Das Zusammentreffen hätte kaum passender sein können. Am 24. Oktober beschloss der Bundestag mit den Stimmen der rot-grünen Regierungskoalition und weiter Kreise der Union die Erweiterung des Bundeswehrmandats in Afghanistan. Drei Tage später mussten die UN ihre Hilfseinsätze in einigen Südprovinzen des Landes aufgrund der ständig zunehmenden Angriffe auf afghanische Regierungstruppen und US-Besatzungstruppen einstellen.
Der für die UN-Mission zuständige stellvertretende UN-Generalsekretär Jean-Marie Guehenno musste eingestehen, dass in mindestens vier Grenzdistrikten zu Pakistan die vor zwei Jahren gestürzten Taliban faktisch wieder die Macht übernommen haben. Die Kämpfe zwischen Taliban-Anhängern und mit ihnen verbündeten al-Qaida-Kämpfern auf der einen und Regierungs- und Besatzungstruppen auf der anderen Seite haben in den letzten Wochen derart an Schärfe zugenommen, dass Guehenno die Provinzen als "hoch riskant" einstufte und eine Suspendierung aller UN-Missionen in den betroffenen Regionen anordnete.
Die Ausweitung des Bundeswehrmandats auf die nördliche Region Kundus steht in direkter Verbindung mit dieser eskalierenden Lage im Süden des Landes. Die 230 deutschen Soldaten, die zusätzlich zu den 1.800 in Kabul stationierten nach Kundus entsandt werden, ersetzen dort ein amerikanisches Kontingent. Sie halten so den USA im Norden den Rücken frei, damit diese im Süden des Landes die Taliban wieder zurückschlagen können, und entlasten sie gleichzeitig für die zunehmend zum Desaster werdende Okkupation des Irak.
Offiziell wird die Entsendung zusätzlicher Bundeswehrtruppen als "Schutzkomponente" für den physischen und politischen Wiederaufbau Afghanistans über die Region Kabul hinaus bezeichnet, tatsächlich dient er der militärischen Unterdrückung des wachsenden Widerstands gegen die Besetzung des Landes sowie - und dies dürfte das wichtigste Motiv sein - der politischen Anbiederung an Washington.
Das Bundeskabinett hatte die Ausweitung des Mandats am 2. September beschlossen. Als US-Präsident Bush kurz danach "die großartige Arbeit der deutschen Armee in Afghanistan" öffentlich lobte, wurde dies in Berlin als Signal für eine Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen gefeiert, die seit dem Irakkrieg äußerst gespannt sind. Kurz danach trafen Bundeskanzler Schröder und Bush zum ersten Mal wieder persönlich zusammen. Die Ausweitung des Afghanistanmandats gilt auch als Kompensation dafür, dass sich Deutschland aufgrund seiner beschränktren militärischen Kapazitäten und der ablehnenden Haltung der Bevölkerung nicht stärker im Irak engagiert.
Seit das Kabinett grünes Licht gegeben hat, ist die Ausweitung des Afghanistanmandats mit großem Tempo in die Tat umgesetzt worden.
Damit der Einsatz in der Öffentlichkeit nicht einen falschen Geruch erhält, sollte er nicht unter der Flagge der von US-Truppen geführten Operation "Enduring Freedom" stehen, sondern Teil der ISAF (Internationale Schutztruppe für Afghanistan) werden. Dazu musste im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zunächst das UN-Mandat der ISAF über Kabul hinaus auf ganz Afghanistan ausgeweitet werden, was der deutsche Botschafter bei den UN, Günter Pleuger, am 13. Oktober erreichte. Zwei Tage später lag dem Bundestag bereits der Antrag der Regierung auf Ausweitung des Bundeswehreinsatzes vor, und nach kurzen Verhandlungen mit der CDU/CSU-Fraktion wurde das Mandat am 24. Oktober vom Parlament bei wenigen Gegenstimmen aus den Reihen der CSU erteilt. Nur die FDP und die beiden PDS-Abgeordneten stimmten dagegen.
Kaum waren die Stimmen im Bundestag ausgezählt, bestieg ein 27-köpfiges Vorauskommando der Bundeswehr ein Flugzeug Richtung Kundus, um die Stationierung der 230 Soldaten vorzubereiten, die bis zum Frühjahr 2004 abgeschlossen sein soll. Die Bundeswehr ist damit die erste Armee, die eine der acht Regionen besetzt, die in dem neuen UN-Mandat für die ISAF bezeichnet werden.
Das Einsatzgebiet umfasst neben der 120.000-Einwohner-Stadt und -Provinz Kundus noch die Regionen Badakschan, Baghlan und Tkhar, insgesamt eine Fläche die den beiden Bundesländern Bayern und Hessen entspricht. In diesem riesigen und schwer zugänglichem Gebiet sollen die 230 deutschen Soldaten nach offizieller Lesart die Ausübung der staatlichen Autorität der Kabuler Zentralregierung unter Präsident Hamid Karsai stärken und als Schutzkomponente für die zivilen Hilfsorganisationen auftreten.
Das ist aber noch nicht alles. Das vom Bundestag erteilte Mandat erlaubt die Ausweitung des Einsatzgebietes auf ganz Afghanistan und die Aufstockung des Kontingents um bis zu 220 Soldaten, um die für den nächsten Sommer anberaumten Wahlen zu sichern. In der instabilen Lage Afghanistans, wo die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Provinzfürsten und ehemaligen Warlords sich nahezu täglich verstärken, ist dies praktisch ein Freibrief, die Bundeswehr im ganzen Land einzusetzen. Ein neuer Parlamentsbeschluss ist dafür nicht vorgesehen. Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) hat lediglich zugesagt, die Fraktionsobmänner des zuständigen Ausschusses vorab zu informieren.
