Der Ausbruch des Militarismus und die Krise des amerikanischen Kapitalismus

Die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party (Australien) hielten am 5. und 6. Juli im australischen Sydney eine internationale Konferenz ab, die unter der Überschrift stand "Die politischen Lehren aus dem Krieg im Irak: Eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse".

Am 1. und 2. August veröffentlichten wir Teil 1 und 2 des Beitrages des Nationalen Sekretärs der australischen Socialist Equality Party, Nick Beams, "Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus" und am 16. August den Beitrag des Delegierten der deutschen Partei für Soziale Gleichheit, Stefan Steinberg, "Europa in der Sackgasse".

Im folgenden veröffentlichen den Beitrag des Delegierten der Socialist Equality Party (USA) und Mitgliedes der internationalen Redaktion der WSWS , Barry Grey.

Ich freue mich sehr, dieser Konferenz die herzlichen brüderlichen Grüße der Socialist Equality Party (USA) überbringen zu dürfen. Diese Konferenz ist Teil einer Reihe öffentlicher Veranstaltungen der World Socialist Web Site, der Socialist Equality Party und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale auf drei Kontinenten, die sich zur Aufgabe stellt, die Lehren aus der amerikanisch-britischen Invasion im Irak zu ziehen - einem Ereignis, das einen Wendepunkt in der Weltpolitik markiert.

Wie viele von Euch wissen, haben wir bisher Veranstaltungen in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien abgehalten. Diese Treffen sollen die Arbeit der WSWS voranbringen, den internationalen Kader und die weltweit wachsende Leserschaft zu informieren und politisch zu entwickeln und Antworten auf die brennenden Fragen der Gegenwart zu geben: Wachsender Militarismus, Angriffe auf demokratische Rechte, zunehmend aggressive Attacken auf den Lebensstandard und die Bedingungen der arbeitenden Massen. Die Veranstaltungen und täglichen Veröffentlichungen der WSWS sind Teil einer konzentrierten Praxis, deren Ziel es ist, die Bedingungen für den Aufbau einer internationalen Arbeiterbewegung zu schaffen, die sich auf das große Erbe des Marxismus und ein revolutionäres sozialistisches Programm stützt. Diese Reihe internationaler Konferenzen markiert einen wichtigen Fortschritt in diesem Kampf.

Die Ereignisse, die sich seit der US-geführten Invasion im Irak entwickeln, scheinen einen Aphorismus unserer Vorfahren zu bewahrheiten: Wen die Götter vernichten wollen, machen sie erst wahnsinnig.

Mit ihrem Vorgehen im Irak haben sich die USA selbst in die größte Krise seit dem Vietnamkrieg manövriert. Die Erklärungen aus Washington schwanken zwischen Aufschneiderei, Wirrnis und Widersprüchlichkeit. Bushs Machoausruf: "Schlagt nur zu" hat die Familienangehörigen von US- Soldaten empört, die ihre Söhne und Töchter jetzt in eine immer blutiger werdende Polizeimaßnahme verstrickt sehen, deren Ende nicht abzusehen ist.

Einen offensichtlichen Beleg für den wachsenden Ärger und die Desillusionierung im Militär selbst lieferte die Titelseite der New York Times vom 4. Juli mit der Schlagzeile "Der Ärger der Soldatenfamilien wächst": "Die Frustration wurde in Fort Stewart kürzlich so groß, dass ein Oberst, der zu 800 aufgebrachten Ehepartnern - die meisten von ihnen Ehefrauen - sprach, aus der Sitzung eskortiert werden musste. ‚Sie weinten, flehten, riefen und schrieen nach der Rückkehr ihrer Ehemänner’, so Lucia Braxton, die Direktorin des Community Service in Fort Stewart. Anzeichen für den Unmut in den Militärstützpunkten mehren sich: Einer Meinungsumfrage vom letzten Dienstag zufolge ist die Anzahl derer, die den Verlauf des Krieges negativ bewerten, rapide von 13 Prozent im Mai auf nun 42 Prozent angestiegen. Im Verhältnis dazu sank die Anzahl derer, die den Verlauf des Krieges positiv bewerten, von 86 Prozent im Mai und 70 Prozent vor einem Monat auf jetzt 54 Prozent... ‚Es hieß, die Soldaten würden von Beifall klatschenden Mengen begrüßt werden. Doch wo sind diese Leute?’, fragte Kim Franklin, deren Mann einer Artillerieeinheit angehört."

