er außerdem tätig für die Zeitung der PCF , Ce Soir.

Es ist nicht klar, ob Cartier-Bresson das ganze Ausmaß des Verrats der PCF verstand; doch seine Erfahrungen mit dieser Partei hemmten seine politische Entwicklung, was seine spätere künstlerische Arbeit beeinträchtigte.

Bei Kriegsausbruch schloss sich Cartier-Bresson der französischen Armee an. 1940 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Sein dritter Fluchtversuch gelang, und er schlug sich bis nach Paris durch, wo er im antifaschistischen Widerstand aktiv wurde.

In der Illegalität schuf er Porträts, darunter berühmte Aufnahmen der Künstler George Braque, Henri Matisse, Pierre Bonnard und hielt die Befreiung von Paris 1945 im Bild fest. Zu seinen ironischsten Fotos gehört das einer wütenden Auseinandersetzung zwischen einem Kämpfer der Résistance und einem Nazi-Kollaborateur. Cartier-Bresson führte auch Regie bei Le Retour (Die Rückkehr), eine Dokumentation über die Heimkehr von Kriegsgefangenen.

Cartier-Bresson war so fest mit dem antifaschistischen Widerstand verbunden, dass das Museum of Modern Art in New York der Meinung war, er sei im Krieg getötet worden, und begann, eine "posthume" Retrospektive seines Werkes vorzubereiten.

Die Ausstellung fand schließlich 1947 statt, in Anwesenheit Cartier-Bressons. In diesem Jahr gründete er auch zusammen mit Robert Capa, David "Chim" Seymour und George Rodgers die Fotoagentur Magnum Photos. Die Firma wuchs und wurde zur anerkanntesten internationalen Fotoagentur der Geschichte. Sie stellte sicher, dass ihre Mitglieder die Eigentumsrechte und das Copyright an ihren Negativen und Bildern behielten, was zur damaligen Zeit noch eine kühne Konzeption war.

Der Bildjournalismus der Nachkriegszeit

Nach dieser Ausstellung entschied Cartier-Bresson auf Anraten von Capa, sich auf seine Arbeit als Fotojournalist zu konzentrieren, anstatt "abstrakt" zu arbeiten. Er wurde beauftragt, nach Asien zu gehen, wo er von 1948 bis 1950 lebte. Er hielt die Teilung Indiens, den Trauerzug bei Ghandis Begräbnis, den Sieg der indonesischen nationalen Bewegung, Mao Ze Dongs Sieg über Tschiang Kai-Scheks Kuomintang und andere wichtige Ereignisse fest.

Im Zuge des wachsenden Erfolgs seines Fotojournalismus’ veröffentliche Cartier-Bresson The Decisive Moment (Der entscheidende Moment, zuerst in Französisch als Images à la Sauvette), eine Sammlung von Fotografien mit einem kurzen, aber wichtigen Essay über seine künstlerischen Vorstellungen.

"Die Fotografie", erklärte er, sei eine "unmittelbare Handlung, sowohl sinnlich wie auch geistig - ein visueller Ausdruck der Welt, und auch ein ständiges Suchen und Fragen. Es ist in einem einzigen Moment das Erkennen einer Tatsache im Bruchteil einer Sekunde und die strenge Anordnung der visuell wahrgenommenen Formen, die dieser Tatsache Ausdruck und Bedeutung verleihen.... Das Wichtigste ist, ganz in dieser Realität zu sein, die wir mit dem Sucher erkennen."

Diese Bemerkungen fassten nicht nur die intellektuellen Techniken der modernen Fotographie zusammen, sondern zeigten auch, dass die Fotografie zu einem Instrument des ästhetischen Ausdrucks geworden war. Cartier-Bressons Auffassungen wurden zum Maßstab für zahlreiche Fotografen auf der ganzen Welt. 1954 hatte er als erster Fotograf eine Ausstellung im Pariser Louvre.

Die nächsten 25 Jahre arbeitete Cartier-Bresson in verschiedenen Ländern. So war er einer der ersten westlichen Fotografen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion fotografieren durften. Er veröffentlichte mehrere Bücher und organisierte große Ausstellungen seiner Arbeiten, die während der 60er und 70er Jahre an vielen Orten der Welt gezeigt wurden. Doch gerade als seine Popularität wuchs und er ein größeres Publikum erreichte, schlichen sich fast unmerklich Veränderungen in seine Arbeit ein.

Weil ihm eine wissenschaftliche sozialistische Weltanschauung fehlte und er daher nicht in der Lage war, die tiefer gehenden gesellschaftlichen Prozesse zu verstehen, begann Cartier-Bresson, sich an die politische Verwirrung und die Schwierigkeiten anzupassen, die der Nachkriegsboom mit sich brachte. Zwar blieb die Arbeiterklasse und die unterdrücktesten Schichten weiterhin sein Thema, doch schlich sich ein Gefühl der Resignation in seine Fotografie ein. Er wandte sich dem östlichen Mystizismus zu, und der pointierte gesellschaftliche Standpunkt, der in seiner Arbeit vor dem Krieg enthalten war, begann sich zu verflüchtigen.

1931, nach der Rückkehr aus Afrika, hatte sich Cartier-Bresson entschieden, Fotograf zu werden, weil er sich "verpflichtet fühlte, die Schrecken der Welt mit einem schnelleren Instrument als dem Pinsel zu dokumentieren". Doch während der 70er Jahre war diese Entschlossenheit geschwunden und eine gewisse kreative Erschöpfung setzte ein. 1975 beschloss er, die Kamera beiseite zu legen und sich wieder dem Zeichnen und Malen zu widmen. Später bemerkte er: "Jetzt dreht sich bei mir alles ums Malen - die Fotografie war immer nur ein Weg zur Malerei, eine Art unmittelbares Malen."

Trotz seiner Schwächen in seinen späteren Arbeiten bleibt der Beitrag Cartier-Bressons zur zeitgenössischen Fotografie unauslöschlich. Obwohl ein ruhiger Mensch, der seinem Privatleben einen hohen Stellenwert einräumte, organisierte er bis zu seinem Tod Ausstellungen.

1998 bereitete er aus Anlass seines 90.Geburtstag zwei Ausstellungen für London vor, und im letzten Jahr eine größere Retrospektive in der französischen Nationalbibliothek. Er gründete die Henri Cartier-Bresson-Stiftung mit dem Ziel, seine und die Arbeit anderer großer Fotografen zu erhalten und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Diese Stiftung verfügt über seine gesamte persönliche Sammlung.

Es ist viel geschrieben worden über die digitale Fotografie und das schöpferische Potential und die Herausforderungen, die mit ihr im 21. Jahrhundert verbunden sind. Doch jeder Fortschritt in der zeitgenössischen kreativen Fotografie setzt zwingend ein eingehendes Studium der frühen Arbeit von Cartier-Bresson und ihrer kulturellen und politischen Wurzeln voraus. Es zeigt sich, dass seine größten Aufnahmen mit seinem starken Engagement für eine wahrhaft menschliche und aufgeklärte Gesellschaft verknüpft waren.

Siehe auch:
Die Kunstbestände des führenden Surrealisten André Breton sollen versteigert werden
(8. Februar 2003)
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