Ein Überlebender des Warschauer Ghettos

Roman Polanskis "Der Pianist"

Roman Polanskis jüngster Film Der Pianist ist eine eindringliche Erinnerung an den Holocaust und schildert die Erlebnisse eines einzelnen Überlebenden des Warschauer Ghettos.

Polanski betritt kein neues Gelände, aber er nähert sich dem Thema intelligent und angemessen. Seine Verfilmung der eindrucksvollen Memoiren von Wladyslaw Szpilman ist im Großen und Ganzen sehr gelungen. Die Memoiren wurden bereits 1946 geschrieben, blieben jedoch nahezu unbekannt, bis sie 1999, ein Jahr vor dem Tod des Autors, ins Englische übersetzt wurden.*) Der Film wurde kürzlich für den Academy Award (Oskar) nominiert und hat bereits die Goldene Palme beim Festival von Cannes und in den USA den Kritikerpreis der National Society of Film Critics erhalten.

Szpilman war eine interessante Persönlichkeit, ein begabter Pianist und Komponist, der seine wundersame Rettung im besetzten Polen, in dem Millionen Juden in den Tod getrieben wurden, noch um 55 Jahre überlebte.

Warschau war in den 30er Jahren, mit Ausnahme vielleicht von New York, die am stärksten jüdisch geprägte Metropole der Welt. In Polen war damals Antisemitismus an der Tagesordnung, aber in den großen Städten weniger ausgeprägt. Szpilman kam 1911 in einer assimilierten Warschauer Musiker- und Intellektuellenfamilie zur Welt. Anfang der 30er Jahre studierte er Klavier bei dem berühmten Arthur Schnabel und Komposition bei dem angesehenen deutschen Komponisten Franz Schreker. Zur Zeit der nationalsozialistischen Besetzung Polens 1939 war Szpilman bereits als Pianist und als Komponist populärer Lieder durch das polnische Radio einem breiten Publikum bekannt.

Dieses aktive Musikerleben fand Anfang des Krieges ein abruptes Ende. Drei Wochen nach dem 1. September, dem Beginn der Invasion, marschierten die Nazis in Warschau ein. Wie der Film zeigt, versprachen die Deutschen den Juden zunächst eine "faire" Behandlung. Aber sehr rasch folgte dann eine antisemitische Verordnung nach der anderen. So wurde den Juden beispielsweise verboten, mehr als 2000 Zloty zu besitzen. Besonders hart traf sie die Verordnung, gelbe Armbinden zu tragen, ein Zeichen der Demütigung und Unterdrückung.

Die Mitglieder der Familie Szpilman, die sich "liebten und stritten", wie ein Kritiker zutreffend schrieb, bemühen sich um Haltung und Bewahrung ihrer Menschenwürde. Szpilmans Vater sucht verzweifelt nach Gründen, um sich seinen Optimismus erhalten zu können. Der Rest der Familie tut das nicht, dennoch lassen sie sich nicht in die Verzweiflung treiben. Der Vater, die Mutter, Szpilmans Bruder und seine beiden Schwestern werden kurz aber eindringlich gezeigt.

Die größte Stärke des Films ist, dass er klar schildert, wie die Warschauer Juden schrittweise brutalisiert werden. Mit der Errichtung des Ghettos Ende 1940 wurden Hunderttausende entwurzelt, zusammengepfercht und in einen Zustand unglaublicher Überfüllung, Krankheit und Verzweiflung gezwungen. Das Drehbuch, das von Ronald Harwood nach Szpilmans Buch geschrieben wurde, gibt viele Szenen so lebendig wieder, wie sie in den Memoiren beschrieben werden. Die chronologische Folge der Ereignisse zeigt, wie die "Endlösung" der Nazis herannaht und von den Opfern mit wachsendem Schrecken wahrgenommen wird. Nur 200 der ursprünglich 400.000 jüdischen Bewohner Warschaus überlebten.

Das Alltagsleben geht weiter. Es dreht sich vorwiegend darum, die fürs Überleben benötigte Nahrung und psychische Stärke zu finden. Zehntausende fallen der Armut, dem Hunger oder Krankheiten zum Opfer. Der Terror der Nazis steigert sich jeden Tag. Kinder werden auf der Straße erschossen, angeblich weil sie ungehorsam waren. Eine Gruppe von Soldaten durchsucht eine Wohnung im Haus gegenüber. Szpilman und seine Familie beobachten mit Entsetzen, wie der alte Vater der dort wohnenden Familie, der nicht strammstehen kann, mitsamt seinem Rollstuhl aus dem Fenster zu Tode gestürzt wird.