Die USA sind von der raschen Zuspitzung der militärischen Situation im Irak völlig überrascht worden. Die Kluft, die die militaristische Clique in Washington von den Empfindungen der breiten Bevölkerung trennt, wurde in jüngsten Bemerkungen von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld deutlich, der in seiner unnachahmlich zynischen Manier den engstirnigen und politisch desorientierten Standpunkt der Machthabenden verkörpert.

Rumsfeld ließ verlauten, dass die Verluste auf US-Seite bisher "vernachlässigbar" seien und dass die Soldaten im Irak sicherer seien als Bürger, die in einigen Städten der USA nachts durch die Straßen gehen. Diese Bemerkung gehört in die Kategorie: "Dann sollen sie halt Kuchen essen." Sie ist nicht nur bezeichnend für die Blindheit und Arroganz des Führungspersonals der US-Regierung, sondern auch für den Zustand der amerikanischen Städte.

Der US-Prokonsul Paul Bremer und andere zivile wie militärische Sprecher vertreten zur selben Zeit zwei grundverschiedene Theorien: der bewaffnete Widerstand gegen die amerikanische -britische Besatzung sei unorganisiert und das Werk versprengter Gruppen; und die alte baathistische Elite ziehe weiterhin die Fäden, vielleicht sogar nach direkten Anweisungen von Saddam Hussein.

Obwohl der rückständige und ignorante Charakter Bushs und seiner Gefolgsleute bekannt war, erstaunt es, wie wenig Sorgfalt und Vorbereitung sie auf die Kolonisation eines der wichtigsten Länder im Nahen Osten verwandten. Diese Unüberlegtheit und Blindheit sind symptomatisch für etwas, das tief in der kapitalistischen Gesellschaft der USA wurzelt. Zwei Dinge lassen sich mit Sicherheit voraussagen: Erstens werden die USA immer brutaler und barbarischer vorgehen, Mordanschläge, Massaker und nazi-ähnliche Vergeltungsmaßnahmen eingeschlossen, zweitens wird das ganze Unterfangen am Ende in einem Desaster für den US-Imperialismus enden.

Der Konsens über die globale Hegemonie der USA

Warum gab es so wenig Opposition im politischen und Medienestablishment gegen die illegale und unprovozierte Einnahme und Besetzung des Irak? Warum sind sich alle Fraktionen der politischen Elite, taktische Differenzen und künstlich aufgebauschte Dispute ausgenommen, "im Krieg gegen den Terrorismus" einig? Wieso haben sie sich fraglos hinter eine offen imperialistische und kolonialistische Außenpolitik gestellt?

Der Leitartikel in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs bringt Licht in diese Fragen. Das Thema dieser Ausgabe des Magazins, des wahrscheinlich meistgelesenen Journals zur US-amerikanischen Außenpolitik, das vom Council on Foreign Relations herausgegeben wird, lautet "Nach Saddam". Der Leitartikel steht unter der Überschrift "Die Sicherung des Golfes" und wurde von Kenneth Pollack verfasst, Direktor der Forschungsabteilung des Saban-Zentrums für Politik im Mittleren Osten, das der Brookings Institution angehört. Die Brookings Institution gilt, gemessen an den gegenwärtigen politischen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten, als liberaler Think Tank. Pollack, ein Demokrat, arbeitete in der Clinton-Regierung als Direktor für Angelegenheiten des Persischen Golfs im Dienste des Nationalen Sicherheitsausschusses.

Unter der Überschrift "Es geht ums Öl, Dummkopf" schreibt er: "Amerikas Hauptinteresse am Persischen Golf ist die Sicherung der freien und stabilen Förderung der Ölvorkommen aus der Region im großen Maßstab."

