Am heutigen 10. Januar jährt sich die Hinrichtung des offiziellen Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe zum 70. Mal. Der folgende Text bildete den ersten Teil eines Referats, das der Historiker Dr. Alexander Bahar am 9. Dezember 2003 im Rahmen einer Veranstaltung zum 70. Jahrestag des Reichstagsbrandprozesses im ehemaligen Reichsgericht in Leipzig vor über 300 Richtern und Staatsanwälten hielt. Bahar ist Koautor des Buches "Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird".
Der Prozess gegen "van der Lubbe und Genossen", der vom 21. September bis 23. Dezember 1933 vor dem 4. Strafsenat des Leipziger Reichsgerichts stattfand und als Leipziger Reichstagsbrandprozess in die deutsche Rechtsgeschichte einging, gilt manchen deutschen Juristen noch heute als im Wesentlichen rechtsstaatliches, das heißt objektives, faires und unparteiisches Verfahren: trotz der Manipulation von Beweismitteln und offenkundigen Verstößen gegen die Strafprozessordnung (wie die Fesselung der kommunistischen bulgarischen Angeklagten bei Tag und Nacht, die Ablehnung ausländischer Rechtsanwälte, der mehrfache Ausschluss des Mitangeklagten Dimitroff von der Verhandlung), trotz aus Konzentrationslagern vorgeführten "Arbeiterzeugen", die bekunden sollten, dass die KPD den Aufstand geplant und der Reichstagsbrand (1) das "Fanal" dafür hätte sein sollen, und trotz ganz offensichtlich gedungener Zeugen, darunter Polizeispitzel und -provokateure.
Die Hitler-Regierung, die das Verfahren nach den Vorstellungen Goebbels im großen Stil als Schauprozess gegen den internationalen Kommunismus zu inszenieren gedachte, musste bald erkennen, dass ihr Plan, der internationalen Öffentlichkeit eine bürgerlich-rechtsstaatliche Fassade vorzugaukeln, zum Scheitern verurteilt war. Bereits wenige Tage nach Prozessbeginn ließ sie die Rundfunkübertragungen aus dem Reichsgericht abbrechen. Für die Nazis endete der Prozess mit einer gewaltigen juristischen und moralischen Niederlage.
Während die mitangeklagten Kommunisten - der ehemalige Vorsitzende der kommunistischen Reichstagsfraktion Ernst Torgler sowie die Bulgaren Blagoj Popoff, Wasil Taneff und Georgi Dimitroff, hochrangiger Komintern-Funktionär - mangels Beweisen freigesprochen werden mussten, hatte der Prozessverlauf, vor allem die Gutachten der Sachverständigen, gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Alleintäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe erwiesen und den Verdacht erhärtet, dass die NSDAP selbst in die Brandstiftung verwickelt war.
Dennoch wurde van der Lubbe, der während des Verfahrens unter dem Einfluss von Drogen zu stehen schien, mittels eines rückwirkenden Gesetzes ("Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe" vom 29. März 1933, bekannt geworden als "Lex van der Lubbe"), also grob rechtswidrig, unter Verletzung des berühmten Grundsatzes "nulla poena sine lege" am 23. Dezember 1933 zum Tode verurteilt und am 10. Januar 1934 in Leipzig eiligst enthauptet.
Auf höhere Weisung hatte das Reichsgericht so gut wie ausschließlich nach mutmaßlichen kommunistischen Tätern gesucht. Das geht nicht nur aus den Ermittlungsunterlagen und aus der Anklageschrift hervor. Das Reichsgericht selbst hat in seinem Urteil am Schluss des Prozesses wörtlich ausgeführt: Die NSDAP habe es "nicht nötig" gehabt, "durch ein Verbrechen ihre Wahlaussichten zu verbessern. Die gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei schließen derartige verbrecherische Handlungen, wie sie ihr von gesinnungslosen Hetzern zugeschrieben werden, von vorne herein aus."
Dass das Verfahren für die Hitler-Regierung zu einem Bumerang wurde und sich in der Weltöffentlichkeit die Überzeugung von der Schuld der Nazis am Reichstagsbrand durchsetzte, ist vor allem drei Faktoren zu verdanken. Es ist zum einen das Verdienst des Mitangeklagten Georgi Dimitroff, der sich geistesgegenwärtig, couragiert und mit großem Geschick vor Gericht selbst verteidigte und seine Verteidigung in eine Anklage der Hitler-Regierung verwandelte. Eine wichtige Rolle spielte daneben das von antifaschistischen deutschen Emigranten unter Leitung von Willi Münzenberg verfasste und im Sommer 1933 veröffentlichte "Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror", die erste umfassende Dokumentation des NS-Terrors in Deutschland, das die Nazis der Brandstiftung anklagte; als "sechster Angeklagter" war es im Prozess ständig präsent.
