Die Passion Christi - Weshalb findet der Film in Amerika so große Resonanz?

Die Passion Christi , Regie: Mel Gibson, Drehbuch: Gibson und Benedict Fitzgerald

Mel Gibsons Film Die Passion Christi ist abstoßend, doch nicht ohne Bedeutung. Das Werk trägt weder zum Verständnis des Lebens und der Lehren Jesus' bei, noch verdeutlicht es die Beziehung zwischen Religion und modernem Leben (auch nicht aus der Perspektive eines Gläubigen). Doch es gewährt Einblick in eine bestimmte Lebenseinstellung und Stimmung im heutigen Amerika. Insofern ist Gibsons Film kein theologisches und erst recht kein künstlerisches Werk, sondern ein autobiographisch gefärbter Angstschrei, der als solcher gewisse Einsichten eröffnet.

Die Passion Christi ist unter großem Medienwirbel in den amerikanischen Kinos angelaufen und zog viele Zuschauer aus dem fundamentalistischen, christlichen Lager an. In den amerikanischen Medien wurde der Kinofilm mit Hochachtung behandelt. Rupert Murdochs Boulevardblatt New York Post und auch die New York Daily News widmeten ihm ihr Titelblatt. Alle großen Zeitungen brachten eine Schlagzeile auf der ersten Seite und das Fernsehen bewarb den Film intensiv. Doch es waren auch kritische Stimmen von Seiten liberaler oder jüdischer Rezensenten zu vernehmen.

Die wichtigsten Fakten über das Entstehen der Passion Christi sind inzwischen allgemein bekannt. Gibson, Hauptdarsteller in zahlreichen Actionfilmen der letzten zwei Jahrzehnte, gehört einer der vielen katholischen Splittergruppen an, die das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) ablehnen. Sein Vater Hutton Gibson ist ein Holocaust-Leugner, der bereits seit Jahrzehnten gegen die Kirchenleitung zu Felde zieht. Gibson senior bezeichnete das Zweite Vatikanische Konzil, das unter anderem die Juden von der Verantwortung für den Tod Christi freisprach, als "jüdisch unterstützte freimaurerische Verschwörung".

Der Schauspieler Gibson finanzierte Die Passion Christi aus eigener Tasche. Der Film wurde in Italien auf Latein und Aramäisch gedreht. Der Hauptdarsteller James Caviezel, ebenfalls überzeugter Katholik, bezeichnete den Film in der christlichen Talkshow "The 700 Club" Ende Februar als seine "Berufung". Letztes Jahr führte Gibson einem Publikum aus christlichen Fundamentalisten und anderen Figuren des rechten politischen und kulturellen Spektrums eine Kurzfassung des Films vor. Potenzielle Kritiker blieben von dieser Vorabfassung ausgeschlossen.

Der Film erzählt die letzten zwölf Stunden im Leben von Jesus Christus, wie sie durch die vier Evangelien des Neuen Testaments überliefert sind. Außerdem flossen die Passionsvisionen (aufgezeichnet durch Clemens von Brentano) der Augustinerin Anna Katharina Emmerich (1774-1824) ein. Die Mystikerin ergänzt in Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus die Evangelien um sadistische und antisemitische Details. Sie verweist ständig auf "den jüdischen Mob", der "grausam", "hartherzig" und "böse" genannt wird.

Gibsons Film ist weitaus brutaler, als irgendein anderer Film dieses Bekanntheitsgrades zuvor. Zwei Stunden lang wird ein Mann geschlagen, verprügelt, ausgepeitscht, malträtiert, gefoltert und schließlich ans Kreuz genagelt. Alle bluttriefenden, grausigen Details wurden genüsslich inszeniert. Bildsprache und Erzählstruktur der Passion Christi sind stark antisemitisch. Doch rühren die bestialischen Gewaltszenen den Zuschauer seltsam wenig an.

