Der ungarische Ministerpräsident Peter Medgyessy hat am Donnerstag seinen Rücktritt erklärt. Dem Rücktritt waren monatelange Auseinandersetzungen in der 2002 gebildeten Regierungskoalition aus Sozialisten (MSZP) und liberalen Demokraten (SZDSZ) vorausgegangen. Dennoch erklärten nach Medgyessys Rücktritt beide Parteien, sie wollten die Koalition fortsetzen und einen neuen Regierungschef ernennen.
Die MSZP und die wesentlich kleinere SZDSZ sind über die künftige Steuerpolitik und den Staatshaushalt für 2005 zerstritten. Nach mehreren Wochen intensiver Beratungen auf allen Ebenen erzielten sie keine Übereinkunft und drohten sich gegenseitig mit der Aufkündigung der Koalition.
Die Sozialisten wollen hohe Einkommen mit bis zu 48 Prozent, statt bisher mit höchstens 38 Prozent besteuern. Nach Regierungsangaben wären davon etwa 40.000 Spitzenverdiener betroffen. Darüber hinaus wird auch über die Wiedereinführung der Kapitalertragssteuer, die nach der Regierungsübernahme vor zwei Jahren abgeschafft wurde, diskutiert. Die Liberalen lehnen dagegen jede Steuererhöhung ab und fordern weitere Steuersenkungen für Unternehmen und Bestverdiener.
Ähnliche Differenzen gibt es auch beim Haushaltsplan für das kommende Jahr. Die Forderung der Liberalen nach weiteren, tiefgreifenden Einschnitten im Bildungs- und Gesundheitsbereich findet momentan bei den Sozialisten offiziell nur wenig Gehör.
Die Steuerdebatte ist allerdings nur vordergründig die Ursache der Krise.
Schon wenige Monate nach den Parlamentswahlen 2002 war es zu schweren Spannungen im Regierungsbündnis gekommen, als bekannt wurde, dass der parteilose, von den Sozialisten aufgestellte Premier Medgyessy in den siebziger Jahren für den ungarischen Geheimdienst tätig war. Die Krise setzte sich mit dem Anstieg des Haushaltsdefizits und der damit verbundenen Entlassung des Finanzministers Csaba Laszlo, der Talfahrt des Forint im vergangen Jahr und Konflikten in der Regierungskoalition Anfang dieses Jahres - die Liebralen forderten Medgyessys Rücktritt - fort.
Der Ruf nach Steuererhöhungen für Unternehmen ist rein demagogisch und dient ausschließlich der Beschwichtigung der Wählerschaft. Die Sozialisten, deren Führungskader fast ausschließlich aus alten stalinistischen Funktionären besteht, haben nicht plötzlich ihr soziales Gewissen entdeckt. Niemand geht davon aus, dass es tatsächlich zu einer höheren Besteuerung von Gewinnen und Vermögen kommen wird.
Die Sozialistische Partei hat eine maßgebliche Rolle dabei gespielt, Ungarn zum Anziehungspunkt für ausländisches Kapital zu machen und die Kosten des EU-Beitritts auf die Bevölkerung abzuwälzen. Bereits zwischen 1994 und 1998 hatte eine sozial-liberale Koalition unter Regierungschef Gyula Horn, einem ehemaligen ZK-Mitglied der ungarischen Kommunistischen Partei, einen massiven Sozialabbau durchgeführt und damit einer ultrarechten Regierung unter Viktor Orban den Weg geebnet.
2002 wieder gewählt, vereinbarten Sozialisten und Liberale ein neo-liberal ausgerichtetes Programm mit dem Ziel, durch radikale Sparprogramme das Land in die EU zu führen und durch niedrige Steuern und niedrige Löhne ausländisches Kapital anzuziehen. Die Liberalen, die mit 4,4% zehn Mal weniger Stimmen als die Sozialisten erhielten, dienen letzteren als Feigenblatt für diese rechte Politik, die bisher auch konsequent umgesetzt wurde.