Nachdem er zugegeben hat, dass sich der Irakkrieg vor allem ums Öl drehte, versucht er das eben Zugegebene wieder abzustreiten: "Dies hat nichts mit den Verschwörungstheorien gegen die Bush-Regierung im Vorfeld des aktuellen Kriegs gemein. Die US-Interessen erschöpfen sich nicht darin, ob der Preis für Benzin zwei oder drei Dollar beträgt oder ob Exxon anstelle von Lukoil oder Total den Vertragszuschlag bekommt. Die Vereinigten Staaten sind nicht von der Menge von Öl abhängig, die vom Golf oder von sonst wo importiert wird."

Pollack betrachtet hier eine US-Ölverschwörung nur aus einem recht beschränkten Blickwinkel, um sie besser leugnen zu können. Aber ist es, selbst von seinem Standpunkt aus betrachtet, für die US-Interessen wirklich so unerheblich, ob der Benzinpreis zwei oder drei Dollar beträgt oder ob es Exxon statt Lukoil oder Total gelingt, die Verträge für das irakische Öl abzuschließen? Wohl kaum. Das politische Fortbestehen der Bush-Regierung könnte sehr wohl vom Benzinpreis abhängen, selbst ohne Eintreten der drohenden Rezession mit all ihren sozialen und politischen Implikationen.

Pollack fährt fort: "Der Grund für das gerechtfertigte und legitime Interesse der Vereinigten Staaten an der umfangreichen und preiswerten Förderung des Öls am Persischen Golf ist schlicht und ergreifend, dass die Weltwirtschaft in den letzten 50 Jahren auf der Grundlage reicher und billiger Ölvorkommen errichtet wurde. Wenn diese Basis verloren ginge, würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen."

Mit anderen Worten: Die USA besetzen den Irak als uneigennützige, altruistische Schutzpolizei der Weltwirtschaft. (In den Schriften solcher Experten fallen die universellen Interessen der Menschheit stets mit denen Amerikas zusammen - so wie sie von der politischen und wirtschaftlichen Elite gesehen werden.)

Pollack schreibt dann: "Heute kommen etwa 25 Prozent der globalen Ölproduktion aus dem Persischen Golf, Saudi Arabien allein hält daran einen Anteil von 15 Prozent - eine Zahl, die in den kommenden Jahren eher steigen als sinken wird. In der Golfregion liegen mehr als zwei Drittel der nachgewiesenen weltweiten Ölreserven, die sich zu einem absurd niedrigen Preis fördern lassen. Ein Barrel Öl aus Saudi Arabien kostet nur ein Fünftel und ein Zehntel so viel wie einer aus Russland." (Man kann sich vorstellen, wie Pollack die Hände reibt und ihm das Wasser im Munde zusammenläuft.)

"Wegen des Stellenwerts des saudischen Öls und der saudischen Kapazitäten", fährt Pollack fort, "würde ein plötzlicher Ausfall des saudischen Ölnetzwerks den Weltmarkt lähmen und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch heraufbeschwören, der mindestens so verheerend wie die Große Depression der 30er Jahre, wenn nicht noch schlimmer, wäre. Deswegen ist die Tatsache, dass die USA nicht den größten Teil ihres Öls aus dem Persischen Golf importieren irrelevant: Sollten die saudischen Ölvorkommen versiegen, würde der Ölpreis steigen, die amerikanische Wirtschaft zerstören und damit auch jede andere Wirtschaft."

Im Anschluss fasst Pollack die Beweggründe für die politische und militärische Hegemonialstellung der USA im Mittleren Osten und am Persischen Golf zusammen: "Aber den Vereinigten Staaten genügt es nicht, den Ölfluss aus dem Persischen Golf aufrechtzuerhalten, sie wollen ebenfalls alle potentiell feindlichen Staaten daran hindern, Kontrolle und Macht über die Region und ihre Ressourcen zu gewinnen, um der Welt Schutzgeldzahlungen abzupressen."

Man beachte die Formulierung "alle potentiell feindliche Staaten". Wen hat er da im Sinn? (Weiter unten im Artikel bezeichnet er China als "Außenseitermacht", die versucht sein könnte, "in den trüben Gewässern des Golfs zu fischen". Bemerkenswerterweise betrachtet er die Vereinigten Staaten nicht als "Außenseitermacht".). Die Formulierung "potentiell feindliche Staaten" deckt alles und jeden ab! Mit anderen Worten, die Vereinigten Staaten müssen die unilaterale Dominanz über die gesamte Region anstreben. Selbstverständlich können die USA selbst nicht beschuldigt werden, "Macht zu gewinnen" oder "der Welt Schutzgeldzahlungen abzupressen".

