Auf dem Weg zum europäischen Polizeistaat

Nach den Anschlägen von Madrid ist der "Kampf gegen den Terror" ins Zentrum des EU-Frühjahrsgipfels vom 25. und 26. März in Brüssel gerückt. Von den europäischen Medien wurde das Treffen der europäischen Regierungschefs als Markstein zur weiteren Integration Europas gewertet, die Frankfurter Rundschau sah in den Terrorattacken gar einen "Dauerbeschleuniger" für die weitere Vertiefung der Europäischen Integration.

Die Anschläge hätten ermöglicht, so der Tenor, dass nationalstaatliche Interessen zu Gunsten eines gemeinschaftlichen Handelns aufgegeben würden. Durch die Abwahl der konservativen Aznar-Regierung in Spanien und den Rücktritt des polnischen Premierministers Leszek Miller soll zudem der Weg für die Verabschiedung der europäischen Verfassung noch bis zum Juni 2004 ermöglicht werden. Wo vor kurzem noch allenthalben ein Riss zwischen "altem" und "neuem" Europa festgestellt wurde, wird nun wieder die europäische Einigkeit beschworen.

Doch zusammenrücken werden erst einmal nur die europäischen Sicherheitsorgane, die sich besser koordinieren sollen. Der Kampf gegen den Terror dient dabei wie schon nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA als Vorwand, um demokratische Rechte der Bevölkerung drastisch einzuschränken.

Innerhalb von nur zehn Tagen haben sich die europäischen Regierungen und die EU-Kommission auf ein Maßnahmenbündel geeinigt, das auf dem Gipfel ohne große Diskussionen in kürzester Zeit abgesegnet wurde. Die Kommission hatte im Eiltempo einen Entwurf zusammengestellt, der als Vorlage für die am Donnerstag verkündete "Erklärung zur Bekämpfung des Terrorismus" diente.

Auf den ersten Blick nimmt sich diese Erklärung recht unspektakulär aus: Bereits Beschlossenes soll forciert, ein EU-Sicherheitskoordinator installiert und der Informationsaustausch zwischen den Ländern verbessert werden. Tatsächlich wird aber eine Sicherheitspolitik verwirklicht, die eine bisher nicht gekannte Überwachung und Erfassung der gesamten Bevölkerung beinhaltet, praktisch jeden unter Generalverdacht stellt und die Militarisierung der europäischen Innenpolitik vorantreibt. Dadurch können die Maßnahmen ohne Weiteres auch zur Unterdrückung sozialer Proteste und missliebiger Meinungen eingesetzt werden.

Die Aushebelung des Datenschutzes

Mit der fadenscheinigen Begründung, ein stärkerer Austausch von Geheimdienstinformationen zwischen den EU-Staaten hätte die Terroranschläge von Madrid möglicherweise verhindert, nickten die Regierungschefs die Vorschläge der EU-Kommission zu einem verbesserten Informationsaustausch ab.

Doch dazu müssen diese Informationen erst einmal erfasst werden. Als Wundermittel gelten hier vor allem biometrische Daten. Dahinter verbirgt sich die Erfassung von Gesichtsmerkmalen und Fingerabdrücken. Diese werden digitalisiert und auf spezielle Chips gebannt, mit denen Identitätsausweise bestückt werden. Für Visaanträge werden schon jetzt Fingerabdrücke genommen, die in der europäischen Datenbank EURODAC gespeichert werden. Abgeschobene Ausländer werden dadurch bereits bei der Visaantragstellung identifiziert und an einer neuerlichen Einreise in die EU gehindert.

Zukünftig sollen aber nur noch Personen Visa erhalten, die Reisedokumente mit biometrischen Daten vorweisen können, die dann in dem Visainformationssystem VIS zentral gespeichert und allen Grenzposten und Polizeibehörden der EU zugänglich gemacht werden. Die EU ist dabei durchaus ehrgeizig und will die größte Sammlung von biometrischen Daten weltweit schaffen. Anvisiert ist die Speicherung von 70 Mio. Datensätzen, die bis zu fünf Jahre im System verbleiben.

Doch auch die EU-Bürger bleiben nicht davon verschont. Ab 2006, und damit ein Jahr früher als zunächst geplant, sollen in der EU nur noch Reisepässe mit biometrischen Daten ausgestellt werden. Durch die zentrale Speicherung lassen sich Bewegungsprofile aller EU-Bürger erstellen.

Später sollen dann auch sämtliche Identitätsausweise mit biometrischen Daten ausgestattet werden. Die Bevölkerung wird so unter Generalverdacht gestellt, da dann ein kompletter Satz der Fingerabdrücke und der Gesichtsmerkmale aller EU-Einwohner vorliegen würde. Jede Überwachungskamera, die an die zentralen Dateien angeschlossen ist, könnte dann durch ein Gesichtserkennungssystem erfassen, wer sich gerade wo aufhält. Angedacht ist dies vor allem für Flughäfen und Bahnhöfe.