Der Regisseur erläuterte, er habe sich auf die letzten Stunden des irdischen Daseins Jesus' beschränkt, um die "Größe seines Opfers" hervorzuheben. Doch daneben sind andere Motive erkennbar: Der enge Blickwinkel der Passion Christi erstickt jede ernsthafte Diskussion über den sozialen und religiösen Inhalt von Christus' Lehren im Keim. Jesus' große Popularität in breiten Schichten der jüdischen Bevölkerung Jerusalems bleibt unerwähnt. Die Evangelien berichten, dass Jesus nur wenige Tage vor seinem Tod von jubelnden Menschenmengen in der Stadt willkommen geheißen wurde. Die meisten Berichte über die Passion beginnen mit dem triumphalen Einzug in Jerusalem.

Dagegen setzt Gibsons Werk mit Jesus' innerem Konflikt im Garten Gethsemane in der Nacht vor der Kreuzigung ein. Er bittet Gott, das Kommende vorausahnend: "Lasse diesen Kelch an mir vorübergehen", fügt aber hinzu: "Dein Wille geschehe." Ein finsterer, androgyner Satan, der im Film noch mehrere Male erscheint, führt ihn in Versuchung.

Durch den Verrat seines Jüngers Judas gerät Jesus in Gefangenschaft. Wie kam es überhaupt, dass die Römer, gedrängt vom jüdischen Hohepriester, Jesus mitten in der Nacht festnahmen? Gibsons Film geht darauf nicht ein, sonst müsste er erwähnen, dass die Römer befürchteten, die Verhaftung des charismatischen Propheten würde zu breiten Protesten der Juden führen.

Unmittelbar auf die Ölbergszene folgen grausame Bilder. Emmerichs Fassung entsprechend, lassen die Soldaten Jesus an den Ketten seiner Fesseln über die Brüstung einer Brücke hängen und töten ihn dadurch fast.

Vor einer Versammlung jüdischer Geistlicher, deren Hohepriester Kaiphas ist, wird Jesus als Häretiker verurteilt. Sie wollen wissen, ob er sich als "Sohn Gottes" bezeichne, und er antwortet, "Ich bin es." Darauf bespucken und verhöhnen die beleidigten Juden ihn und kreischen: "Tod!"

Leon Wieseltier schrieb über Gibsons Darstellung der jüdischen Würdenträger in der New Republic zu Recht: "Kaiphas, der von einem Schauspieler namens Mattia Sbragia mit erstaunlichem Eifer verkörpert wird, scheint geradewegs aus Oberammergau (deutsches Passionsspiel des Mittelalters, in dem die Juden als Christusmörder bezeichnet werden) angereist zu sein. Er und seine Priester tragen allesamt graue Rabbinerbärte, sprechen mit spöttisch-rauer Stimme, und bewegen sich flink unter tallitähnlichen, goldfarben durchwirkten Stoffen. Er verkörpert die Kälte des Geldes. Sein Ziel ist die Hinrichtung." Es handelt sich, wie Wieseltier bemerkt, um "klassische antisemitische Klischees".

Während Pontius Pilatus und die anderen römischen Beamten zögern, die Todesstrafe über Christus zu verhängen, kennen die Führer der Juden kein Erbarmen. Sie geraten eher noch mehr außer sich und werden noch blutdürstiger. Gibson folgt auch hier dem aggressiven Tenor der Schriften Emmerichs: "Der Anblick von Jesu Leid erfüllte die hartherzigen Juden nur mit Abneigung und fachte ihren Zorn an, statt ihr Mitgefühl zu wecken. Ihre grausamen Herzen kannten kein Mitleid."

