Gut ein Jahr nach dem Einmarsch im Irak und vier Monate nach der Gefangennahme Saddam Husseins hat die Bush-Regierung eine neue, brutale Militäroffensive gegen die irakische Bevölkerung entfesselt.
Die damit verbundenen Angriffe auf zivile Ballungsgebiete sind Kriegsverbrechen. Sie werden in der bewussten Absicht ausgeführt, den wachsenden Widerstand der Bevölkerung gegen die US-Besatzung einzuschüchtern. Genaue Zahlen sind zwar nicht bekannt, doch man muss von Hunderten irakischen Toten ausgehen. Außerdem wurden viele Hundert Männer, Frauen und Kinder verwundet, als Raketen, Panzergeschosse und schweres Maschinengewehrfeuer auf dicht besiedelte Wohnviertel niedergingen.
Die Arbeiter in Amerika müssen verlangen, dass dieses Massaker sofort eingestellt und alle US-Truppen aus dem Irak abgezogen werden. Die Behauptung, dieser Gewaltakt sei die rechtmäßige Vergeltung für Anschläge auf die Irak-Besatzer, verdient nur Verachtung.
Im Irak entwickelt sich ein Aufstand der unterdrücktesten Arbeiter des Landes und, als Reaktion darauf, ein brutaler Krieg der kolonialen Unterjochung. Trotz ihrer vollmundigen Phrasen über Demokratie versucht die US-Regierung - Demokraten und Republikaner gleichermaßen - den Wunsch der irakischen Bevölkerung nach Demokratie in Blut zu ersticken.
Sowohl die schiitischen Slums in Sadr-City in Bagdad als auch die vorwiegend sunnitische Bevölkerung von Falludscha wurden von Kampfhubschraubern, Panzern und Artillerie massiv unter Feuer genommen. Unter den Opfern sind Frauen und Kinder, die getötet wurden, als 50-kalibrige Kugeln durch die Wände und Türen ihrer Häuser schlugen. Krankenhäuser und Notaufnahmen wurden beschossen. In einem Fall schossen US-Soldaten auf einen Krankenwagen, der gerade eine verwundete Schwangere ins Krankenhaus bringen wollte. Sie töteten die Frau und ihr ungeborenes Kind.
Die Operation der US-Marines in Falludscha lief in aller Heimlichkeit ab, die Medien waren vom Schauplatz verbannt. Die US-Armee hat den Belagerungszustand über diese Stadt mit einer halben Million Einwohner verhängt und alle Einfallstraßen abgeriegelt. Nahrungsmitteltransporte wurden gestoppt und die Menschen daran gehindert, ihrer Arbeit nachzugehen. Der Zugang zum größten Krankenhaus von Falludscha am andern Euphratufer wurde abgeschnitten. Ein kleineres, privates Krankenhaus im Zentrum wurde von Panzern und Kampfhubschraubern beschossen.
Der Korrespondent des Fernsehsenders Al-Dschasira (eine der wenigen Quellen, die aus der belagerten Stadt berichten) hatte vor dem Krankenhaus ein brennendes Auto gesehen, dessen Fahrer tot hinter dem Steuer saß. Er berichtete auch von einem Raketen- und Splitterbombenangriff auf die Wohngegend Golan, bei dem viele Häuser zerstört wurden.
Offenbar ist die Belagerung von Falludscha - unter dem Namen "Vigilant Resolve" ("wachsame Entschlossenheit") - ein Vergeltungsakt für die Tötung und Verstümmelung von vier Angehörigen der amerikanischen paramilitärischen Kräfte letzte Woche in dieser Stadt. Dieser Zwischenfall, an dem sich zahlreiche Männer und Jugendliche beteiligten, legte schlagartig offen, welche abgrundtiefe Feindschaft den Besatzern entgegenschlägt.
In Wirklichkeit bedeutet die Belagerungsaktion eine vorsätzliche Eskalation der Operation amerikanischer Streitkräfte, die schon seit einer Woche, seit der Tötung der vier amerikanischen Söldner, mit eiserner Faust durchgreifen. Die Marines hatten bereits die Hauptstraßen blockiert, was sich jetzt als eine Art Generalprobe für die jüngste Abriegelung der Stadt herausgestellt hat. Somit ist der Rahmen für Razzien von Haus zu Haus gesteckt, die unvermeidlich zur Abschlachtung vieler weiterer Iraker führen werden.