Der Datenschutz wird zudem weiter eingeschränkt, indem zukünftig auch für innereuropäische Flüge die Fluglinien ihre Passagierdaten inklusive sehr sensibler Daten den europäischen Behörden zur Verfügung stellen müssen. Neben den Reiseinformationen stehen den Behörden dann auch Informationen über Kreditkarten, frühere Reisen und ggf. gesundheitliche Probleme offen. Zuvor haben bereits die USA die Bereitstellung dieser Daten von den europäischen Fluglinien für Transatlantikflüge verlangt. Tatsächlich erhalten aber die Behörden in den USA und in der EU demnächst einen direkten Zugriff auf die Buchungsssysteme der Fluglinien, so dass sämtliche Flüge erfasst werden können.

Die Fingerabdrucksdateien und DNA-Profile, die etwa bei Speicheltests ganzer Landstriche erstellt und in den EU-Staaten bisher national gesammelt werden, sollen ebenfalls abgeglichen und zusammengeführt werden. Für die DNA-Profile wurden die EU-Mitgliedsstaaten bereits 1997 aufgefordert, kompatible Datenbanken anzulegen. Dabei wurde weder ein Deliktskatalog erstellt noch die Verwendung der Daten eingeschränkt, so dass die DNA-Profile relativ ungehemmt gesammelt und gespeichert werden können.

Bis zum Juni 2005 soll zudem auf Vorschlag des britischen Inneministers David Blunkett die Kommission Empfehlungen formulieren, mit denen Telefongesellschaften und Internetprovider zu einer fünfjährigen Speicherung von Benutzerdaten verpflichten werden können. Da Handys bei den Madrider Terroranschlägen eine entscheidende Rolle gespielt haben sollen, will die EU die lückenlose Überwachung der Benutzung von Mobiltelefonen, E-Mail-Accounts und sogar der besuchten Websites ermöglichen.

Forciert wird schließlich auch die Errichtung des neuen Schengener Informationssystems SIS II, das das alte SIS I ablösen soll, das mit den Datenmengen durch die EU-Osterweiterung endgültig an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Das SIS sollte ursprünglich die Fahndung nach gestohlenen Sachen wie Autos erleichtern, mutierte aber mehr und mehr zu einem Personenerfassungssystem.

Bereits heute sind mehr als 1 Million Personen im SIS erfasst, darunter zum größten Teil Flüchtlinge und Asylsuchende, die abgeschoben werden sollen oder denen man die Einreise verweigern will. Anhand des SIS wurde aber auch schon Personen die Ein- und Ausreise verweigert, die an Protestmärschen gegen WTO- oder G8-Gipfel teilnehmen wollten.

Allerdings beschränkt sich die Eintragung bisher auf die knappe Mitteilung, um welche Personen es sich handelt, den Fahndungszweck wie etwa Einreiseverweigerung und die ausschreibende Stelle. Begrenzt war die Speicherung der Daten auf einen Zeitraum von drei Jahren.

Dieser Zeitraum soll nun erheblich verlängert werden, aber auch die Qualität der Daten wird enorm ausgeweitet. Zukünftig werden persönliche Merkmale ebenso mit aufgenommen wie Datenfelder für biometrische Daten und persönliche DNA-Profile. Das SIS II wird zudem auf der gleichen technischen Plattform betrieben werden wie das Visainformationssystem, so dass die Datensätze miteinander kompatibel werden.

Entscheidend ist aber nicht nur die Speicherung der Daten, sondern die Nutzung, also wer welchen Zugriff auf die erstellten Dateien hat. Und hier vertritt der deutsche Innenminister Otto Schily schon seit Jahren die Auffassung, der Zugriff solle möglichst niedrigschwellig erfolgen. Selbst einfache Verkehrspolizisten sollen nach Schilys Vorstellung an das SIS angebunden und die Ausländerbehörden in die Datenerfassung mit einbezogen werden.

Hatten bislang einige seiner Kollegen hierbei noch datenschutzrechtliche Bedenken, sind diese nach dem 11. März hinfällig geworden. Die bereits vor Monaten vom europäischen Rat beschlossene Entwicklung von Grundsätzen des Datenschutzes liegt derweil auf Eis, so dass ein nahezu ungehinderter Informationsfluss vorprogrammiert ist.

Daneben wird auch ein Abgleich mit den bei Europol erfassten Daten stattfinden. Die europäische Polizeibehörde ist vor allem eine Informationspolizei, die Analysedateien zu verschiedensten Bereichen unterhält, in denen bis zu 100.000 Einzeldaten gespeichert sind. Diese Dateien umfassen höchst sensible Daten über Beschuldigte, Verdächtige, Zeugen, Opfer, Kontaktpersonen usw. Die Analyse- und Arbeitsdateien werden nicht eingerichtet, weil irgendwo eine Straftat begangen wurde. Vielmehr entscheidet Europol anhand eigener strategischer und kriminalpolitischer Gesichtspunkte über den Aufbau von Dateien.