Kaiphas und "der jüdische Mob" fordern Jesus' Tod, doch Pilatus sichert lediglich zu ihn zu "geißeln". Einige grobschlächtige römische Soldaten nehmen eilfertig Aufstellung, um Jesus zu peitschen, zu schlagen und auf jede erdenkliche Weise zu misshandeln. Diese Sequenz dauert beinahe eine halbe Stunde und gehört zu den abstoßendsten im ganzen Film. Die kantigen Soldaten schlagen Jesus zuerst mit Seilen, dann mit Peitschen und am Ende mit einer neunschwänzigen Katze, in deren Enden Metall eingearbeitet wurde. Letztere wird zunächst an einem Holzpfosten ausprobiert, wo der Schlag Holzstücke absplittern lässt. Als Jesus damit gepeitscht wird, fliegen Haut- und Fleischstücke durch die Luft. Am Ende der Geißelung, die kein Mensch ertragen könnte, ist Jesus' Körper nur noch eine Masse aus gestriemtem, blutigem Fleisch. Die Dornenkrönung bedeutet eine weitere Etappe der Qual und neuerliches Blutvergießen.

Als der fast gehäutete und nahezu ohnmächtige Jesus erneut dem jüdischen Mob vorgeführt wird, fordert dieser immer noch seinen Tod. Aus Angst vor Massenunruhen willigt Pilatus ein und verfügt die Kreuzigung. Jesus wird dazu verurteilt, das massive Holzkreuz auf den Kalvarienberg zu tragen (drei Evangelien berichten, dass ein anderer Mann es für Jesus trug; historisch überliefert ist, dass Verbrecher jeweils nur den Querbalken tragen mussten). Das Einschlagen der Nägel in die Hände und Füße Jesus' ist eine weitere fürchterliche Szene, in der die betrunkenen römischen Soldaten ihrem Opfer schreckliche Qualen zufügen. Gekreuzigt, erbittet Jesus Vergebung für seine Peiniger und stirbt. Als ein Zenturio einen Speer in die Seite des Toten bohrt, schießt eine Blutfontäne heraus. Im Epilog ersteht Jesus, abgesehen von den Wundmalen in seinen Handflächen unversehrt, von den Toten wieder auf.

Gibsons Absichten

Was soll das alles?

Gibson, in den USA geboren und in Australien aufgewachsen, ist nicht untalentiert und besitzt gewisse schauspielerische Qualitäten. Seine Version von Hamlet war nicht gerade brillant, doch an manchen Stellen bewegend und eine ganz ordentliche Arbeit. Neben dem äußerst brutalen Mad Max und der Lethal-Weapon -Reihe spielte Gibson in einer Reihe von Filmen mit, die unter die "New Wave" australischer Regisseure (Peter Weit und Gilllian Armstrong) seit den 1970ern fällt. Sein Spiel in Tequila Sunrise und The River war exakt. Diese Charaktere (vielleicht drückt sich darin etwas von seiner eigenen Persönlichkeit aus) zeigten in gleichen Teilen echten Charme, Unschlüssigkeit und todesverachtendes Draufgängertum.

Auch als Regisseur (Der Mann ohne Gesicht und Braveheart) hatte Gibson durchaus geglückte Momente. Im Pontius Pilatus der Passion, vielleicht dem einzigen widersprüchlichen Charakter, beweist er Einfühlungsvermögen und bemüht sich um Verständnis. Aber seine ideologische Befangenheit hindert ihn daran, auch die jüdischen Würdenträger so zu gestalten.

Seine Charaktere sind comichaft flach. Entweder man gewöhnt sich an das Blutvergießen oder man wendet sich mit Grauen ab. Die Gesamtwirkung ist Langeweile und Monotonie. Eine tiefer gehende künstlerische oder geistige Erfahrung bleibt aus. Obwohl es sich um die Wiedergabe eines Wunders handelt, versucht der Film nicht, die mythischen, feierlichen oder epischen Elemente von Religion und Religiosität zu vermitteln. Die ganze Begebenheit wird auf banale, fast unbeteiligte Weise erzählt, und bis auf die enorme Grausamkeit des Films bleibt prägt sich nichts ein.