Die Kamera weicht diesen grausamen Szenen nicht aus, verweilt aber auch nicht länger dabei, als notwendig ist. Nichts an diesem Film ist billig, abstoßend oder sensationsgierig. Umso wirkungsvoller ist er insgesamt.

Auch unter den Bedingungen im Ghetto bleiben die Klassenschranken erhalten. Um seine Familie zu unterstützen, spielt Szpilman Klavier in einem Café, in dem die privilegierteren Kreise der jüdischen Bevölkerung verkehren. Die jüdische Polizei rekrutiert sich aus der Mittelschicht und den Gebildeten. Wladyslaw und sein Bruder Henryk weisen diesen Weg mit Verachtung zurück.

Nach fast zwei Jahren im Ghetto erreichen die Deportationsbefehle auch die Familie Szpilman - die Eltern und zwei der Kinder, Wladyslaw und Regina. Henryk und Halina sind noch nicht aufgerufen worden, wollen aber nicht von der Familie getrennt werden und schlagen sich durch zum "Umschlagplatz", dem großen Platz, von dem die Transporte abgehen. Bis zum Schluss kreisen die Diskussionen der Verdammten darum, ob sie in den Tod geschickt werden oder ob sie "nur" Zwangsarbeit leisten sollen. Eine Frau schreit hysterisch: es stellt sich heraus, dass sie beim Versuch, die Familie vor der Entdeckung zu bewahren, als die Juden zur Deportation geholt wurden, versehentlich ihre kleine schreiende Tochter erstickt hatte. Das Todesröcheln des Kindes hatte sie verraten.

Im allerletzten Moment, als die Familie Szpilman bereits auf die Eisenbahnwaggons zugeht, in die sie zu ihrer Reise nach Treblinka gepfercht wird, erkennt ein jüdischer Polizist Wladyslaw. Vielleicht hat er Gewissensbisse wegen der üblen Rolle, die er spielt. Er brüllt ihn an, wirft ihn zu Boden und sagt ihm, er solle fliehen.

Hier beginnt das nächste Stadium von Szpilmans Odyssee - sein Überleben während der nächsten zwei Jahre. Zunächst leistet er Zwangsarbeit im Ghetto. Dann entschließt er sich zu fliehen. Er erinnert sich an eine junge Frau, eine Musikerin, die er früher kennen gelernt hatte. Er wird von Mitgliedern des polnischen Widerstands in einer Wohnung unmittelbar außerhalb der Ghettomauer versteckt. Von dort beobachtet er den heldenhaften aber hoffnungslosen Ghettoaufstand im April 1943. Beständig auf der Flucht, wird er dann mehr als ein Jahr später Zeuge des allgemeinen Warschauer Aufstands im August 1944.

In dieser letzten Hälfte des Films gibt es keine Längen, nichts ist künstlich. In einer scheinbar endlosen Reihe von Katastrophen und knappem Entrinnen wird deutlich, dass Szpilmans Überleben nicht einfach ein Wunder war. Sicher gab es auch glücklicher Zufälle, aber es war mehr als Glück im Spiel. Vor allem gab es da die beständige Arbeit der Widerstandsbewegung gegen die Nazis im Untergrund; dazu kam Szpilmans Entschlossenheit - sein "Wille zu leben", wie er es in seinen Memoiren nennt.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte, in den Wochen vor Ende des Krieges, findet ein deutscher Offizier Szpilman in einem verlassenen Haus. Er befragt ihn, hört ihn Klavierspielen und hilft ihm zu überleben, indem er ihm etwas zum Essen und eine Wolldecke bringt, damit er sich wärmen kann.

Es gibt einige subtile, aber bezeichnende Unterschiede zwischen dem Film und Szpilmans Memoiren. Teilweise ist es sicher unvermeidlich, dass ein Filmdrehbuch, das "Echtzeit" bei der Beschreibung der Ereignisse erfordert, die Geschichte von einer anderen Ausgangsposition her behandelt als eine biographische Erzählung, selbst wenn sie nur wenige Monate nach den Ereignissen geschrieben wurde.

Unglücklicherweise hat Polanski jedoch keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, seine Titelfigur mit der nötigen Tiefe auszustatten. Die Memoiren zeigen ihn sogar unter den brutalsten Bedingungen als ein denkendes menschliches Wesen. Der Film setzt jedoch etwas andere Akzente. Obwohl der Schauspieler Adrien Brody hervorragend spielt, bleibt der Charakter Szpilmans im Film im Gegensatz zum Buch etwas passiv und leer.

