Am 18. Oktober 2004 - über fünf Jahre nach dem Tod von Aamir O. Ageeb bei der Abschiebung - wurde am Frankfurter Landgericht endlich das Urteil über die drei BGS-Beamten gesprochen, die seinen Tod verursacht hatten. Die Bundesgrenzschützer Schwalb, Schmidt und Denizdelen hatten dem gefesselten Sudanesen am 28. Mai 1999 an Bord einer Lufthansa-Maschine so lange den Oberkörper in den Schoß gedrückt, bis er elend erstickt war. Das Amtsgericht Frankfurt hatte den Fall wegen der Schwere der Tat im Frühjahr an das Schwurgericht überwiesen.
Der vorsitzende Richter Heinrich Gehrke sprach nun alle drei der gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig. Aber das Strafmaß, das mit neun Monaten Gefängnis mit Bewährung und je 2000 Euro Bußgeld außerordentlich gering ausfiel, steht in krassem Missverhältnis zu der Tat, die der Richter in einem erschütternden Schlusswort noch einmal detailliert schilderte.
Seinen Ausführungen zufolge fanden Schwalb und Denizdelen, die den Auftrag hatten, Ageeb im Flugzeug abzuschieben, den Sudanesen schon in der sogenannten Hogtie-Stellung vor: auf dem Fußboden einer Gewahrsamszelle auf dem Bauch liegend, Arme und Beine hinter dem Rücken zusammengeschnürt und mit einem Motorradhelm auf dem Kopf. "Warum war diese menschenunwürdige Quälerei notwendig?" fragte der Richter. Dafür habe er im ganzen Prozess keine Begründung gehört.
In dem Begleitschreiben der Justiz war Aamir Ageeb fälschlicherweise als "gewalttätiger, renitenter Straffälliger" und der "Beleidigung auf sexueller Basis" beschuldigt worden - wofür es überhaupt keine Grundlage gegeben habe, wie der Richter bestätigte. Auch dem Flugkapitän gegenüber war der Abzuschiebende von führenden BGS-Beamten als Gewaltverbrecher und Mörder dargestellt worden.
Ageeb hatte den BGS-Beamten mehrmals ruhig auf Deutsch erklärt, dass er eher sterben als in den Sudan zurück reisen wolle, und dass er befürchte, dort in die Armee gesteckt und wie sein Bruder getötet zu werden. Als er auf das Rollfeld gefahren wurde und im Anblick der Lufthansa-Maschine verzweifelt mit dem Kopf gegen das VW-Busfenster schlug, setzten ihm die BGS-Beamten erneut den Motorradhelm auf, verschnürten und verknoteten ihn mit einem fünf Meter langen Seil und trugen ihn zu dritt die Gangway hoch. Sie banden den Wehrlosen in der Mitte der hintersten Sitzreihe fest und fesselten ihn an allen Gliedern.
Der Richter schilderte die Situation, als die Drei im Flugzeug mit Ageeb alleine waren, je ein BGS-Beamter links und rechts von ihm und der dritte auf dem Sitz vor ihm. Sie hätten erkennen müssen, dass es ihrem Opfer schlecht gehe. Ageeb habe mehrmals geäußert, dass er schlecht Luft bekomme, ihm sei der kalte Schweiß ausgebrochen, er habe physische und psychische Anzeichen von Unruhe und Stress gezeigt. Während der Startphase habe sich Ageeb mit aller Kraft aufgebäumt und geschrieen, er bekomme keine Luft mehr. Darauf hätten ihn alle drei BGS-Beamten gemeinsam im Sitz hinuntergedrückt, um das Schreien zu unterbinden.
Jeden Versuch Ageebs, sich aufzurichten, um wieder zu Atem zu kommen, hätten die BGS-Beamten zu Unrecht als fortdauernden Widerstand interpretiert. Das Herunterdrücken habe mindestens sieben bis acht Minuten gedauert, bis schließlich, kurz vor Ende der Startphase, Ageebs Körper erschlafft und zusammengesackt sei: "Aamir Ageeb war infolge Erstickens gestorben."
Damit hätten sich die drei Angeklagten eindeutig der gemeinschaftlichen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht, führte der Richter aus. Sie hätten einen ihnen anvertrauten Menschen durch vorsätzliches Handeln in eine hochgefährliche Situation gebracht, was auch ohne besondere Ausbildung für jedermann zu erkennen und klar rechtswidrig gewesen sei.