Die Zerstörung eines passiven, wehrlosen menschlichen Körpers ist ein entsetzliches, aber nicht unbedingt sonderlich bewegendes Schauspiel. Denn um die Bedeutung von Jesus' Tod zu verstehen, muss man die Bedeutung seines Lebens ermessen. Gibsons Glaubensbekenntnissen zum Trotz bleibt sein Jesus Christus eine seelenlose Hülle. Seine Mutter Maria, Maria Magdalena und seine Gefolgsleute geraten zu bloßen, geschockten Zeugen des Geschehens. Aktivität und Lebendigkeit gibt es nur auf Seiten der Peiniger und Unterdrücker. Das ist ein merkwürdiger Zustand - wie könnte ein solcher Film Zweifler oder Skeptiker von der Wahrheit der Lehren Christi überzeugen?

Es muss betont werden, dass Gibsons Film kaum oder gar nicht in der Tradition des katholischen oder christlichen Glaubens oder seiner Bildsprache (Ikonographie) steht. Die Passionsgeschichte umfasst in den Evangelien jeweils nur drei oder vier Kapitel (Matthäus 26-28, Markus 14-16, Lukas 22-24 und Johannes 18-21). Markus lässt es bei "Und es kam die dritte Stunde und sie kreuzigten ihn" bewenden. Der Schwerpunkt der Evangelien liegt auf Christus' Lehren, und nicht auf den Schrecken seines Todes.

Der katholische Priester Gérald Caron aus Kanada schreibt darüber: "Aus Passion und Tod Christi ein solches Spektakel zu machen, verflacht, theologisch gesehen, die Bedeutung seiner Botschaft und seines Wirkens. Nicht Christus' Blutvergießen und sein Leid erlöst uns, sondern sein Tod als krönender Abschluss eines Lebens ‚als Diener', wie es Markus in 10,45 ausdrückt. Um seiner Bestimmung und Lebensaufgabe treu zu bleiben musste er diesen Preis entrichten, doch nicht an Gott. Es war seine Vision des Gottesreichs, die ihn ans Kreuz brachte, nicht umgekehrt."

Bilder von Jesus und insbesondere der Passionsgeschichte sind aus der abendländischen Kunst nicht wegzudenken. Dies gilt für die Zeit Giottos Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts bis zur niederländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts. Wohl alle großen Künstler stellten dieses Thema dar: Bellini, Mantegna, El Greco, Bosch, Dürer, Caravaggio, Van Dyck, Piero della Francesca, Fra Angelico, Grünewald, Tizian, Correggio, Rembrandt, Leonardo (Das letzte Abendmahl), Michelangelo, Raphael, Tintoretto, Botticelli, Van Eyck, Cranach, Rubens, Velázquez und viele andere.

Der zeitgenössische Museumsbesucher mag der religiösen Bilder überdrüssig werden, doch zu ihrer Zeit entfalteten sie unter den Betrachtern und den Künstlern eine große kollektive spirituelle Wirkung. Wie Trotzki es ausdrückte, verschwanden durch die "doppelte Buchführung" des Christentums die Mängel und Schwierigkeiten des Lebens nicht, sondern wurden auf der Ebene der Vorstellungskraft gelöst. Die Kirche stellte eine Art Scheck über die Erlösung der unterdrückten Massen im Leben nach dem Tod aus. Die Künstler und Betrachter zogen echten Trost aus dem Tod und der Wiederauferstehung Christi, eines Gottes in Menschengestalt, der ihr Leid mitfühlte, der für sie starb und dessen Auferstehung Aussicht auf das irdische Paradies eröffnete.

Doch in Gibsons Passion Christi kommen Mitgefühl und Menschenliebe, also das "Christliche" im besten Wortsinn, so gut wie gar nicht vor.