Die zeitgleiche Revolte der Bevölkerung, die sich von den armen schiitischen Stadtvierteln Bagdads über Nadschaf und Nasirija bis auf Basra und andere Städte des überwiegend schiitischen Südens erstreckt, ist durchwegs eine Reaktion auf grobe Provokationen von Seiten der US-Besatzungsbehörde.
Als Erstes ließ der US-Besatzungschef Paul Bremer mit Militärgewalt die Wochenzeitung Al Hawza schließen, das Sprachrohr der schiitischen Moslemfraktion von Moqtada al-Sadr. Al-Sadr stammt aus einem Klerikerklan, dessen prominente Führer von Saddam Husseins Regime ermordet worden waren. Indem er als militanter Gegner der US-Besatzung auftrat, gewann er die Unterstützung schiitischer Arbeiter und Jugendlicher und zog den Zorn der US-Behörden auf sich. Während Bremer und seine Leute die Demokratie beschworen, beschlossen sie gleichzeitig, die Kritik von Al Hawza mit Waffengewalt zum Schweigen zu bringen.
Als Nächstes folgte die Verhaftung eines bekannten Assistenten von al-Sadr und dann die Drohung, ihn selbst zu verhaften - oder, wie sich ein Sprecher der US-Armee ausdrückte, dafür zu sorgen, dass er "lebendig oder tot gefasst" wird. Zu diesen Provokationen und Drohungen kam hinzu, dass unbewaffnete Demonstranten von irakischen Sicherheitskräften unter der Führung von US-Personal niedergemäht wurden. All dies brachte den aufgestauten Zorn der schiitischen Bevölkerungsmehrheit des Irak gegen die Besatzer zum Ausbruch.
Es ist schwierig zu sagen, wo bei der Bush-Regierung und der von rechten Republikanern geführten Besatzungsbehörde Ignoranz und Arroganz aufhören und bewusste politische Berechnung beginnt. Es gibt allerdings eine Reihe von Gründen für die Annahme, dass die US-Behörden gezielt eine Konfrontation provoziert haben, nach der sie weitere Militäroperationen durchführen können, um den Widerstand der irakischen Bevölkerung zu zerschlagen.
Sie stehen unter dem Druck des selbst gewählten Termins, am 30. Juni die Macht an eine irakische Übergangsregierung abzutreten. Dieser Schritt wird als "Übertragung der Souveränität" bezeichnet, obwohl klar ist, dass diese Regierung nichts weiter sein wird, als eine Fortführung des Regierungsrates, der eine Marionette in den Händen der Besatzungsbehörde darstellt. Sie wird in der irakischen Bevölkerung weder Glaubwürdigkeit noch Unterstützung genießen. Die wirkliche Macht wird in den Händen der US-Armee und der überdimensionierten US-Botschaft verbleiben, die in Bagdad errichtet werden soll - mit mehr als 4000 Mitarbeitern.
Dennoch fürchtet Washington, dass der Eindruck, die Macht werde an ein willfähriges Marionettenregime übergeben, Volksaufstände auslösen könnte, die es nicht unter Kontrolle halten kann. Die jetzigen Operationen zielen darauf ab, oppositionelle Kräfte schon im Vorfeld dieser politischen Schmierenkomödie zu zerschlagen.
An den Termin der Machtübergabe knüpfen sich außerdem einige kleinliche Berechnungen der Bush-Regierung. Sie möchte vermeiden, dass es unmittelbar vor den US-Präsidentschaftswahlen im November im Irak zu größeren Unruhen kommt. Sie hofft, die "Machtübergabe", so verlogen sie auch sein mag, irgendwie über die Bühne zu bringen, um die wachsende Opposition gegen die Besetzung des Irak innerhalb der USA selbst zu besänftigen.
