Ralph Naders einstündiges Treffen mit dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten John Kerry am 19. Mai dürfte all diejenigen ernüchtert haben, die den "unabhängigen" Kandidaten Nader für eine ernst zu nehmende oder grundsätzliche Alternative zum amerikanische Zweiparteiensystem halten.
Die Zusammenkunft hinter verschlossenen Türen fand auf Naders Wunsch hin in Kerrys Hauptquartier in Washington statt. Der Kandidat der Demokraten äußerte sich anschließend nur in ganz allgemeinen Wendungen über das Gespräch. Nader hingegen gab mehrere Presseinterviews, und seine Darstellung des Treffens wurde von Kerrys Mitarbeitern im Großen und Ganzen bestätigt.
Das wichtigste Thema der Wahlen 2004, der Krieg im Irak, blieb im Gespräch der beiden Kandidaten praktisch ausgeklammert. In einem Interview, das Nader der CNN-Reporterin Judy Woodruff kurz danach gewährte, erwähnte er von sich aus keinerlei Diskussion über den Krieg. Auf Woodruffs direkte Frage, ob das Thema angesprochen worden sei, antwortete Nader: "Ich sagte: Sie haben keine Ausstiegsstrategie. Er sagte, doch, die habe er."
Kerrys Berater Steve Elmendorf, der dem Treffen beigewohnt hatte, erklärte gegenüber der Presse, weder er noch die ebenfalls anwesende Wahlkampfmanagerin Mary Beth Cahill könnten sich irgendwelcher Äußerungen über den Irak entsinnen. Dabei bemühte sich Elmendorf sehr, die widersprüchlichen Berichte auszugleichen: "Ralph Nader ist ein sehr integrer Mensch, und wenn er sagt, er habe das Thema angesprochen, dann mag das so gewesen sein. Aber als ich dabei war, habe ich es nicht mitbekommen."
Kerrys Wahlkampfteam wiederum verwahrte sich nachdrücklich dagegen, dass Kerry eine "Ausstiegsstrategie" für den Irak habe. Nachdem er sich im Vorwahlkampf der Demokraten als sanfter Kriegskritiker ausgegeben hatte - um die Kandidatur Howard Deans erfolgreicher zu bekämpfen - zog sich Kerry in den vergangenen Monaten darauf zurück, der Bush-Regierung eine schlechte Kriegsführung vorzuwerfen, gleichzeitig aber die unbegrenzte Fortsetzung der US-Besatzung zu unterstützen.
Naders Angaben zufolge streifte er das Thema, indem er Kerry aufforderte, sich von der Politik der Regierung Bush zu distanzieren. In einem Telefoninterview mit der Los Angeles Times erklärte er: "Ich sagte ihm, er müsse dies aus dem Blickwinkel der Durchschnittsiraker betrachten und sich die Frage stellen, wie diese dazu bewogen werden könnten, sich von den Aufständischen loszusagen." Die Festlegung eines Termins für den "militärischen und unternehmerischen Abzug" aus dem Irak könnte dabei förderlich wirken. "Ich sagte, man muss der Öffentlichkeit eine Ausstiegsstrategie aufzeigen", erklärte Nader der Times. "Bush hat keine Ausstiegsstrategie. Er [Kerry] sagte: Ich habe durchaus eine Ausstiegsstrategie, zu der ich in Zukunft mehr sagen werde.’"
Diese ganze Episode ist ungeheuer entlarvend. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Aufstands im Irak und der weltweiten Auswirkungen der Enthüllungen über die Misshandlung - bis hin zu Folter und Mord - irakischer Gefangener in Abu Ghraib brachte Nader das Thema so gut wie gar nicht zur Sprache. Und als es trotzdem aufkam, erklärte er nach eigenen Angaben seine Übereinstimmung mit dem grundlegenden strategischen Ziel der Regierung Bush und der Demokraten: die Aufständischen zu isolieren und zu besiegen.