Doch Pollack geht noch weiter: "Die USA sind aufgrund der geostrategisch zentralen Lage nahe dem Mittleren Osten, Zentralasien, Ostafrika und Südasien daran interessiert, militärischen Zugang zur Golfregion zu besitzen. Wenn den Vereinigten Staaten der Zugang zur Golfregion verwehrt wird, könnte ihr Einfluss in anderen Schlüsselgebieten der Welt stark beschnitten werden. (Große Teile des Kriegs gegen Afghanistan wurden von Militärbasen im Persischen Golf geführt.)"

Nachträglich fügt er noch hinzu: "Die Tragödie des 11. Septembers hat den Vereinigten Staaten vor Augen geführt, dass sie ein Interesse daran haben, die terroristischen Gruppen, die in dieser Region aus dem Boden wachsen, auszumerzen."

Hier zeigt sich ein Konzept der globalen Hegemonie der USA. Es enthält ein bedeutendes Element von politischer Desorientierung und Verrücktheit. Wie sollen die USA ein solches Imperium errichten und aufrechterhalten? Im Irak hat sich bereits deutlich gezeigt, dass die herrschende Klasse Amerikas keine Antwort auf diese Frage hat und auch nicht haben kann, denn ein solches Vorhaben ist unrealisierbar.

Trotzdem veranschaulicht Pollacks manische Vision den Konsens der amerikanischen herrschenden Klasse. Angefangen bei der New York Times über die Washington Post bis hin zum Wall Street Journal stimmt man trotz aller Differenzen darin überein, dass Amerikas Griff nach der globalen Hegemonie legitim ist. Auch die Demokratische Partei ist damit einverstanden. Ihre Unterstützung für den Krieg und ihre Kriecherei vor der Bush-Regierung ist nicht nur ein Merkmal ihrer Feigheit. Sie unterstützt die grundlegende Ausrichtung der Außenpolitik. Wenn der Demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore im Jahre 2000 das Weiße Haus bezogen hätte, gäbe es wenig Grund zu der Annahme, dass der Krieg im Irak nicht stattgefunden hätte. Er hätte allenfalls etwas andere Formen angenommen.

Die Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus

Was verbirgt sich hinter dieser kolossalen Hybris?

Der wichtigste Grund ist die Krise des Weltkapitalismus, dessen Widersprüche ihren konzentrierten Ausdruck in der Krise des amerikanischen Kapitalismus finden. Seit fast vier Jahrzehnten ist die Bourgeoisie mit chronischer Stagnation und dem Niedergang der Profitrate konfrontiert, und dies besonders in den Schlüsselindustrien. Beginnend während der Zeit der Carter-Regierung in den 70er, dann nachdrücklicher unter Reagan und seinen Nachfolgern hatte die herrschende Klasse der USA versucht, diesem Problem dadurch zu begegnen, dass sie den Klassenkompromiss der 50er und 60er Jahre mehr und mehr abbaute und die Ausbeutung der amerikanischen und internationalen Arbeiterklasse enorm verstärkte.

Innenpolitisch führte dies zu Massenarbeitslosigkeit, Angriffen auf die Gewerkschaften und Lohnkürzungen verbunden mit der Deregulierung der Industrie, Steuersenkungen für das Großkapital und die Reichen und Angriffen auf das Sozialsystem. In der Außenpolitik bedeutete das eine immense Aufrüstung und die Wende zu einer wesentlich aggressiveren Konfrontationspolitik gegenüber der Sowjetunion sowie militärische Interventionen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig drückten die USA die Marktpreise für Rohstoffimporte, womit der Bankrott der Dritten Welt beschleunigt wurde.