In den Bibelepen der Nachkriegszeit (Quo Vadis, Das Gewand, Die Gladiatoren, Ben Hur, König der Könige, Barabbas, Die größte Geschichte aller Zeiten) wurden trotz ihrer Unbeholfenheit und manchmal sogar ungewollten Komik wichtige Themen angesprochen: Toleranz, Vergebung, die Auflehnung gegen Unterdrückung und Grausamkeit. Besonders nach dem Holocaust und der Schlächterei zweier Weltkriege waren die Filmemacher vom Geist der universellen Brüderlichkeit und des Widerstands gegen Tyrannei erfüllt und fanden ein empfängliches Publikum dafür vor.

Viele werden sich an die Szene in Ben Hur erinnern, in der Jesus einem durstigen Sklaven zu trinken gibt und dadurch einen römischen Soldaten provoziert, der ihn danach bedroht. Jesus steht einfach da, ein Sinnbild des Mitgefühls, und blickt den Soldaten an, der sich bestürzt trollt.

Man könnte sagen, dass jede Generation ein eigenes Christusbild entwickelt. Pier Paolo Pasolinis Das Evangelium nach Matthäus (1964) steht lose in der Tradition der "Befreiungstheologie". Pasolinis Werk, das als Begleiterscheinung der Annäherung von Katholiken und Kommunistischer Partei im Italien der frühen sechziger Jahre unter dem Verdacht politischer Voreingenommenheit steht, enthält dennoch atemberaubende Momente. Pasolinis Christus vertreibt die Geldverleiher eindrucksvoll aus dem Tempel, weist seine Schüler an, ihren Besitz zu verteilen und ihre Familien zu verlassen, und schenkt seine Zuneigung den Armen und Schwachen.

Gibson hat andere Absichten. Es mag sein, dass der Regisseur kein konkretes politisches Programm verfolgt, doch unvoreingenommen ist er auch nicht. Dass er seine Kurzfassung der Passion im letzten Sommer Journalisten wie Peggy Noonan vom Wall Street Journal, Kate O´Beirne (National Review), der Kommentatorin Linda Chavez (Fox Channel) sowie David Kuo, dem stellvertretenden Vorsitzenden der "Gläubigen Initiative" der Bush-Regierung - allesamt stramme Rechte - vorführte, lässt gewisse Rückschlüsse auf seine allgemeine politische Orientierung zu.

Die traditionalistische Strömung der katholischen Kirche ist seit jeher eng mit rechter Politik verbunden. Michael Cuneo schrieb in The Smoke of Satan, dass ihre Anhänger "nichts mehr wünschten, als in die Zeit Louis XIV. oder in Francos Spanien zurückversetzt zu werden, als der Katholizismus noch eine uneingeschränkte Vorherrschaft über das kulturelle Leben besaß und andere Religionen vollkommen von seinem Wohlwollen abhingen". In Verdict on Vichy erklärt Michael Curtis, dass einer der Gründer der Bewegung des Traditionalismus, der französische Erzbischof Marcel Lefebvre, eine ausgesprochen reaktionäre und antisemitische Politik unterstützte. Seine Bewegung bot viele Jahre Paul Touvier Zuflucht, der als Polizist des Vichy-Regimes im Zweiten Weltkrieg Juden gequält und ermordet hatte.

Wie könnte Gibson unter dem Einfluss solchen Gedankenguts und solcher gesellschaftlicher Kreise der menschlichen, äußerst subversiven Botschaft des Christus der Evangelien gerecht werden?

In seinen "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" zitiert Hegel die Bergpredigt: "Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen", und nennt dies "ein Spruch der höchsten Einfachheit". Dies "reine Herz", fährt Hegel in Anlehnung an die Bergpredigt fort, liebe die "Friedfertigen", die "um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden", die "vollkommen sein" sollen, "gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist".

Bemerkenswerte Gedanken!