Lediglich im Hinblick auf die Taktik meldete er Meinungsverschiedenheiten an. Nader rät den amerikanischen Besatzern, einen Teil ihrer Macht an die Vereinten Nationen und die europäischen Mächte abzutreten, wenn sie die Kontrolle nicht ganz verlieren möchten.
Naders Gegenüberstellung von "Durchschnittsirakern" und "Aufständischen" zeigt, dass er den offiziellen Vorwand für den Kolonialkrieg akzeptiert - die Behauptung, der Einmarsch der USA diene der "Befreiung" des Irak, und die nicht weniger zynische Lüge, dass die bewaffnete Opposition wenig Unterstützung in der Bevölkerung genieße und ausschließlich aus Terroristen, Verbrechern und Überbleibseln des Hussein-Regimes bestehe.
Ungeachtet der Bemühungen Naders, Kerry als progressive Alternative zu Bush darzustellen, liegt dem demokratischen Anwärter auf das Präsidentenamt der militärische "Erfolg" der USA im Irak nicht weniger am Herzen, als dem gegenwärtigen Amtsinhaber. Ein Sieg Kerrys bei den Wahlen im November würde nicht das Ende des Krieges oder den Rückzug der amerikanischen Truppen bedeuten.
Kerry biedert sich bei der amerikanischen herrschenden Elite als der glaubwürdigere Kriegsführer an. Er verspricht erfolgreichere Bemühungen um internationale Unterstützung in Form von UN-Verwaltern, ausländischen Truppenkontingenten, Finanzhilfen und Investitionen, die allesamt der bedrängten US-Besatzungsmacht zugute kommen sollen. Und er positioniert sich als derjenige Kandidat, der die amerikanische Bevölkerung besser zu den langfristigen Opfern bewegen kann, die notwendig sein werden, um eine Art Kolonialherrschaft im Irak aufrechtzuerhalten: Kürzungen bei den Sozialausgaben und zusätzliches Militärpersonal, das nur durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht aufgebracht werden kann.
Nader weiß genau, dass Kerry mit den imperialistischen Kriegszielen des US-Einmarschs im Irak übereinstimmt. Wenn er dieses Thema nicht anspricht, dann deshalb, weil er diese Ziele gutheißt. Diese Haltung entspricht voll und ganz der Hofnarrenrolle, die Nader in Bezug auf den amerikanischen Imperialismus schon seit geraumer Zeit spielt. Er kritisiert - bisweilen recht scharf - bestimmte Merkmale der amerikanischen Wirtschaft, stellt das Profitsystem insgesamt aber nicht in Frage.
Diese Haltung zeigte sich auch in den Diskussionen zwischen Nader und Kerry, die den größten Teil ihres Treffens einnahmen. Sie drehten sich um innenpolitische Themen und um den Einfluss der Großkonzerne auf das politische System der USA. Nader beschwerte sich über die Rechtswende der Demokratischen Partei hinsichtlich der Themen Verbraucherschutz, Sozialausgaben und Auflagen für die Industrie, bei denen sie dem Druck der Wirtschaftsinteressen nachgegeben habe.
Diese Vorwürfe, so ein Mitarbeiter Kerrys, habe der Kandidat der Demokraten mit den Worten beantwortet: "Beurteilen Sie mich nicht anhand der Leute, die vor mir kamen. Sie hatten vielleicht Meinungsverschiedenheiten mit Bill Clinton, oder Al Gore, oder der Führung der Demokraten im Kongress... aber das bin nicht ich. Ich habe mich mit Ihnen auseinandergesetzt, ich war in vielen Fragen der gleichen Meinung wie Sie, und Sie sollten mich anhand meiner Tätigkeit im Senat beurteilen."
Nader bestätigte diesen Wortwechsel in späteren Presseinterviews. Kerrys Antwort, erklärte er, sei Musik in seinen Ohren gewesen. Weiterhin lobte er die "gemeinsame Entschlossenheit", "Subventionen, Vergünstigungen, Geschenke" an Unternehmen abzubauen, die Gewerkschaften zu stärken und "Wirtschaftskriminalität, Betrug und Missbrauch" zu bekämpfen.