Doch auch durch den intensivierten Militarismus nach außen und die soziale Reaktion im Inneren gelang es letztendlich nicht, die zugrunde liegende Krise zu überwinden. Der Boom in den 80er und 90er Jahren gründete sich zunehmend auf offensichtliche Hochstapelei und Kriminalität. Betrügerei, Korruption und Bilanzfälschungen nahmen unbekannte Ausmaße an, während die Wirtschaftselite den Großteil ihrer Profite durch das Frisieren ihrer Bücher erzielte. Dies zog nicht nur das unausweichliche Platzen der Spekulationsblase im Jahre 2000 nach sich, sondern schwemmte die rückständigsten, räuberischsten und reaktionärsten Kräfte aus Wirtschaft und Politik an die Oberfläche der Gesellschaft.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion räumte ein bedeutendes Hindernis für die Befriedigung der imperialistischen Ambitionen der herrschenden Klasse Amerikas aus dem Weg. Es versetzte die Vereinigten Staaten in die Lage uneingeschränkter militärischer Überlegenheit und ermutigte diejenigen Kräfte des politischen Establishments, die glaubten, dass der amerikanische Kapitalismus seine gesamten Probleme mit militärischer Gewalt lösen könne. Nach dem ersten Golfkrieg fasste das Wall Street Journal in einem Leitartikel die zentralen Schlüsse dieser Intervention wie folgt zusammen: "Mit Gewalt geht es!"

Die politische und soziale Krise in den USA hat sich durch den Einfluss dieser Faktoren auf die gesellschaftliche Struktur enorm verschärft. Die Rücksichtslosigkeit und absolute Kompromisslosigkeit der Bush-Regierung kann nicht losgelöst von den kaum verhüllten krassen Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft verstanden werden.

Die wichtigsten Aspekte der sozialen und politischen Krise in den Vereinigten Staaten sind die starke Konzentration von Reichtum und die rasante Zunahme von sozialer Ungleichheit. In der vergangenen Woche veröffentlichte die Steuerbehörde einen Bericht, der zeigte, dass die 400 größten Steuerzahler mehr als 1 Prozent des gesamten Volkseinkommens des Jahres 2000 auf sich konzentrierten. Alles in allem konnten diese 400 Einzelpersonen in diesem einen Jahr 70 Milliarden Dollar einstreichen. Damit hat sich der Anteil der 400 größten Steuerzahler am Volkseinkommen in den vorangegangenen 8 Jahren mehr als verdoppelt.

Das Durchschnittseinkommen dieser Personen belief sich auf 174 Millionen Dollar, das Vierfache des Werts von 1992 (46,8 Millionen Dollar). 174 Millionen Dollar sind das 3.500fache des durchschnittlichen Jahreseinkommens der unteren 90 Prozent der Bevölkerung.

Ich zitiere nun aus anderen aktuellen Statistiken: Das durchschnittliche Netto-Einkommen eines Haushalts des ärmsten Fünftels der Bevölkerung fiel von 9.300 Dollar im Jahre 1979 auf 8.700 Dollar im Jahre 1997. Das mittlere Fünftel verbesserte sich während dieser 18 Jahre geringfügig von 31.700 auf 33.200 Dollar. Im selben Zeitraum erhöhte sich das Einkommen des obersten Prozents von 256.400 auf 644.300 Dollar um 150 Prozent.

Diese Zahlen vermögen nur ein farbloses und schematisches Bild der fortschreitenden sozialen Polarisierung in den USA zu zeichnen. Die Bereicherung der Finanzoligarchie ist das Ergebnis dieses Prozesses des letzten Vierteljahrhunderts. Alle offiziellen Institutionen, die drei Zweige der Regierung, die beiden großen Parteien, die Medien und die Universitäten wurden ganz offen zu Knechten dieser Oligarchie. Sie wirken mit, den Reichtum dieser schmalen Elite zu sichern und zu vergrößern.

Die beiden bürgerlichen Parteien und die Regierung sind weder fähig noch willens sich einer sozialen Krise zu stellen, die riesige Ausmaße annimmt. Beinahe alle Bundesstaaten sind zahlungsunfähig. Die Städte stehen vor massiven Haushaltsdefiziten, und weit über 40 Millionen Amerikaner besitzen keine Gesundheitsversicherung. Die öffentlichen Schulen stehen kurz vor dem Zusammenbruch, Hunger und Obdachlosigkeit nehmen zu ... Man könnte diese Aufzählung beliebig fortsetzen.

