Was will Lafontaine?

Mit der Ankündigung, er werde 2006 eine linke Wahlalternative unterstützen, falls die SPD nicht ihren Kurs ändert und Kanzler Schröder zurücktritt, hat sich Oskar Lafontaine wieder in die Schlagzeilen katapultiert. Der frühere SPD-Vorsitzende und Finanzminister reagierte damit auf die Massenproteste gegen die Hartz-IV-Gesetze, die sich in den vergangenen Wochen unabhängig von den großen Parteien und Gewerkschaften entwickelt haben.

In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel warf Lafontaine dem Bundeskanzler vor, er habe sich "vollständig diskreditiert". Die Politik der rot-grünen Bundesregierung sei katastrophal - "höchste Arbeitslosigkeit nach dem Krieg, höchste Staatsverschuldung, massiver Verlust von Mitgliedern und Wählern". Die Bevölkerung sei nicht länger bereit diese Politik zu akzeptieren. Schröder "und jene die ihn stützen", seien verantwortlich für den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik. Falls der Kanzler diese Politik fortsetze, werde er - Lafontaine - den Aufbau einer neuen Linkspartei unterstützen.

Was will Lafontaine mit diesem Vorstoß erreichen? Würde eine neue Linkspartei unter seiner Führung oder Mitarbeit den Sozialabbau stoppen?

Nur wer die Versprechen von Politikern für bare Münze nimmt, anstatt sie kritisch zu hinterfragen, kann dies ernsthaft glauben. Lafontaines Vergangenheit, seine politischen Konzepte und sein Verhalten zeigen, dass er ganz andere Ziele verfolgt. Ihn treibt die Sorge, die soziale Bewegung gegen den Sozialabbau könnte der Kontrolle der SPD und der Gewerkschaften entgleiten. Eine neue, von ihm unterstützte Linkspartei würde versuchen, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, um ihr die Spitze zu nehmen und sie in harmlose sozialdemokratische Bahnen zu lenken.

Seit seinem Rücktritt von allen Ämtern im Frühjahr 1999 hatte sich Lafontaine weitgehend passiv verhalten. Er meldete sich zwar regelmäßig in Interviews, Talkshows und einer regelmäßigen Kolumne in der Bild -Zeitung zu Wort und kritisierte den Kurs der Regierung, zog aber keine praktischen Konsequenzen. Er beteuerte stets, die SPD sei und bleibe seine politische Heimat, er werde sich in keiner anderen Partei engagieren.

Erst vor wenigen Wochen hatte er auf einen Landesparteitag der saarländischen SPD noch dem amtierenden Parteivorsitzenden Müntefering die Hand gedrückt und versprochen, er werde Schröder während der Dauer des saarländischen Landtagswahlkampfs nicht offen angreifen. Seither trat er als Redner auf mehreren SPD-Wahlveranstaltungen auf.

Mit seinem Sinneswechsel reagiert er nun auf die wachsende Mobilisierung und Radikalisierung der Bevölkerung gegen den Sozialabbau. Dabei geht es ihm nicht darum, die Proteste auszuweiten und zu verstärken - ganz im Gegenteil. Er warnt vor ihrer sozialen und politischen Sprengkraft.

Was Lafontaine vor allen Dingen beunruhigt, ist die Tatsache, dass die jüngsten Demonstrationen weitgehend unabhängig von und sogar gegen den Willen der etablierten Parteien und Gewerkschaften stattfinden. Bereits im vergangenen Jahr und in diesem Frühjahr hatten sich Hunderttausende an Protesten gegen den Sozialabbau beteiligt. Aber solange diese unter der erprobten Kontrolle der Gewerkschaften blieben, war von Lafontaine nichts zu hören. Erst jetzt, wo SPD, PDS und Gewerkschaften weitgehend diskreditiert sind, tritt er in Erscheinung.