Unter Medgyessy wurde die Privatisierung der letzten 19 verbliebenen Staatsbetriebe in die Wege geleitet. In seiner Regierungszeit wurden der Telefon-, der Elektrizitäts- und der Erdgasmarkt liberalisiert. Durch die 2003 abgeschlossene Rentenreform sind Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt automatisch nur noch privat rentenversichert.
2003 wurde per Gesetz eine großangelegte Privatisierung des Gesundheitssystems in Angriff genommen. Ein großer Teil der zahlreichen öffentlichen Kliniken des Landes sollen in private Hände übergehen oder, wenn sie nicht effizient genug sind, geschlossen werden.
Während in den letzten Jahren ausländische Unternehmen mit jahrelanger Steuerfreiheit ins Land gelockt wurden, sanken die Löhne der Arbeiter gleichzeitig massiv. Der Mindestlohn liegt mit 191 Euro monatlich deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Dabei leben in Ungarn europaweit die meisten Vollzeitbeschäftigten mit Minimaleinkommen.
Dieser rabiaten Sozialpolitik angepasst ist auch die Außenpolitik der Regierung. Wie eine Reihe anderer osteuropäischer Länder gilt Ungarn als enger Verbündeter der USA. In den letzten beiden Jahren fanden zwei Treffen zwischen Medgyessy und dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush statt, das letzte Ende Juni. Im Mittelpunkt der Gespräche stand dabei der Irakkrieg.
Ungarn unterstützt die US-Besatzung des Landes und hat 300 eigene Soldaten im Irak stationiert. Obwohl die einheimische Opposition dagegen wächst und durch den Tod des ersten ungarischen Soldaten am 17. Juni noch verstärkt wurde, sicherte Medgyessy der US-Regierung weiterhin volle Unterstützung zu. Die ungarischen Soldaten werden im Irak bleiben.
Wie groß die Ablehnung dieser Politik ist, zeigte das Ergebnis der Europawahl vom Juni. Die Sozialisten, die bei den Parlamentswahlen 2002 deutlich mehr Stimmen als der rechts-konservative Fidesz erreicht hatten, verloren massiv und lagen mit 34 Prozent der Stimmen über 13 Prozentpunkte hinter den Rechtskonservativen um den ehemaligen Premier Victor Orban.
Der Fidesz und das kleinere Ungarische Demokratische Forum (MDF), aus dem Mitte der neunziger Jahre die ultra-nationalistische Wahrheits- und Lebenspartei (MIEP) hervorging, profitierten von der Opposition gegen den US-freundlichen Kurs der Regierung. Sie hatten zwar ursprünglich ebenfalls eine ungarische Beteiligung an der Besetzung des Irak befürwortet. Doch als der verbrecherische Charakter des Kriegs durch die Folter in irakischen Gefängnissen immer offensichtlicher wurde und enorme Ablehnung hervorrief, änderten Fidesz und MDP ihre Haltung und traten kurz vor der Europawahl für einen Abzug der ungarischen Truppen ein.
Neue Bündnisse
Seit dem Zusammenbruch des stalinistischen Regimes in Ungarn hat sich die Bevölkerung bei jeder Wahl gegen die jeweils amtierende Regierung ausgesprochen. Mangels einer Alternative drückte sich das in einem ständigen Wechsel zwischen sozialistischer und konservativer Mehrheit im Parlament aus. Der Beitritt des Landes zur Europäischen Union hat die Entfremdung zwischen den etablierten Parteien und der Bevölkerung noch verstärkt. Mit 38 Prozent erreichte die Beteiligung an der Europawahl einen absoluten Tiefstand.
Um eine unpopuläre Politik durchzusetzen, die zunehmend auf den Widerstand der Bevölkerung trifft, sieht sich das politische Establishment gezwungen, enger zusammenzurücken und neue politische Bindungen einzugehen.