Diese anspruchsvolle Doktrin, so Hegel, muss unweigerlich "polemische" (revolutionär-praktische) Form annehmen: "Was die Reinheit der Seele trüben könnte, soll vernichtet werden", fährt er fort. Weiter zitiert er Jesus: "Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe, was du hast und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach." Hegel kommentiert: "Würde dies so unmittelbar befolgt, so müsste eine Umkehrung entstehen: die Armen würden die Reichen werden."

Sozialistische Schriftsteller haben sich oft auf die Analogien zwischen dem frühen Christentum und der Arbeiterbewegung bezogen. Beide entwickelten sich als Bewegungen der Unterdrückten, das Christentum als eine Bewegung der Sklaven und befreiten Sklaven, armer Leute, denen alle Rechte vorenthalten werden. Beide Bewegungen sagen eine zukünftige Befreiung aus der Unterdrückung und aus der Armut voraus, das Christentum im Leben nach dem Tod, der Sozialismus durch eine Änderung der irdischen Zustände. Beide wurden Opfer grausamer Verfolgung, als ungesetzlich und zu Feinden der bestehenden Gesellschaftsordnung erklärt.

Dieser subversive, sozialistische Aspekt, der Eingang in fast alle Bibelfilme der Vergangenheit fand, fehlt in der Passion Gibsons. Welcher positive Inhalt tritt an seine Stelle?

Eine sozialtypische Persönlichkeitsstörung

Wieseltier und andere stellen Mängel des Films fest und verleihen ihrer Missbilligung Ausdruck. Richard Cohen von der Washington Post nennt das Werk Gibsons unter Hinweis auf die Gewaltverherrlichung "faschistisch". Doch keiner dieser liberalen oder exliberalen Rezensenten weist darauf hin, dass Die Passion Christi auch etwas Reales über das heutige Amerika und seine Gebrechen aussagt.

Gibson steht politisch gesehen rechts, doch der Film lässt sich nicht auf solche Kategorien reduzieren, auch wenn er sicherlich in der Bush-Kampagne eine Rolle spielt, ja geradezu zu einem Pfeiler des republikanischen Wahlkampfs geworden ist.

Der Film ist der Beleg für einen allgemeinen soziopsychologischen Wandel, der sich am deutlichsten in der Verbitterung, dem Unmut und auch Selbstmitleid bestimmter sozialer Schichten manifestiert.

In der Tradition des Passionsbildes stehen die römischen Soldaten und die jüdischen Zuschauer für uns, also die Menschheit allgemein, den Künstler oder die Künstlerin eingeschlossen. Der Tod Christi steht für die Fähigkeit des Menschen zu Bosheit, Gleichgültigkeit oder Güte. Das Bild kontrastiert diese Eigenschaften und ermöglicht uns damit, uns in Verhältnis zu ihnen zu setzen, zu prüfen, ob wir selbst "reinen Herzens" sind. Doch Gibson interessiert das nicht weiter. Solche Überlegungen sind nicht sein Thema.

Vielmehr scheint ein teilweise autobiographischer Ansatz in Gibsons Film durch, der sich aber nicht einfach auf seine individuelle psychische Verfassung bezieht. Es mag sein, dass der Schauspieler und Regisseur sich als einen verfolgten, misshandelten Menschen begreift, dem Unrecht angetan wurde. Persönliche Phobien sind sicherlich in den Film mit eingeflossen, doch es geht nicht primär um die spezifische Mixtur aus Aggression und Passivität in Gibsons Psyche.

Es geht um einen verbitterten, verstörten sozialen Typus. Er repräsentiert eine politische Tendenz, die tiefe Wurzeln in den USA besitzt, in den letzten Jahren klarer zu Tage trat und sich vor allem durch Verbitterung und Verfolgungsängste auszeichnet.