Unter diesen Bedingungen können demokratische Institutionen und Methoden nicht überleben, und so erlebte das letzte Vierteljahrhundert einen gewaltigen Verfall der Demokratie in den USA. Allein die Ereignisse des letzten Jahrzehnts, das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton und seine Regierung, der Diebstahl der Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 oder die Aneignung umfassender verfassungswidriger Vollmachten durch die Exekutive nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Washington und New York belegen, dass es buchstäblich keinen Bereich des politischen Establishments gibt, der ernsthaft um die Aufrechterhaltung demokratischer Rechte besorgt wäre. Die Bush-Regierung setzt sich aus den rechtesten Kräften zusammen, für die parlamentarische Prozeduren und verfassungsgemäße Grenzen lediglich Hindernisse bedeuten, die nur so lange toleriert werden können, wie sie als Feigenblatt für die Durchsetzung einer Politik dienen, die gegen die breite Masse der Bevölkerung gerichtet ist.

Der Niedergang der Mittelklasse und die Proletarisierung weiter Bevölkerungsschichten einerseits und der Aufstieg einer Finanzoligarchie andererseits bilden den Hintergrund für die fortschreitende Entkräftung der bürgerlichen Institutionen und führen letztendlich zu einem Zusammenbruch des politischen Systems als Ganzem. Weder die Republikanische noch die Demokratische Partei besitzen eine Massenbasis in der breiten Bevölkerung. Immer weniger Amerikaner gehen zur Wahl - ein Symptom für die krasse Entfremdung der breiten Massen vom gesamten politischen Establishment und die de-facto-Entmündigung der Arbeiterklasse.

Die politische Elite (einschließlich der Medien), die nur über eine winzige Basis in der Bevölkerung verfügt und von den Sorgen und Erfahrungen der breiten Masse völlig abgeschnitten ist, ist zunehmend einem Treibhausklima ausgesetzt, in dem sich erbitterte politische und fraktionelle Kämpfe entwickeln. Doch zu den wirklichen gesellschaftlichen Entwicklungen haben sie nur eine äußerst geringe Beziehung.

Dies erklärt weitgehend den konfusen und fehlgeleiteten Zustand des politischen Geschehens und der Debatten und Kommentare in den USA. Es herrscht die solipsistische Ansicht vor - und die Bush-Regierung bringt dies am klarsten zum Ausdruck -, dass die objektive Realität nicht von Bedeutung sei. Oder präziser ausgedrückt ist die Realität das, was man aus Lügen, Propaganda, Medienmanipulation und durch die Unterdrückung aller abweichenden Ansichten konstruieren kann. Wenn man beispielsweise die Nation auf der Grundlage von Lügen in den Krieg führen kann, dann ist die Existenz einer Massenopposition dagegen unbedeutend. Genau so unbedeutend ist der antikoloniale Kampf der irakischen Massen. Was zählt, ist, womit man in einem gegebenen Moment ungestraft davonkommen kann.

Dies ist die Mentalität von Kriminellen und Scharlatanen, aus denen die gegenwärtige Regierung der Vereinigten Staaten besteht. Ist es vielleicht ein Zufall, dass Bushs größter Geldgeber in der Wirtschaftswelt der diskreditierte Vorstandsvorsitzende von Enron, Kenneth Lay, war? Dieselbe Grundeinstellung, die das Fälschen von Bilanzen, den Betrug an Anlegern und die Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Fakten sanktionierte und zum Zusammenbruch von Enron führte, ist in die Politik übertragen der Modus operandi der Bush-Regierung.

Die Erhöhung der Lüge zum höchsten Gut der US-Politik ist ein sicheres Indiz dafür, dass das bestehende System vor seinem Ende steht. Das gesamte politische System ist derart verrottet und marode, dass keine ernsthafte Frage offen diskutiert werden kann. Einige Themen sind aus dem politischen Diskurs und aus den Medien vollständig verschwunden: Das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton, die gestohlene Wahl des Jahres 2000, die Ereignisse des 11. September 2001 und was ihnen vorausging, die Anschläge mit den Milzbranderregern im Herbst 2001, die Wirtschaftskriminalität und ihre Verknüpfung mit den führenden Kräften der Bush-Regierung, die Litanei der Lügen, die den Irakkrieg rechtfertigen sollten, die sozialen Auswirkungen der Steuervergünstigungen Bushs für die Reichen und der Krieg gegen demokratische Rechte.