Und schließlich möchte sie eine günstige taktische Gelegenheit ausnutzen. Denn es ist wohl mehr als ein glücklicher Zufall, dass genau in dem Moment überall im Land Kämpfe ausbrechen, in dem die Truppenstärke der USA ihren Höhepunkt erreicht hat. Der umfangreiche Austausch der US-Truppen - insgesamt werden derzeit 250.000 Soldaten neu entsandt bzw. abgezogen - ist in vollem Gange. Gegenwärtig überschneiden sich Ankünfte und Abreisen, sodass sich die Zahl der im Land befindlichen US-Soldaten kurzfristig von 120.000 auf 134.000 erhöht hat. Das Pentagon und das Weiße Haus betrachten diese gesteigerte Kampfkraft als Gelegenheit, ihren Krieg gegen die irakische Bevölkerung zu intensivieren.
Denkende Angehörige der US-amerikanischen Elite warnen bereits seit geraumer Zeit davor, dass die Lage im Irak außer Kontrolle gerät, und drängen die Bush-Regierung, intensivere Repressionsmaßnahmen zu ergreifen. Die Washington Post beispielsweise veröffentlichte am Dienstag ein Editorial unter der Überschrift: "Ein notwendiger Kampf", in dem die verlustreichsten Kämpfte seit dem Einmarsch der US-Soldaten in Bagdad vor einem Jahr ausdrücklich gutgeheißen werden:
"Diese Konfrontation, die nur 88 Tage vor der vorgesehenen Übertragung der Souveränität von der US-geführten Besatzungsbehörde an eine neue irakische Regierung ausgebrochen ist, könnte sich am Ende als nützlich erweisen" - mit diesen Worten kommentierte die Post den Tod von Hunderten Irakern und mehr als einem Dutzend US-Soldaten innerhalb von 24 Stunden. Sie bezeichnete das Blutvergießen als "schmerzhaften, aber notwendigen Kampf", und erklärte: "Die US-Befehlshaber sollten nicht zögern, rasch zu handeln und ihre militärische Übermacht einzusetzen", um die gemeinsame Aufstandsbewegung von sunnitischen und schiitischen Arbeitern und Jugendlichen niederzuschlagen.
Die beliebteste Zeitung des Washingtoner Establishments räumte zwar ein, dass die Kämpfe "irakische und amerikanische Menschenleben gekostet haben", betonte aber, dass "die Alternative - das Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit den irakischen Extremisten - nur noch mehr Ärger verursachen würde".
Im Irak entwickelt sich unterdessen nichts anderes als ein Krieg des nationalen Widerstands, der die unterschiedlichen Religionsgruppen vereint, obwohl viele einen Bruderkrieg zwischen ihnen prophezeit hatten. Der irakische Widerstand gegen die US-Besatzung ist ebenso legitim wie die Kämpfe der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer in den 1940er Jahren oder die Befreiungskämpfe der Kolonialländer in den 1960er und 1970er Jahren. Die Behauptungen der US-Regierung und ihrer Apologeten, dass man lediglich gegen eine kleine Minderheit von "Extremisten" und "Terroristen" kämpfe, glaubt kein Mensch in den USA, der zu unabhängigem und kritischem Denken fähig ist.
Die Taktik, die sowohl gegen die Einwohner von Falludscha als auch gegen die schiitischen Rebellen angewandt wird, erinnert an die Methoden der Vergeltung und der Kollektivstrafen, die das Nazi-Regime vor 60 Jahren im besetzten Europa erfand und perfektionierte. Der Einsatz übermächtiger militärischer Gewalt und abschreckende Strafaktionen sollen die gesamte Bevölkerung einschüchtern. Die Tatsache, dass dieses Vorgehen bei den kommerziellen Medien und den Politikern der Demokratischen Partei nicht den leisesten Protest auslöst, ist ein deutliches Maß für den traurigen Zustand der offiziellen Politik in den USA.
Der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten, John Kerry, der das koloniale Unterfangen der USA im Irak aus vollem Halse unterstützt, wirft der Bush-Regierung vor, sie wolle die Macht zu früh an die Iraker übergeben. "Ich bin der Ansicht, dass sie ohne Rücksicht auf die Stabilität im Irak so früh wie möglich die Truppen herausholen und den Machttransfer über die Bühne bringen wollen", erklärte Kerry.