Derartige Personen und Gruppierungen des rechten politischen Spektrum sind davon überzeugt, dass Amerikaner im Allgemeinen und Christen im Besonderen einer bedrohten Spezies angehören und in einer fast ausschließlich feindlichen Umgebung leben. Diese Leute sehen sich von einer Welt voller Feinde umgeben, und die Ereignisse des 11. Septembers bestätigten sie in diesem Glauben. In diesem sozialen Milieu erscheint Bushs Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" gleichermaßen als Bestätigung und als Ruf zu den Waffen. Sie sind in dem Wahn befangen, dass ihnen buchstäblich jeder an den Kragen will. Unter Zuhilfenahme einer großen Portion Selbsttäuschung stellen sie die Wirklichkeit auf den Kopf und sehen Amerika - Gipfel der Ironie - in der Opferrolle.

Gibson teilt diese sozialtypische Persönlichkeitsstörung. Er bildet sich ein, dass ihm übel mitgespielt würde, dass er und andere christliche Amerikaner übergangen und verfolgt würden. Bei seinem Vater mündete dieser Wahn in Verschwörungsphantasien und Hass auf die katholische Hierarchie, die Juden und alle "Verräter" an der so genannten "Wahrheit". Man erinnere sich, dass sein Sohn in einem Film namens Verschwörungstheorie mitspielte, dort sprach er den Satz: "Jemand muss diese Beule aufschneiden, diese Eiterbeule des Vatikans."

Natürlich spricht Gibsons Film neben diesen Paranoikern auch andere Leute an, in erster Linie christliche Fundamentalisten. Doch was repräsentiert das Wachstum dieser Gruppen (und ihrer spezifischen katholischen Variante), wenn nicht einen konzentrierten ideologischen Ausdruck der zunehmenden Verwirrung und Desorientierung vieler Menschen in den Vereinigten Staaten.

Dieses Phänomen ist nicht schwer nachzuvollziehen, wenn man die gewaltigen Veränderungen bedenkt, die in der amerikanischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten vorgegangen sind. In erster Linie der ökonomische Wandel: Die Zerstörung oder der Verfall ganzer Industriesparten und Regionen, die Veränderungen durch die Globalisierung und Computerisierung, das Verschwinden des ländlichen Amerikas und seiner Kleinstädte. Hinzu kommen Veränderungen der Familienstrukturen, der Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften oder gewerkschaftlichen Interessensverbänden - alle herkömmlichen Bindungen bröckeln oder lösen sich auf.

Schwerwiegende Entscheidungen werden gefällt: in den Krieg zu ziehen und sich auf kommende Kriege vorzubereiten, den Sozialstaat zu zerschlagen, die Grundversorgung einzuschränken oder ganz abzuschaffen - alles hinter dem Rücken der Bevölkerung. Währenddessen verabschiedet sich die politische Elite von ihrem früheren liberalen Konsens, kippt nach rechts und fördert jede Art von Rückständigkeit, religiösen Aberglaubens und Bigotterie.

All dies passiert einfach, ohne Diskussion, ohne Auseinandersetzung! Für Massen von Menschen in den USA ist das politische Leben fern, fremd, feindlich, und unerreichbar für sie. Unter dem toten Gewicht des Zweiparteiensystems, dieser historischen Leiche, wird alles Lebendige erdrückt.

Ist es ein Wunder, dass breite Schichten der Bevölkerung sich mutlos, ausgegrenzt und sogar misshandelt fühlen? Es gibt Millionen malträtierter und gequälter Seelen in Amerika, die sich missbraucht, verraten und ihren Peinigern ausgeliefert fühlen. Außerstande, in einer progressiven, breit gefächerten sozialen Bewegung aufgehoben zu werden, nimmt diese Hoffnungslosigkeit vielerlei Formen an, die oftmals abstoßend und sogar asozial sind. Es hieße die Krise der amerikanischen Gesellschaft beschönigen, wollte man diese Realität verkennen oder falsch einschätzen.