Schließlich tagte in Paris und London die juristische Kommission eines Internationalen Untersuchungsausschusses ("Londoner Gegenprozess"), die sich aus hervorragenden Juristen verschiedener Länder zusammensetzte. In ihrem am 20. September 1933, also ein Tag vor Eröffnung des Reichstagsbrandprozesses, veröffentlichten Bericht gelangte sie zu dem Schluss, dass "gewichtige Grundlagen für den Verdacht bestehen, dass der Reichstag durch führende Persönlichkeiten der nationalsozialistischen Partei oder in ihrem Auftrag in Brand gesetzt wurde". Und weiter hieß es: "Der Ausschuss ist der Ansicht, dass jedes Gerichtsorgan, das in dieser Sache Rechtssprechung ausübt, diesen Verdacht genau untersuchen sollte." (2)
Juristisches Nachspiel in der BRD
Der Untergang des "Dritten Reiches" lag bereits über zehn Jahre zurück, als der Bruder des "offiziellen" Reichstagsbrandstifters, Johannes Markus (Jan) van der Lubbe, am 29. September 1955 beim Landgericht Berlin die Aufhebung des Reichsgerichtsurteils vom 23. Dezember 1933 beantragte, gemäß Gesetz vom 5. Januar 1951 (Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts).
Nachdem das Landgericht diesen Antrag am 3. Mai 1958 als unzulässig verworfen hatte, stellte Jan van der Lubbe am 11. November 1965 einen erneuten Antrag auf Aufhebung. Am 21. April 1967 änderte das Berliner Landgericht den Schuldspruch des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 dahin gehend ab, dass es van der Lubbe nun nur noch "der menschengefährdenden Brandstiftung (§ 306, Nummern 2 und 3 RStGB) oder der versuchten einfachen Brandstiftung" für schuldig befand. Die Verurteilung wegen Hochverrats und aufrührerischer Brandstiftung entfiel. Die erkannte Todesstrafe wurde auf eine Gesamtstrafe von acht Jahren Zuchthaus ermäßigt und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte rückgängig gemacht. Im Übrigen wurde "der Aufhebungsantrag als unbegründet zurückgewiesen". (3)
Gegen dieses Urteil legten sowohl die Familie van der Lubbe als auch die Generalstaatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin Beschwerde ein. Wie die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wurde auch die Beschwerde Jan van der Lubbes vom 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 17. Mai 1968 verworfen. Nach Ansicht des Kammergerichts entfiele "jeder darauf gegründete Verdacht, dass die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 aus politischen Gründen unter Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze getroffen worden sind". (4)
Nach einem erneuten Wiederaufnahmeantrag des Bruders vom 11. Februar 1980 durch den ehemaligen Mitankläger bei den Nürnberger Prozessen, Robert M. W. Kempner, wurde van der Lubbe dann allerdings am 15. Dezember 1980 von der 10. Strafkammer des Landgerichts Berlin freigesprochen und das durch den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 21. April 1967 bereits abgeänderte Urteil des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 "unter Freisprechung des Marinus van der Lubbe aufgehoben", da das Urteil den nun geltenden Maßstäben von Rechtstaatlichkeit nicht standhalte. (5)
Am 13. Februar 1981 legte die Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin gegen dieses Urteil Beschwerde ein, welcher der 4. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 21. April 1981 folgte: "Der Antrag des Johannes Marcus van der Lubbe [vom 11. Februar 1980] auf Wiederaufnahme des durch Urteil des Reichsgerichts vom 23. Dezember 1933 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gegen seinen Bruder Marinus van der Lubbe wird als unzulässig verworfen." (6) Eine Prüfung der von Robert M. W. Kempner angebotenen Zeugenaussagen und Dokumentationen hatte das Kammergericht zuvor abgelehnt.