Das steht im Zusammenhang mit der Abschwächung einiger sozialer und politischer Elemente aus den Memoiren. Der Film zeigt zum Beispiel Szpilmans Kontakt mit Jehuda Zyskind, ein sozialistischer Untergrundkämpfer im Ghetto. Zyskind beschäftigt sich mit illegalen Flugblättern und organisiert Aktivitäten. Er wird als unrealistisch "optimistisch" dargestellt. Dies ist aber nur ein Teil von dem, was Szpilman in seinen Erinnerungen erzählt. Einige Jahre, nachdem Zyskind von den Nazis ermordet worden war, schreibt er über ihn:

"Wenn ich heute an ihn denke, nach den Jahren des Schreckens, die mich von der Zeit trennen, als er noch am Leben war und seine Botschaft verbreiten konnte, bewundere ich seinen unbeugsamen Willen.... Ich ging immer gestärkt und getröstet von ihm weg. Erst wenn ich zu Hause war und im Bett lag und die politischen Nachrichten noch einmal durchgegangen war, zog ich die Schlussfolgerung, dass seine Argumente unsinnig waren. Aber am nächsten Morgen würde ich ihn wieder besuchen und er würde es wieder schaffen, mich davon zu überzeugen, dass ich unrecht hatte, und ich verließ ihn versehen mit einer Portion Optimismus, die bis zum Abend vorhielt und mir das Weitermachen ermöglichte.... Es war schwer für mich, nachdem Zyskind ermordet worden war, noch Hoffnung zu haben, und ich hatte niemanden mehr, der es mir richtig erklären konnte. Erst jetzt weiß ich, dass ich ebenso unrecht hatte wie die täglichen Nachrichten, das Zyskind jedoch recht hatte. Obwohl es damals nicht so schien, alles kam so, wie er es vorausgesagt hatte."

Zyskinds Voraussicht ermöglichte ihm allerdings nicht, sich selbst oder die anderen Opfer des Holocaust zu retten. Begriffen hatte er aber die tiefe Zerrüttung des kapitalistischen Systems, das den Faschismus hervorgebracht hatte. Er wusste, das die Nazis ihre erklärten Ziele niemals erreichen würden, und er hatte zweifellos recht. Diese wertvolle Einsicht Szpilmans fehlt im Film vollständig.

Es ist natürlich nicht die Aufgabe von Memoiren, insbesondere, wenn sie unter diesen Umständen geschrieben wurden, eine exakte Analyse über Hitler Aufstieg zu liefern. Das tun die Memoiren von Szpilman auch keineswegs. Der Charakter des Kampfs gegen den Faschismus, jedoch, ist darin zu einem bestimmten Grad ausgedrückt, wie das oben zitierte Beispiel zeigt. Auch ist die Rolle der Polen, die Szpilman geholfen haben, detaillierter geschildert. Und Wilm Hosenfeld, der Wehrmachtsoffizier, der im Film im Wesentlichen nur als ein demoralisierter Soldat präsentiert wird, der von Szpilmans musikalischen Fähigkeiten beeindruckt ist, wird in den Memoiren (die auch Auszüge aus seinem Tagebuch enthalten) als eine Persönlichkeit mit festen politischen Überzeugungen geschildert.

Die Schwächen des Films hängen zweifellos mit Polanskis eigener Weltanschauung zusammen. Die Karriere des bekannten Filmemachers begann vor 40 Jahren mit Das Messer im Wasser (nachdem er Polen verlassen hatte). Es folgten Rosemaries Baby, Chinatown und etwa 20 andere Titel. Polanski ist wie sein Held ein polnischer Jude und Überlebender des Holocaust. Er ist mehr als 20 Jahre jünger als Szpilman. Er wurde in Paris geboren, kehrte aber als Dreijähriger mit seinen Eltern 1936 zurück nach Krakau. Sein Vater überlebte den Krieg, aber seine Mutter kam um. Polanski selbst fand Zuflucht bei katholischen Familien auf dem Lande in Polen. In Polanskis Leben mangelt es nicht an tragischen Ereignissen, wie der Ermordung seiner Frau, der Schauspielerin Sharon Tate, durch die berüchtigte Manson Familie. Bis jetzt aber hatte er es vorgezogen, sich nicht mit den erschütternden Ereignissen seiner Kindheit auseinander zu setzen. Als Filmemacher war er vielmehr bekannt für seine Distanziertheit und Kälte, die an Zynismus grenzt.