Europol arbeitet eng mit den jeweiligen Geheimdiensten zusammen und erhält von dort auch viele seiner erfassten Daten. Durch die Verzahnung von SIS mit den Europol-Servern arbeiten die Geheimdienste nun immer enger mit den Polizeien der einzelnen Länder zusammen. Die Trennung von Geheimdienst und Polizei und die Nichtverwertbarkeit von Geheimdienstinformationen vor Gericht wird so auf europäischer Ebene stark ausgehöhlt.

Einen massiven Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit stellt auch die rasche Umsetzung des europäischen Haftbefehls dar, der zwar schon lange beschlossen ist, aber von fünf Staaten noch nicht in nationales Recht übernommen wurde. Er ist nicht auf Terrorismus beschränkt, sondern umfasst zurzeit 32 Straftatbestände und umgeht Rechtsschutzstandards.

Ein Mitgliedsstaat schreibt eine Person europaweit zur Fahndung aus, wobei er nur die Straftat angeben, aber keine justiziellen Nachweise über die tatsächliche Schuld oder Verdachtsmomente vorlegen muss, wie dies bei Auslieferungsverfahren üblich ist. So werden im Endeffekt Razzien und Hausdurchsuchungen ohne jede richterliche Kontrolle ermöglicht und der Grundsatz des habeas corpus außer Kraft gesetzt, laut dem kein Mensch ohne richterlichen Haftbefehl verhaftet oder in Haft gehalten werden darf.

Die Militarisierung der europäischen Innenpolitik

Wird die europäische Ebene einerseits dazu benutzt, unter dem Deckmantel des "Kampfes gegen den Terror" die Datenschutzbestimmungen einzelner Länder aufzuweichen, forcieren die Beschlüsse der Sonderkonferenz der EU-Innenminister auch eine Militarisierung der europäischen Innenpolitik.

Der Posten eines Sicherheitskoordinators wird neu geschaffen. Er soll von dem Holländer Gijs de Vries besetzt werden, der zuletzt für die niederländischen Liberalen im Europaparlament saß. Gijs de Vries wird einer "Clearingstelle" vorstehen, in der Geheimdienstinformationen über mutmaßliche terroristische Personen und Gruppen zusammenlaufen und Aktivitäten koordiniert werden sollen. Welche Gruppen als "terroristisch" eingeschätzt werden, soll dabei zukünftig nicht mehr einstimmig, sondern durch einfache Mehrheit entschieden werden.

Der Sicherheitskoordinator wird im Ministerrat angesiedelt und Javier Solana unterstellt, der für die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU zuständig ist. Die Clearingstelle wird somit dem "militärischen Hauptquartier" der EU angehören.

Und das passt zur vorzeitigen Verabschiedung der Solidaritätsklausel aus dem noch umstrittenen EU-Verfassungsentwurf. In dieser Solidaritätsklausel heißt es (in nicht zufälliger Ähnlichkeit zur NATO-Sprache), dass sich die EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, sich im Falle eines terroristischen Anschlags gegenseitig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Dazu zählen vor allem polizeiliche und militärische Mittel, um "demokratische Institutionen und die Zivilbevölkerung" zu schützen. Die Solidaritätsklausel würde dann den Einsatz von Polizei- und Militärkräften EU-weit legitimieren.

Die Definition "terroristischer Akte", die die EU in einem Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Terrorismus aufgestellt hat, lässt nach Meinung von Zivilrechtsgruppen wie statewatch genügend Spielraum, um bei weitläufiger Auslegung auch Massenproteste bei internationalen Gipfeltreffen darunter zu zählen. Dem Einsatz des Militärs gegen solche Proteste stünde dann mit der Solidaritätsklausel nichts mehr entgegen. Die Positionierung des Sicherheitskoordinators im militärischen Zentrum der EU macht deutlich, dass die herrschende Elite die Solidaritätsklausel durchaus ernst meint.

Die getroffenen Maßnahmen werden kaum dazu beitragen, die Bevölkerung vor Terroranschlägen wie in Madrid zu schützen. Stattdessen wird die polizeiliche Kontrolle und Überwachung der gesamten Bevölkerung in Europa vorangetrieben. Die herrschende Klasse benutzt einmal mehr tragische Ereignisse, um demokratische Grundrechte, die sich die Arbeiterklasse erkämpft hat, zur Disposition zu stellen. Die informationelle Selbstbestimmung, die Reisefreiheit, die Trennung von Polizei und Geheimdiensten und der Anspruch auf rechtsstaatliche Verfahren werden im Namen der Sicherheit mehr und mehr aufgehoben.

Gleichzeitig wird den Polizeien und Militärs praktisch eine Blankovollmacht ausgeschrieben, bei neuerlichen Anschlägen auch gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen. Denn mehr als die Terroranschläge selbst hat die europäische herrschende Elite die politische Reaktion der spanischen Bevölkerung aufgeschreckt, die in der Abwahl der Aznar-Regierung mündete.

Siehe auch:
Die Zeit beschimpft die spanischen Wähler
(24. März 2004)
Ein Jahr seit dem 11. September: Beispiellose Angriffe auf demokratische Rechte
( 17. September 2002)
Otto Schilys Anschlag auf demokratische Grundrechte
( 1. November 2001)
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