Eine Beschwerde Kempners vom 23. April 1981 (7) gegen den Beschluss des Kammergerichts verwarf der Bundesgerichtshof (BGH) am 10. Juli 1981 auf Kosten des Antragstellers "als unzulässig". (8)
Am 20. Dezember 1982 lehnte der 4. Strafsenat des Kammergerichts Berlin auch einen Antrag Johannes Markus van der Lubbes vom 25. Mai 1982 auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig ab. (9)
Gegen diesen Beschluss legte van der Lubbe durch Kempner am 7. Januar 1983 beim BGH Beschwerde ein, die der 3. Strafsenat des BGH am 2. Mai 1983 ebenfalls verwarf. Infolge der Schuldspruchänderung vom 21. April 1967 bestehe "keine Rechtsbeugung der Richter des Reichsgerichts mehr". "Aus dem Urteil vom 23. Dezember 1933" ergebe sich auch, so der BGH, "dass das Reichsgericht - trotz deutlicher politischer Färbung einiger Urteilsstellen - durchaus der Frage nachgegangen" sei, "ob die Nationalsozialisten den Reichstag in Brand gesteckt haben (U[rteils-]A[ufhebung] S. 35f. und S. 73)." Dafür, dass das Reichsgericht "entgegen seiner zum Ausdruck gebrachten richterlichen Überzeugung" geurteilt habe, sei "nichts ersichtlich". (10)
Auch eine erneute Beschwerde Kempners bei der 2. Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 17. Oktober 1983 gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 21. April 1967 wurde von den Gerichten zurückgewiesen. (11)
Bis heute gilt demnach das Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. April 1967, nach dem Marinus van der Lubbe der menschengefährdenden Brandstiftung (der Reichstag war am 27. Februar 1933 um 21 Uhr menschenleer!) oder der versuchten einfachen Brandstiftung schuldig sei und dafür postum zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.
Robert Kempner fragte 1984: "Waren auch irrationale Gründe für die richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen maßgebend? Wollte man nach fünfzig Jahren noch immer nicht die Schuld des nationalsozialistischen Regimes an dem Reichstagsbrand offen erkennen? Wollte man die Reinheit der seinerzeitigen Richter des 4. Strafsenats des Reichsgerichts nicht,beschmutzen', obwohl sie, objektiv betrachtet, als rechtsbeugende Verbrecher anzusehen sind, die van der Lubbe hinrichten ließen? Will man nicht zugeben, dass das Urteil vom 23. Dezember 1933 einer der ersten Vorläufer der Terrorurteile des sogenannten Volksgerichtshofes war?" (12) Kempners bohrende Fragen sind heute aktueller denn je. [...]
Anmerkungen
1) Vgl. hierzu v. a.: Alexander Bahar/Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, edition q; Berlin 2001. Vgl. auch: J. Schmädeke/A. Bahar/W. Kugel: "Der Reichstagsbrand in neuem Licht", in: Historische Zeitschrift, Bd. 269, Heft 3, 1999.
2) The Burning of the Reichstag. Official Findings of the Legal Commission of Inquiry, London, Sept. 1933. Chairman: D. N. Pritt, K.C.; abgedr. in: "Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff", Berlin 1982, Bd. 1, S. 534-555, Zitat S. 555.
3) Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, Aufhebungssache van der Lubbe, 2 P Aufh. 9/66, Bd. 2, Bl. 44-75.
4) Beschluss in der Urteilsaufhebungssache betreffend den verstorbenen Maurer Marinus van der Lubbe, vom 17. 5. 1968. Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, Aufhebungssache van der Lubbe 2 P Aufh. 9/66, Bd. 2, Bl. 108-111; Zitat Bl. 111.
5) Ebd., Bl. 76-115. Mit diesem Urteil schloß sich die Kammer dem Antrag Jan van der Lubbes vom 11. 11. 1965 und der Antragsschrift des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht Berlin vom 8. 12. 1966 an (Az. 510-17/80).
6) Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, Aufhebungssache van der Lubbe, 2 P Aufh 9/66, Bd. 5, 65-72 (Geschäftsnummer 3 AR 232/79 - 4 WS 53/81 - [510] 2 P Aufheb 9/66 (17/80).
7) Ebenda, S. 74-78
8) Ebenda, S. 102-104 (2 Ars 117/81).
9) Ebenda, Bd. 6, S. 104-115 ([4] ARP 132/82- [11/82]).
10) Ebenda, S. 168-174 (3 Ars 4/83 - StB 15/83).
11) Ebenda, S. 191-195.
12) Robert M. W. Kempner: Hermann Göring als Organisator des Reichstagsbrandes, in: Wasserburg, Klaus/Waddenhorst, Wilhelm (Hg.): Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters aus Anlaß seines 80. Geburtstages, Heidelberg 1984, S. 365-374, Zitat S. 373.