Im Kontrast zu diesen bedrückenden Ausführungen des Richters stand das geringe Strafmaß seines Urteils. Kein einziger der drei für Ageebs Tod verantwortlichen Beamten muss auch nur für einen Tag ins Gefängnis.
Dieses Urteil stellt, wie der Richter darlegte, einen Ausnahmefall dar. Eine fahrlässige Tötung müsste normalerweise drei bis fünf Jahre, im minderschweren Fall eine Mindeststrafe von einem Jahr auf Bewährung nach sich ziehen.
Der Richter erklärte jedoch, es lägen ungewöhnliche strafmildernde Gründe vor, die auch vom Nebenkläger anerkannt worden seien. Würden die Angeklagten zu einem Jahr mit Bewährung verurteilt, zöge dies automatisch den Verlust ihres Berufs nach sich. Die Angeklagten hätten aber Reue gezeigt. Sie hätten erkennbar nicht mit dem Tod Ageebs gerechnet, ihn auch nicht billigend in Kauf genommen.
Überhaupt sei bei diesem Fall die Verantwortung der "Vorgesetzten und aller Verantwortlichen des BGS bis in die höchsten Reihen" so eklatant, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen sei, bis es zu einem Todesfall habe kommen müssen. "Man denke nur an die Hogtie-Fesselung in der Zelle", sagte der Richter, "Abu Ghraib lässt grüßen".
Die leitenden BGS-Beamten Paulini, Apel, Appel und Dietrich wären alle bis zum Start in der Maschine gewesen, sie hätten gegenüber dem Flugkapitän den falschen Eindruck erweckt, es handle sich um einen gefährlichen Gewaltverbrecher, und Paulini habe unbedenklich eine Art Fesselung angeordnet, die für den Flug unzulässig war. Richter Gehrke: "Eine derartige Komplettverschnürung eines Menschen - wie bei einem wilden Tier - ist mit Menschenwürde nicht mehr zu vereinbaren." Er zog die Schlussfolgerung daraus: "Wie sollte ein kleiner, subalterner Beamter den Mut aufbringen, dagegen zu protestieren?"
Die Angeklagten seien überfordert und außerdem völlig unzureichend auf diese Art von Rückführung vorbereitet gewesen. Sie seien, überspitzt ausgedrückt, verheizt worden. Der BGS habe niemals für eine professionelle Ausbildung seiner Rückführungsbeamten gesorgt, der BGS-Ausbilder Hansen habe sogar noch im Prozess die Meinung vertreten, für Abschiebungen sei überhaupt keine besondere Ausbildung nötig. Hansen, der damalige Leiter des BGS am Frankfurter Flughafen, ist später zum Präsidenten des BGS-Präsidiums Ost befördert worden.
Übrigens sei der Umgang des Bundesgrenzschutzes mit dem sogenannten PA-Syndrom [Positional Asphyxia - lagebedingter Erstickungstod] nur als grob fahrlässig zu bezeichnen. Erst nach Ageebs Tod habe man sich mit diesem seit Jahren bekannten Phänomen ernsthaft befasst. "Mir scheint all das symptomatisch", so der Richter. "Man handelt erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit befürchten muss."
Während die Vorgesetzten und "hohen Verantwortlichen" aber keinerlei Konsequenzen trügen, ja sogar in einigen Fällen aufgestiegen seien, wäre es schlechterdings unerträglich, wenn nun die Angeklagten ihren Beruf verlieren würden, erklärte Gehrke. "Den Letzten beißen die Hunde - das wollte das Gericht nicht mitmachen." Deshalb habe es sich zu einem Ausnahmefall entschieden, der im Gesetz so nicht vorgesehen sei.
Die Argumentation des Gerichts läuft faktisch darauf hinaus, dass es keine Konsequenzen hat, wenn durch staatliches Handeln Menschen illegal zu Tode gebracht werden. Schon in den 50er Jahren erhielten SS-Leute, die Juden getötet hatten, milde Strafen mit dem Argument, die wirklich Verantwortlichen seien Hitler und die Nazi-Führer gewesen - diese waren dann aber zumeist tot oder sonst nicht greifbar.