Trotz des Erfolgs bei der Europawahl verfügt auch der Fidesz in der Bevölkerung über keine nennenswerte Basis. Seit längerem bemüht er sich deshalb, als Sammelbecken aller konservativen und rechten Kräfte zu fungieren. Doch diese sind untereinander und in sich zerstritten.
Bereits 2003 hatte Orban den Zusatz Bürgerpartei im Parteinamen in Bürgerbund umgewandelt. Damit ermöglichte er auch Mitgliedern anderer Parteien die Mitgliedschaft im Fidesz, ohne dass diese ihre alten Parteibücher abgeben mussten. Das zog besonders rechte Elemente aus der Lebens- und Wahrheitspartei und der Partei der Kleinlandwirte an, die nicht mehr im Parlament vertreten sind und sonst kaum politischen Einfluss hätten. Das Demokratische Forum (MDF) erwägt zu den Parlamentswahlen 2006 eine gemeinsame Liste mit dem Fidesz.
Auch bei den Sozialisten gab es wiederholt Bemühungen, die Sozialistische in Sozialdemokratische Partei umzubenennen, die dann die führende Kraft in einem breiten Mitte-Links-Bündnis werden soll. Ein erster Schritt dazu war bereits die Koalition mit den Liberalen von der SZDSZ. Diese hat ihre Basis unter der antikommunistischen Intelligenz. Sie ist von ehemaligen Dissidenten gegründet worden, die Ende der Achtziger Jahre gegen jene stalinistischen Machthaber auftraten, mit denen sie heute in der Regierung sitzen.
Die Bemühungen, auf das sozialistische Etikett zu verzichten, könnten sich nun bald verstärken. Nach der Niederlage in den Wahlen zum europäischen Parlament findet unter den Sozialisten eine Diskussion über den weiteren Kurs und die Besetzung an der Parteispitze statt. Auf dem Parteitag im kommenden Herbst wird der bisherige Parteichef Laszlo Kovacs nicht mehr zur Wiederwahl antreten. Gute Chancen auf den Posten hat der stellvertretende Parteivorsitzende Istvan Hiller. Dem bis vor zwei Jahren noch weitgehend unbekannten Hiller wird nachgesagt, er könne der Partei am ehesten "einen neuen Schnitt" verpassen. Er gilt als rücksichtsloser Karrierist, der sich der Parteibasis gegenüber nicht verpflichtet fühlt, geschweige denn gegenüber der Bevölkerung.
Neben dieser Tendenz zu einem "Zwei-Parteien-System" ist selbst ein Bündnis der Sozialisten mit dem weit rechts stehenden Fidesz nicht mehr ausgeschlossen. Vergangenen Monat kündigte Finanzminister Tibor Draskovics die Entlassung eines sozialistischen Verwaltungssekretärs in seinem Ministerium an, weil dieser regelmäßig an internen Gesprächen des Fidesz teilgenommen hatte.
Angesichts der Tatsache, dass 2006 womöglich beide großen Parteien ohne eigene Mehrheit und ohne potenzielle Koalitionspartner da stehen, dient die jetzige Steuerdebatte auch der Suche nach Gemeinsamkeiten. Nicht ganz zu unrecht wiesen SZDSZ-Politiker auf die Möglichkeit des gemeinsamen Vorgehens und der identischen Meinung von Sozialisten und Konservativen in Steuerfragen hin. Auch der Fidesz hat gelegentlich, besonders im Vorfeld von Wahlen, Steuererhöhungen für Unternehmen und Spitzeneinkommen gefordert, um seine Klientel im Mittelstand zu bedienen. In der Praxis wurden deren Interessen dann allerdings denen der Finanzelite untergeordnet.
Trotz aller Unterschiede vertreten beide Parteien die Interessen von Unternehmen und Superreichen. Um dieser "Großen Koalition", die die Bevölkerung in Krieg und soziales Elend treibt, wirksam entgegen zu treten, muss sich die ungarische Arbeiterklasse einer internationalen, sozialistischen Perspektive zuwenden.