Reformistische Demagogie

Dabei betreibt Lafontaine eine gezielte Demagogie. Während er lautstark und wortgewaltig die soziale Ungerechtigkeit von Schröders Politik anprangert, behauptet er, eine andere, sozial ausgewogene Politik sei im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft machbar. Das ist politischer Betrug und Lafontaine weiß das. Die Globalisierung der Produktion hat längst dazu geführt, dass die internationalen Kapitalmärkte die politischen Entscheidungen in jedem Land bestimmen. Zu behaupten, man könne unter den heutigen Bedingungen zur Politik der Sozialreformen der siebziger Jahre zurückkehren, ist lachhaft.

Die Liberalisierung der internationalen Kapitalmärkte war nicht nur eine "Mode", der niemand rechtzeitig entgegentrat - wie Lafontaine glauben machen möchte -, sondern entsprang handfesten materiellen Interessen. Sie war Bestandteil einer politischen Offensive, mit der die bürgerliche Klasse weltweit gegen die Errungenschaften vorging, die die Arbeiterbewegung in den frühen siebziger Jahre erkämpft hatte. Diese Offensive beschränkte sich nicht auf wirtschaftspolitische Maßnahmen, sondern war mit bürgerkriegsartigen Kämpfen verbunden - wie der Niederschlagung des PATCO- Fluglotsenstreiks in den USA und des einjährigen Bergarbeiterstreiks in Großbritannien.

Die Sozialdemokratie hatte dieser Offensive nirgendwo etwas entgegenzusetzen. Sie hat sie im Gegenteil passiv oder aktiv unterstützt. Ihre Folgen haben die Gesellschaft grundlegend verändert. Eine kleine Schicht an der Spitze der Gesellschaft hat sich hemmungslos bereichert und beispiellose politische Macht erlangt. Jeder politische Kurswechsel, und sei er noch so gering, provoziert ihren vehementen Widerstand.

Dieser Widerstand der tonangebenden Kreise kann nur durch eine politische Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung gebrochen werden, die nicht auf den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft beschränkt bleibt. Sie muss das gesamte wirtschaftliche Leben reorganisieren, indem sie die Bedürfnisse der Bevölkerung den Profitinteressen der Wirtschaft überordnet. Aber genau eine solche sozialistische Perspektive lehnt Lafontaine entschieden ab.

Lafontaines Bilanz

Lafontaines eigene Geschichte widerlegt sein reformistisches Geschwätz. Man muss sich nur daran erinnern, wie er als saarländischer Ministerpräsident mehrere große Stahlwerke stilllegte und in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsführung Tausende von Arbeitsplätzen abbaute. Gleichzeitig unterdrückte er jegliche Opposition und setzte ein Gesetz durch, das die Pressefreiheit stärker einschränkte als in irgend einem anderen Bundesland.

Wenn Lafontaine heute großspurig erklärt, man müsse den Wirtschaftsinteressen stärker entgegentreten, so stellt sich erneut die Frage, warum er es vor fünf Jahren nicht getan hat. Er war Bundesfinanzminister sowie Vorsitzender der größten Partei und hatte alle Möglichkeiten in der Hand. Aber schon damals war er nicht bereit, die Parteimitglieder und die Bevölkerung zu mobilisieren, weil ein ernsthafter Konflikt mit den Wirtschaftsverbänden die kapitalistische Ordnung in Frage gestellt hätte. Stattdessen trat er zurück, überließ Schröder die Macht und händigte ihm auch die Partei aus.

Bereits früher als andere - selbst konservative Politiker - hat Lafontaine die Forderungen nach flexibleren Arbeitszeiten, längeren Maschinenlaufzeiten, Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und vieles mehr aufgestellt. Im Wahlprogramm der SPD von 1998 - das unter seiner Leitung ausgearbeitet wurde - nahm die Forderung nach einem staatlich geförderten Niedriglohnsektor, in dem Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden, großen Raum ein. Und er war es, der als Finanzminister den Vorschlag machte, Arbeitslosenunterstützung nur noch an Bedürftige auszuzahlen, was damals noch mehrheitlich in der SPD abgelehnt wurde.