Himmelfahrtskommando
Doch selbst bei einer Begrenzung des Einsatzes auf die Region Kundus gleicht die Mission einem Himmelfahrtskommando. Es ist pure Augenwischerei, wenn Struck behauptet, dass das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung in deutsche Soldaten höher sei als das in Soldaten anderer Nationen, oder die deutschen Truppen würden nicht als "Besatzungssoldaten, sondern als Helfer in Uniform" angesehen. Struck tut, als hätte es den Anschlag auf den Bundeswehrkonvoi in Kabul im Juni, bei dem vier Soldaten getötet und 29 zum Teil schwer verletzt wurden, nie gegeben.
In Wirklichkeit sieht es ganz anders aus. Die zivilen Hilfsorganisationen in der Region, einschließlich des Roten Kreuzes, lehnen den Schutz durch die deutschen Truppen ab. Sie wollen nicht durch die Militärpräsenz einer ausländischen Macht zur Zielscheibe werden. Die derzeit noch in der Region stationierten amerikanischen Soldaten haben das im Juni bereits zu spüren bekommen, als unmittelbar an ihrem Camp eine Bombe gezündet wurde. Die Amerikaner haben die deutliche Warnung verstanden und ihre öffentliche Präsenz auf ein Minimum beschränkt.
Die Einschätzung des leitenden Offiziers des Vorauskommandos, Oberst Kurt-Helmut Schiebold, dass die Lage in der Region "ruhig, aber nicht stabil" sei, ist nicht mehr als eine voreilige Momentaufnahme. Für die Bevölkerung hat der Krieg gegen die Taliban keinerlei Verbesserungen ihrer sozialen Lage ergeben. Die meisten Straßen sind zerstört, es gibt keine Trinkwasserversorgung und die Elektrizitätsversorgung ist auf die Stadt Kundus beschränkt, da die US-Armee das Wasserkraftwerk mit Streubomben zerstört hat. Zwei der vier eingesetzten Bomben sind damals nicht detoniert, und die herumliegenden Sprengsätze machen den Wiederaufbau des Kraftwerks zu einem Spiel auf Leben und Tod.
Machthaber in der Region sind der zivile Gouverneur Hasi Abdul Latif und der Militärkommandeur General Daud, der eine 30.000 Mann starke Privatarmee unterhalten soll und eng mit dem afghanischen Verteidigungsminister Fahim befreundet ist. Fahim gilt in der Kabuler Zentralregierung als Gegenspieler von Hamid Karsai, dessen Autorität die Bundeswehrsoldaten in der Region Kundus ausbauen und sichern sollen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Latif und Daud sollen eng in den Drogenhandel verstrickt sein und damit ihre Privatarmeen finanzieren. Die Region um Kundus ist ein Hauptanbaugebiet für Schlafmohn. Die diesjährige Ernte soll mit 7.000 Tonnen Rohopium ein Rekordergebnis abgeworfen haben. Über die Stadt Kundus wiederum, durch die die wichtigste Nord-Süd-Handelsroute verläuft, wird der Drogenhandel in Richtung Tadschikistan abgewickelt.
Dass der Drogenhandel eine Schlüsselrolle für die politische Macht in der Region spielt, steht dabei außer Frage. Doch die Bundeswehr soll sich nicht in die Drogengeschäfte einmischen. General Daud hat gegenüber Spiegel online klar gemacht, dass jede Einmischung in die um den Opiumhandel angeordnete Sicherheitstektonik "Risiken für das Leben der Deutschen in Uniform" berge. Nicht zu Unrecht verwies der außenpolitische Sprecher der FDP, Werner Hoyer, darauf, dass die Bundeswehr "internationalen Geleitschutz" für die Drogengeschäfte gebe. Wie da die Autorität Karsais gegenüber den beiden mächtigen Provinzfürsten gestärkt werden soll, bleibt völlig schleierhaft.
Im benachbarten Masar-I-Sharif hat zudem mit Abdul Raschid Dostum, für den der Drogenhandel ebenfalls einiges abwirft, ein langjähriger Gegner von General Daud das Sagen. Wann die Gegnerschaft zwischen Dostum und Daud in eine offene militärische Auseinandersetzung mündet, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Erst vor wenigen Tagen hat ein brüchiger Waffenstillstand die Kämpfe zwischen Dostum und einem weiteren Widersacher, Atta, vorläufig beendet. Die Region Kundus könnte sich für die Bundeswehrsoldaten so schnell als Pulverfass erweisen.
Zusätzlich zu den bereits genannten verfolgt die deutsche Politik mit der Ausweitung des Bundeswehrmandats in erster Linie eigene, vor allem wirtschaftliche Interessen. Afghanistan spielte bereits in der deutschen Kolonialpolitik eine wichtige Rolle, und die engen wirtschaftlichen Beziehungen wurden seitdem nur durch den sowjetischen Einmarsch 1979 unterbrochen, mit den Taliban aber 1996 wieder aufgenommen.
Afghanistan gilt der deutschen Bourgeoisie als Einfallstor für die wirtschaftlichen Interessen am Kaspischen Meer mit seinen reichen Öl- und Gasvorkommen und zu den benachbarten Staaten, vor allem China. Die Bundeswehr, gegründet als reine Verteidigungsarmee, wird von der Außenpolitik dabei als Instrument benutzt, um weltweit ihren Einfluss zu stärken und Geschäftsbeziehungen auszubauen.