Der surreale Eindruck, den die US-Politik hinterlässt, ist Ausdruck der sozialen Krise des verfallenden amerikanischen Kapitalismus. Es gibt große Unterschiede zwischen der heutigen Situation in den USA und der Stellung der zaristischen Autokratie im Russland der Jahrhundertwende. Und trotzdem gibt eine Passage von Leo Trotzkis brillanter Analyse der ersten Russischen Revolution den morbiden Charakter der gesellschaftlichen und sozialen Krise des amerikanischen Systems hervorragend wieder. Am Ende des ersten Kapitels des Buches Ergebnisse und Perspektiven erklärt Trotzki die Unausweichlichkeit einer revolutionären Krise wie folgt:

"Die finanzielle und militärische Macht des Absolutismus bedrückte und blendete nicht nur die europäische Bourgeoisie, sondern auch den russischen Liberalismus und nahm ihm jeglichen Glauben an die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus. Die militärische und finanzielle Macht des Absolutismus schloss, so schien es, jede Möglichkeit einer russischen Revolution aus.

In Wirklichkeit traf das genaue Gegenteil ein ... So schloss die administrative, militärische und finanzielle Macht des Absolutismus, die ihm die Möglichkeit gegeben hatte, sich im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten, nicht nur die Möglichkeit einer Revolution nicht aus, wie der Liberalismus dachte, sondern sie machte die Revolution im Gegenteil zum einzigen Ausweg - dabei war der Revolution ein um so radikalerer Charakter sicher, je mehr die Macht des Absolutismus den Abgrund zwischen sich und der Nation vertiefte.

Der russische Marxismus kann mit Recht stolz darauf sein, dass er allein die Richtung dieser Entwicklung aufgezeigt und ihre allgemeinen Formen zu einer Zeit vorhergesagt hat, da der Liberalismus sich von dem utopischen ‚Praktizismus’ nährte und die revolutionäre Bewegung der Volkstümler von Phantasmagorien und Wunderglauben lebte." (Trotzki, Leo: "Ergebnisse und Perspektiven" in "Die Permanente Revolution", Essen 1993, S. 205 ff)

Ähnlich ist es heute. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie in den USA und die Diskreditierung all ihrer Institutionen, die offensichtliche Unfähigkeit des politischen Systems, auch nur eine der drängenden Fragen der arbeitenden Bevölkerung anzugehen, die Korruption und der Verfall der politischen Parteien weisen auf das Entstehen einer gesellschaftlichen und politischen Krise von revolutionärem Ausmaß. Wir müssen dies erkennen und uns auf die größte Krise der amerikanischen Geschichte vorbereiten, die viele Millionen in den Kampf einbeziehen wird. Die Aufgabe der World Socialist Web Site und der Socialist Equality Party ist es, die politischen, intellektuellen und moralischen Vorraussetzungen dafür zu schaffen, dieser Massenbewegung die politische Klarheit zu verschaffen, die sie benötigt, um einen bewussten Kampf um die Macht zu führen.

Wir können stolz darauf sein, dass wir das Heranwachsen der Krise des amerikanischen und des Weltkapitalismus verfolgt und analysiert haben. Und im Gegensatz zum heruntergekommenen und betrügerischen Liberalismus und der demoralisierten "Linken", die aus Emigranten aus der alten Protestbewegung besteht, verstehen wir die revolutionäre Rolle, die die Arbeiterklasse in den bevorstehenden historischen Auseinandersetzungen übernehmen kann und wird.

Siehe auch:
Internationale Konferenz der WSWS/SEP: Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus (1)
(1. August 2003)
Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus (2)
( 2. August 2003)
Der Irakkrieg und die Blair-Regierung
( 6. August 2003)
Europa in der Sackgasse
( 16. August 2003)
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