Ungeachtet dieser starken Worte über Widerstand gegen die Macht der Unternehmen im politischen System der USA schwieg Nader über die Riesensummen, die aus den Kassen der Konzerne in die Wahlkampfkassen der Demokratischen Partei fließen. In jüngster Vergangenheit erhielt Kerry sogar mehr solche Spenden als Bush. Ebenso schwieg Nader über das offen antidemokratische Verhalten der Funktionsträger der Demokraten, die in mehreren Staaten Naders Kandidatur zu verhindern versuchen und gedroht haben, seine Unterstützungsunterschriften nach deren Einreichung gerichtlich anzufechten.
Stattdessen pries Nader Kerry in den höchsten Tönen. Er sei "sehr geeignet für das Präsidentenamt", ein guter Redner und Kandidat. Außerdem erinnerte er an Kerrys Beteiligung an der Bewegung gegen den Vietnamkrieg. "Ich kenne ihn schon lange", erklärte Nader gegenüber der New York Times. "Einen 27-Jährigen, der sich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg an der Führung der Antikriegsbewegung beteiligt, muss man einfach mögen."
Nader wiederholte seine Auffassung, wonach sein Wahlkampf Kerry keine Stimmen wegnehmen würde, sondern im Gegenteil dazu beitragen würde, Bush zu besiegen und im November einen Demokraten ins Weiße Haus zu bringen. Dieses Argument spricht natürlich Naders Anspruch auf echte Unabhängigkeit vom Zweiparteiensystem Hohn.
Nader zufolge schneidet Kerry im Vergleich mit dem ehemalige Vizepräsidenten Al Gore, dem Kandidaten der Demokraten im Jahr 2000, äußerst günstig ab. Der Unterschied zwischen Kerry und Gore sei "der Unterschied zwischen einer Fichte und versteinertem Holz", sagte er gegenüber der New York Times. "Gore war versteinertes Holz. Er war steif wie ein Brett, er lehnte solche Zusammenkünfte ab. Er lehnte sie schon drei Jahre vor den Wahlen ab, als er Vizepräsident war. Kerry ist viel offener."
Selbst dieser scheinbar banale und subjektive Kommentar ist in politischer Hinsicht aufschlussreich. Nach seiner Niederlage im Jahr 2000 begann Gore, sich innerhalb des Spektrums der bürgerlichen Politik Amerikas neu zu positionieren. Er übte harsche Kritik an der Bush-Regierung, weil sie im Rahmen des "Kriegs gegen den Terror" demokratische Rechte angreift, und sprach sich gegen die Entscheidung zum Irakkrieg aus. Am Ende unterstützte Gore die Kandidatur Howard Deans im Nominierungsverfahren der Demokraten.
Seit Deans Rückzug aus dem Rennen hat Gore seine verbalen Attacken auf den Krieg eingestellt, unterstützt mittlerweile Kerry und stellt sich hinter dessen Befürwortung des Krieges. Der Versuch, Kerry als eine "linke" oder "progressive" Verbesserung gegenüber Gore darzustellen, ist ebenso absurd wie unaufrichtig.
Nader weiß genau, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung den Krieg ablehnt, und dass die Antikriegsstimmung unter den Wählern der Demokraten besonders hoch ist. Eine Reihe bürgerlicher Kommentatoren hat festgestellt, dass Kerry dann am verwundbarsten wäre, wenn diese weit verbreitete und tief verwurzelte Stimmung zugunsten eines unabhängigen Kandidaten ausschlagen würde, der Opposition gegen den Krieg und gegen die Besetzung des Irak zu einem zentralen Thema seines Wahlkampfs machen würde.
Doch Nader ist bislang dabei geblieben, die Kriegsfrage niedrig zu hängen, um seine Verhandlungen und Manöver mit der Demokratischen Partei und ihrem Kandidaten zu erleichtern. Es gibt keinen klareren Beweis für den prinzipienlosen Charakter von Naders Politik und für die Tatsache, dass er sich letztendlich der Unterstützung und Verteidigung eben jenes politischen Systems verschreibt, das er zu bekämpfen vorgibt.