Im Fall Ageeb wurde gegen die verantwortlichen Vorgesetzten gar nicht ermittelt. Der Hinweis des Richters auf die Verantwortung hoher Staatsbeamter dient lediglich zur Entlastung der unmittelbar beteiligten BGS-Beamten. Deren Aussagen, sie hätten nicht mit dem Tod Ageebs gerechnet, können unter dem Gesichtspunkt "in dubio pro reo" wohl nicht widerlegt werden. Der Richter unterstellte aber, dass sie "natürlich" der Wahrheit entsprächen. Durchaus ein Unterschied. Und hier handelte es sich jedenfalls bei zweien der drei um erfahrene Polizisten. Ist es wirklich so offensichtlich, dass sie nicht gesehen haben, dass ihr Tun Ageeb in akute Lebensgefahr brachte - insbesondere als dieser schrie, er bekomme keine Luft mehr?
Jedenfalls gäbe es genügend Anhaltspunkte, um gegen die BGS-Führung zu ermitteln, die Innenminister Otto Schily (SPD) untersteht. Fest steht nämlich, dass die Beamten nur in einem einwöchigen Schnellkurs auf die Durchführung von Abschiebungen vorbereitet wurden, und auch dieser soll eher "dem Erfahrungsaustausch" gedient haben. Man kann davon ausgehen, dass dabei die Effektivität und nicht die Humanität des Umgangs mit den Flüchtlingen im Vordergrund stand. Eine Vorbereitung der Beamten durch ihre Vorgesetzten fand aber im konkreten Fall durchaus statt - in Form einer Aufhetzung mit falschen Behauptungen über Ageeb. Einen Aktenordner, in dem Belehrungen der Polizisten über den Umgang mit Flüchtlingen enthalten gewesen sein sollen, erhielt das Gericht nicht, er sei bereits vernichtet worden, so der BGS.
Viele Zuschauer reagierten auf das Urteil mit Empörung: "Ich bin entsetzt", sagte eine Zuschauerin. "Die drei haben Menschen erdrückt, das ist nachgewiesen. Und jetzt dürfen sie weiterhin Beamte bleiben, werden weiter von unsern Steuergeldern bezahlt. Das ist ohne Worte." Eine andere zeigte sich "überhaupt nicht einverstanden. Es kann nicht sein, dass das Leben eines Flüchtlings nur neun Monate auf Bewährung wert ist."
Viele Beobachter hatten von Gehrke, der als eigenwilliger und mutiger Richter gilt, ein anderes Urteil erwartet. Er hatte in seiner Laufbahn mehrere aufsehenerregende Prozesse geleitet. So hatte er das Urteil im berühmten Tucholsky-Prozess von 1989 gesprochen. Damals entschied er, das Zitat "Soldaten sind Mörder" sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt, und sprach den Angeklagten frei - ein Spruch, den der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl als "Schandurteil" denunzierte. Der Ageeb-Prozess war Gehrkes letzter Prozess vor seiner Pensionierung.
Dass es in Zukunft zu ähnlichen Verfahren kommt ist unwahrscheinlich. Die Moralpredigt des Richters an die Verantwortlichen ließ diese unbeeindruckt. Otto Schily zeigte sich nicht empört über die Zustände im BGS - Gehrke hatte von einem "Sauhaufen" gesprochen -, sondern über den Abu-Ghraib-Vergleich des Vorsitzenden.
Und während in den Medien viel Aufhebens über neue Ausbildungsvorschriften, Fesselungen und "TÜV-geprüfte" Helme gemacht wurde, sind die wichtigsten Konsequenzen, die aus den wiederholten Skandalen um Tod bei Abschiebungen gezogen wurden, andere: Mittlerweile werden Flüchtlinge nicht mehr in Linienmaschinen ausgeflogen, sondern in sogenannten "Euro-Chartern". Das sind Flugzeuge, die von jeweils einem europäischen Land gechartert und dann gemeinsam genutzt werden. Keine Zeugen und unterschiedlichste nationale Rechtsvorschriften für die Beamten in einem Flugzeug - damit wird es erst recht unmöglich, jemanden für die Misshandlung von Flüchtlingen zur Rechenschaft zu ziehen.