Polanski erklärt, Szpilmans Buch habe ihn bewegt, und es gibt keinen Grund, dies anzuzweifeln. "Szpilman war objektiv, nicht sentimental", kommentiert er. "Er zeigte Polen, die gut waren und solche die böse waren, gute und böse Juden, gute Deutsche und böse.... Das Wichtigste ist, dass das Buch sehr positiv ist. Wenn man es gelesen hat, ist man nicht niedergedrückt, denn es ist voll Hoffnung. Am Ende sind wir überzeugt, dass die menschliche Natur trotz allem gut ist."

An diesen Bemerkungen ist etwas dran. Szpilmans Erzählung lässt an zwei andere Memoiren von Überlebenden denken - an Primo Levis Ist das ein Mensch? und an Victor Klemperers umfassendes und erstaunliches Tagebuch über sein Leben während des Dritten Reichs in Dresden. All diese Erinnerungen, einschließlich derer von Szpilman, haben eines gemeinsam, obwohl sie weit davon entfernt sind, eine Antwort auf die großen Fragen über die Ursachen des Holocaust zu geben: Humanität, die sich weigert, in Bitterkeit und Verzweiflung zu verfallen oder sich irgendeiner Form von Nationalismus oder Chauvinismus zu überlassen. Es spricht für Polanski, dass er die Leistung der vielen Polen anerkennt, die diesen Film ermöglicht haben, indem sie bei den Massenszenen mitwirkten und auch für die Technik verantwortlich zeichneten.

Dennoch tut sich Polanski schwer mit dem Thema. Er hat, ob bewusst oder unbewusst, nur eine Seite der Erlebnisse Szpilmans besonders hervorgehoben - die des auf sich gestellten Mannes, des einsamen Überlebenden. Das hat etwas vom Künstler, der lieber ausharrt und sich aus der Welt zurückzieht, als sich in ihr zu engagieren. Aber Szpilmans Memoiren enthalten mehr als das.

Szpilmans Buch wurde von dem stalinistischen Regime kurz nach seinem Erscheinen 1946 unterdrückt. Obwohl es alles andere als politisch war, konnten die Machthaber nichts dulden, was zu einer ehrlichen Diskussion historischer Fragen hätte ermutigen können. Die Darstellung eines "guten Deutschen" widersprach der nationalistischen Politik der Stalinisten ebenso wie die Konzentration auf das Leiden der polnischen Juden.

Das Erscheinen dieses Buchs 1999, dem jetzt die Filmversion folgte, widerspiegelt die großen Veränderungen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Historische Fragen, die lange begraben schienen oder durch den Kalten Krieg verzerrt worden waren, sind an die Oberfläche gekommen. Szpilmans Leben bestand nicht nur aus den Jahren, die in seinen Memoiren beschrieben werden, sondern enthält auch seine bescheidene, aber bewundernswerte Karriere über fünf Jahrzehnte als Direktor des polnischen Radios, als Gründer des Warschauer Klavierquintetts, als produktiver Liederkomponist wie als Interpret.

Er ist ein sehr konkretes Beispiel für das Potential, das durch den Holocaust vernichtet wurde - nicht nur das Leben von sechs Millionen Juden, sondern auch der vielen anderen, die im Kampf gegen den Faschismus gestorben sind, auch an Orten wie Dresden, Hiroshima und Nagasaki. Insoweit sich dieser Film ehrlich mit einigen der bittersten Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts auseinandersetzt, kann er seinem Publikum auch vor Augen führen, welches menschliche Potential auch heute immer noch durch Krieg, Armut und Diktatur vernichtet wird.

* * * * *

*) Szpilmans Buch ist 1998 in einer deutschen Übersetzung erschienen und im Buchhandel erhältlich:

Szpilman, Wladyslaw: Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939-1945. Vorw. v. Andrzej Szpilman. Anhang v. Wilm Hosenfeld. Mit e. Essay v. Wolf Biermann. Sonderausg. 1998. 232 S., 12 Fototaf. 22 cm. Gebunden. 422gr. ISBN: 3-430-18987-X, 12.95 EUR

Szpilman, Wladyslaw: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben. Vorw. v. Andrzej Szpilman. Anhang v. Wilm Hosenfeld. Mit e. Essay v. Wolf Biermann. Ullstein Bücher Nr.36351. 2002. 231 S., 8 SW- u. 8 Farbfototaf. 18 cm. Kartoniert. 224gr.,ISBN: 3-548-36351-2, 7.95 EUR

Siehe auch:
Das Haus nebenan - Chronik einer französischen Stadt im Kriege von Marcel Ophüls
(6. Dezember 2001)
Die Geschichte des ehemaligen Gestapo-Lagers "Oderblick" in Schwetig/Swiecko
( 1. März 2000 )
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - März/April 2003 enthalten.)
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