Wie soll diese "Stabilität" geschaffen werden? Sie verlangt die rücksichtslose Unterdrückung aller, die sich der Beherrschung des Irak durch die USA widersetzen und der Ansicht sind, dass das Land von den Irakern selbst regiert werden sollte, und nicht von Statthaltern, Generälen und profitgierigen Unternehmern im Dienste der USA.
Das Programm der Demokraten läuft auf ein lang andauerndes Blutvergießen hinaus, mit dem die Kontrolle der US-amerikanischen Banken und Konzerne über die reichhaltigen Ölvorkommen des Irak und der gesamten Region gesichert werden soll. Im Sinne dieser Politik haben Kerry und andere führende Mitglieder der Demokratischen Partei mehrfach gefordert, dass die US-Besatzungstruppen verstärkt werden. Damit würde automatisch auch die Zahl der Gefallenen steigen, die bereits jetzt mit 625 beziffert wird. Hinzu kommen viele Tausend Verwundete.
So sieht die Politik derjenigen aus, die den Kampf gegen Krieg und Reaktion auf die Parole "egal wer, nur nicht Bush" beschränken - d. h. auf die Ersetzung einer Regierung der Republikaner durch eine Regierung der Demokraten. Diese Politik bedeutet die Fortsetzung von Krieg und Besatzung im Irak und weitere Angriffe auf demokratische Rechte und soziale Errungenschaften in den USA, welche die unvermeidliche innenpolitische Begleiterscheinung dieser militaristischen Außenpolitik darstellen.
Die Socialist Equality Party legt in ihrem Wahlaufruf großes Gewicht auf die Forderung nach dem sofortigen und bedingungslosen Abzug sämtlicher Truppen der USA und ihrer Verbündeten.
Die amerikanischen Soldaten wurden auf der Grundlage der Lüge in den Irak geschickt, sie sollten die amerikanische Bevölkerung vor Massenvernichtungswaffen und Terroranschlägen schützen und das irakische Volk befreien. Jetzt befiehlt man ihnen Aktionen, die moralisch nicht zu rechtfertigen sind. Viele Soldaten wissen das. Sie müssen in Sicherheit gebracht werden, bevor noch mehr von ihnen getötet werden oder irreparable körperliche und seelische Schäden davontragen.
Im Gegensatz zu Kerry und anderen Demokraten, die behaupten, im Irak sei "Scheitern keine Option" für die USA, bestehen wir darauf, dass dieses "Scheitern" sowohl unvermeidlich als auch notwendig ist. Ein "Erfolg" bei der Rekolonialisierung des Irak durch militärische Aggression, Massenmord und gewaltsame Repression würde die Bühne bereiten für noch brutalere imperialistische Verbrechen.
Eine Niederlage der US-Regierung im Irak wäre ein verheerender Rückschlag für den amerikanischen Imperialismus. Sie würde die Opposition der Bevölkerung gegen den Militarismus beflügeln und die neo-kolonialistischen Pläne der herrschenden Elite gründlich diskreditieren.
Je mehr sich die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung über die furchtbaren Folgen dieses Krieges klar wird, desto nachdrücklicher wird sie die Forderung erheben, dass alle damit verbundenen Verbrechen schonungslos aufgedeckt und die Verantwortlichen bestraft werden.
Gegen das von den Demokraten und Republikanern gleichermaßen vertretene Programm des Militarismus, der Weltherrschaft und der kolonialen Eroberung vertritt die SEP eine Außenpolitik, die der arbeitenden Bevölkerung des Mittleren Ostens das Recht garantiert, selbst über ihr politisches Schicksal zu entscheiden und frei über die Rohstoffe ihrer Region zu verfügen.
Die SEP und ihre Kandidaten für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten, Bill Van Auken und Jim Lawrence, verlangen, dass die enormen Mittel, die man jetzt darauf vergeudet, die Menschen im Irak und anderswo zu unterwerfen und abzuschlachten, eingesetzt werden, um den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung in den USA und der übrigen Welt zu heben. Auf diese Weise können die Voraussetzungen für eine echte Zusammenarbeit und für soziale Gleichheit auf der ganzen Welt geschaffen werden.