Sicher wird die Passion in Europa nicht ganz die gleiche Wirkung erzielen - nicht, weil die amerikanische Gesellschaft an sich besonders anfällig für religiöse Hysterie wäre, sondern aus ideologischen Gründen, die in der Geschichte der Vereinigten Staaten liegen. In keinem anderen Industriestaat waren die herrschenden Eliten mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie so erfolgreich wie in den USA, wenn es darum ging, Sozialprogramme zu sprengen, den Lebensstandard im Interesse des Profits zu senken, und Widerstand und Opposition zu lähmen.

Gibson gehört nun nicht zu den Unterdrückten, sondern ist Multimillionär. Der "Seufzer der bedrängten Kreatur", wie Marx den religiösen Impuls nannte, fehlt in seinem Film. Doch in den Reaktionen darauf ist er durchaus enthalten. Die Passion Christi ist ein reaktionärer Film, doch sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, dass die Mehrzahl seiner Zuschauer, meist Angehörige der unteren Mittelschicht und der Arbeiterklasse, ebenfalls reaktionär sind. Dieser Film besitzt keine eindeutige soziale Botschaft. Wenn Gibson und seine Freunde in der Bush-Regierung einfach ihre menschenverachtende, reaktionäre Politik filmisch umgesetzt hätten, dann hätten sie kein so großes Publikum gefunden.

Trotzki sagte einmal, dass ein politischer Führer immer ein "Verhältnis zwischen Menschen" zum Ausdruck bringt, dass er ein "individuelles Angebot auf eine kollektive Nachfrage" darstellt. Gibson ist zwar kein Politiker, aber man könnte sagen, dass jedes kulturelle Phänomen, auch das rückwärtsgewandteste, ebenfalls ein Verhältnis zwischen Menschen oder die Reaktion auf eine soziale Nachfrage abbildet. Hier zeigt sich diese Nachfrage diffus und verwirrt, und setzt sich aus verschiedenartigen Bestandteilen zusammen.

Die Zuschauer der Passion interpretieren vieles in den Film hinein. Im Zuge der gegenwärtigen politischen Verwirrung reicht seine Wirkung in unterschiedliche soziale Schichten. Wie bereits gesagt, sind unter dem Publikum gewiss ultra-rechte, vielleicht sogar faschistische Elemente. Sie sprechen auf die Gewalt, die Verbitterung und die Paranoia an. Sie sehen ein von Arabern und anderen "Terroristen" gefoltertes, von den undankbaren, pharisäerhaften Franzosen und Deutschen verfolgtes Amerika. Diese reaktionären Kräfte wollen die Amerikaner daran gewöhnen, eigene "Opfer" zu bringen.

Doch andererseits zieht der Film auch die wirklich Unterdrückten an, jene, die mutig und oft vergebens im Alltag versuchen "ihr Kreuz zu tragen". Sie ziehen Trost aus Jesus' Leiden, um ihr eigenes Leiden zu bewältigen. Daran ist nichts Verwerfliches. Doch dieselbe Reaktion hat auch einen anderen, lähmenden Aspekt. Sie widerspiegelt auch die Lehre der passiven, resignierenden Schicksalsergebenheit, wie sie Menschen zu eigen ist, die ihre eigenen Probleme und ihre Lebensumstände noch nicht verstehen.

Die Passion Christi ist ein verwerfliches und schlechtes Werk. Diejenigen Kritiker, die den Film loben, seinen reaktionären Charakter herunterspielen oder schweigen, weil sie die Missbilligung der rechten Fundamentalisten fürchten, dienen der politischen Reaktion.

Während der Film unter künstlerischen und intellektuellen Aspekten bedeutungslos ist, weist die Resonanz, die er gefunden hat, weit über ihn und seinen Regisseur hinaus. Was immer das Schicksal von Gibsons Film sein wird, seine Wirkung unterstreicht die marode soziale und moralische Verfassung der kapitalistischen Gesellschaft Amerikas, deren eigene Passion unerbittlich näherrückt.

Anmerkungen:

(1) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, Frankfurt / Main 1970, S. 395f.

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