Auch heute wendet sich Lafontaine nicht gegen den Abbau der bestehenden Sozialsysteme. Ihm geht es um die soziale Akzeptanz der Kürzungen. Nur wenn die Regierung - zumindest dem Schein nach - auch die Reichen und Großverdiener zur Kasse bittet und nicht für jeden sichtbar als Büttel der Wirtschaftsverbände fungiert, können der Bevölkerung die sozialen Lasten aufgebürdet werden, lautet seine Devise.

Die Tradition von Willy Brandt

In seinem Interview betont Lafontaine mehrmals, er sehe sich in der Tradition von Willy Brandt. Aber worin besteht diese Tradition?

Brandt war es Anfang der siebziger Jahre gelungen, eine kämpferische Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend, die sich in militanten Streiks und der 68-er Studentenrevolte äußerte, größtenteils wieder in die SPD einzubinden. Mit großen Gesten und Parolen wie "Mehr Demokratie wagen!" oder "Bildung und sozialer Aufstieg für alle!" öffnete Brandt die SPD gegenüber dem studentischen Protest, während er gleichzeitig Berufsverbote für Radikale verhängte. Brandt wurde schließlich durch Helmut Schmidt abgelöst, der wiederum den Boden für die 16-jährige Ära Kohl vorbereitete. Von den sozialen und demokratischen Zugeständnissen aus der Regierungszeit Brandts ist nichts übrig geblieben.

Ende der siebziger Jahre übernahm Oskar Lafontaine selbst die Aufgabe, eine starke oppositionelle Bewegung wieder in die SPD einzugliedern. Indem er sich offen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Politik Helmut Schmidts stellte, gelang es ihm, einen Teil der Friedensbewegung an die SPD zu binden. Oder anders gesagt, er verhinderte, dass die SPD durch die Friedensbewegung gespalten wurde.

Als anderthalb Jahrzehnte später - Mitte der neunziger Jahre - der Unmut gegen die Regierung Kohl immer lauter wurde, während die SPD eng mit ihr zusammenarbeitete, löste Lafontaine in einem Überraschungscoup Rudolf Scharping an der Spitze der Partei ab und setzte einen Konfrontationskurs gegen die Regierung durch, der 1998 schließlich zum Wahlsieg der SPD führte. Die rot-grüne Regierung, gegen die sich heute der Volkszorn richtet, verdankt ihre Existenz in erster Linie Lafontaine.

Heute sieht Lafontaine seine Aufgabe darin, die vielen tausend Mitglieder, die der SPD den Rücken gekehrt haben, sowie die wachsende Opposition gegen den Sozialabbau unter Kontrolle zu halten und in sozialdemokratische Bahnen zu lenken. Während Kanzler Schröder und sein Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement nur die unmittelbaren Interessen der Wirtschaftsverbände im Auge haben, blickt Lafontaine weiter und versucht, die bürgerliche Herrschaft als ganze zu stabilisieren.

Vor allem in Ostdeutschland müssen sich die Demonstranten die Frage stellen, ob sie sich ein zweites Mal an der Nase herumführen lassen wollen. Viele erinnern sich noch lebhaft an die Massendemonstrationen gegen die SED-Regierung im Herbst 1998 und die großen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, die anfangs unter den Teilnehmern vorherrschte. Weil aber eine durchdachte politische Perspektive und sozialistische Orientierung fehlte, konnten sich pro-kapitalistische Elemente durchsetzen und die Bewegung in eine reaktionäre Sackgasse führen.

Dieser Fehler sollte nicht wiederholt werden. Der Widerstand gegen die Sozialkürzungen und die Angriffe der Regierung erfordern einen politischen Kampf gegen das kapitalistische System und eine sozialistische Perspektive. Deshalb müssen nicht nur die SPD unter Schröder und Müntefering, sondern auch die sozialdemokratische Demagogie Lafontaines zurückgewiesen werden.

Siehe auch:
"Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" - ein bürokratisches Manöver
(16. Juni 2004)
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