Ein Interview mit Olivier Besancenot, Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire

Vor einer Wahlversammlung am 5. Juni im Nordosten von Paris sprachen WSWS -Reporter mit Olivier Besancenot, dem Präsidentschaftskandidaten der Ligue Communiste Révolutionnaire im April, der in den laufenden Parlamentswahlen auch für die Nationalversammlung kandidiert. [Siehe auch: Die Ligue Communiste Révolutionnaire verteidigt ihren Opportunismus]

David Walsh: Wie siehst du die aktuelle Wahlkampagne? Was denkst du, wie sich die Situation nach dem 16. Juni entwickeln wird?

Olivier Besancenot:Ich glaube, es wird eine neue politische Situation geben, einen Wettkampf zwischen der Nationalen Front und den Rechtsextremen auf der einen Seite und den sozialen Bewegungen auf der andern. Und um heute den Rechtsextremen und der Rechten Widerstand zu leisten, entwickelt sich ein neues Kräfteverhältnis auf der Linken, zwischen den Regierungslinken, die mit der gleichen Politik weitermachen wollen, und einer radikalen Linken, die stärker geworden ist, die in der letzten Wahl über zehn Prozent der Stimmen erhalten hat, sei es für Arlette Laguiller [von Lutte Ouvrière] oder für meine Kampagne.

Das heißt, die Stimmabgabe für die radikale Linke ist für Arbeiter eine gangbare Alternative geworden. Das ist etwas, das auf der Ebene der Wahlen so weitergehen wird, diese politische Radikalisierung. Und auf der andern Seite gibt es eine soziale Radikalisierung, die auch weitergehen wird. Mit der neuen Anti-Globalisierungsmobilisierung. Eine Mobilisierung an den Arbeitsplätzen, im öffentlichen Sektor und im privaten.

DW:Und was wird nach dem 16. Juni geschehen?

OB:Egal, was die Regierung macht, es wird zur Radikalisierung kommen. Ob es nun eine rechte Regierung oder eine linke sein wird - es wird zu großen Kämpfen kommen, um das Rentensystem zu verteidigen, wobei sie vorschlagen - und zwar die Rechten wie die Rechtsextremen, aber auch die offizielle Linke - dass die Beiträge der Arbeiter an private Spekulanten, an die Versicherungsgesellschaften oder die Banken übergeben werden sollen.

DW:Was ist deine Haltung zur Krise der Kommunistischen Partei?

OB:Die Krise der Kommunistischen Partei wird weitergehen. Viele Militante der Kommunistischen Partei führen heute Diskussionen mit den linken Organisationen und den sozialen Bewegungen. Jedenfalls bezahlen sie für die Politik, die sie in der Regierung gemacht haben. Sie schlagen vor, die gleiche Politik mit der Sozialistischen Partei weiterzumachen. Der Führung der Sozialistischen Partei ist es gelungen, in ihrem Kopf die Idee zu verankern, dass der Kapitalismus ein unüberwindbarer Horizont sei. Ich glaube, mehr und mehr Mitglieder und Wähler der Kommunistischen Partei sind davon abgestoßen und wehren sich dagegen.

DW:Was ist die Bedeutung des Trotzkismus heute?

OB:Ich glaube, das ist in erster Linie ein politisches Erbe, das es der LCR erlaubt, eine revolutionäre Organisation zu sein, eine Organisation, die all denen, die die Welt radikal und revolutionär verändern wollen, vorschlägt, diese Organisation mit dem Erbe einer Analyse über den Charakter des Stalinismus aufzubauen, die es uns heute erlaubt, zu erklären, dass unser Kommunismus immer ein Gegner des Stalinismus war. Nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Zukunft. In der Frage demokratischer Kontrolle, in der Frage der Organisierung von Mobilisierungen, von Bewegungen selbst. Das ist es in erster Linie.

DW:Welche Vorstellung hat die LCR von der Entwicklung einer revolutionären Krise?

OB:Das ist immer schwierig vorauszusehen. Jedenfalls versuchen wir uns auf Mobilisierungen vorzubereiten, vergleichbar denen, wie sie im Winter 1995 in Frankreich stattfanden. Besonders im öffentlichen Sektor, unter öffentlichen Bediensteten [Eisenbahn, Post, Öffentlicher Dienst]. Aber was sich seit 1995 geändert hat, ist, dass heute im privaten Sektor - bei Arbeitern von Moulinex, Danone, Michelin - in letzter Zeit viele Streiks gegen Entlassungen und für Lohnerhöhungen stattgefunden haben. Und wenn es beim nächsten Ausbruch etwas Vergleichbares wie Dezember 1995 geben sollte, dann würden der private und der öffentliche Sektor zusammenkommen. Mit andern Worten, es gäbe die Möglichkeit für einen wirklichen Generalstreik. Vielleicht vergleichbar mit Mai 1968.

DW:Hat die LCR den Aufruf zu einem aktiven Boykott beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Erwägung gezogen? Und warum hat sie eine solche Idee abgelehnt?

OB:Wir haben zur Stimmabgabe gegen Le Pen aufgerufen [den rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen].

DW: Habt ihr einen Boykott in Erwägung gezogen?

OB:Eine Enthaltung?

DW:Nein, einen aktiven Boykott, zum Beispiel eine aktive Kampagne der LCR und der Lutte Ouvrière.

OB:Nein, wir haben uns entschieden, eine Barrikade gegen die Rechtsextremen zu errichten, sowohl auf der Straße wie auch an der Wahlurne, und haben erklärt, dass wir Verständnis hätten sowohl für die, die für Chirac stimmten, wie auch für diejenigen, die nicht für ihn stimmten. Weil für uns Chirac in keiner Weise ein Schutzwall gegen den Faschismus sein konnte. Aber wir konnten Chirac und Le Pen nicht in den gleichen Topf werfen.

DW:Denkst du, es wäre schwierig gewesen, für die Idee eines Boykotts in der Bevölkerung zu werben?

OB:Ich denke, das wäre schwierig gewesen, weil es einen sehr starken Druck gab. Einen Druck von der Bewegung der Jugend, die meinte, dass man für Jacques Chirac stimmen musste. Wir erklärten ihnen, dass wir sie verstünden, Chirac für uns aber kein Schutzwall gegen den Faschismus sei. Es war also sehr kompliziert. Es gab einen sehr starken Druck. Viele Menschen waren entsetzt, dass Le Pen in die zweite Runde kam. Unter den Bedingungen war es sehr schwierig, eine politische Orientierung zu geben.

DW:Meinst du die Bewegung zur Verteidigung der Sans-Papiers, der Attac, von SOS-Rassismus, Bewegungen solcher Art?

OB:Genau die. Selbst die Gewerkschaftsorganisationen waren überwiegend dafür, eine stärkere Empfehlung zu geben. Sie riefen dazu auf, für Jacques Chirac zu stimmen.

DW:Habt ihr in Betracht gezogen, euch gegen diesen Druck zu stellen?

OB:Ja, das haben wir getan. Denn wir erklärten, dass es für uns keine politische Antwort sei, für Chirac zu stimmen. Aber wir entschieden, Chirac und Le Pen nicht gleichzusetzen. Es war nicht einfach, das zu erklären. Besonders in den linken sozialen Protestbewegungen. Im Großen und Ganzen war es in den Betrieben, bei den nicht-politischen Leuten, leichter. Die Arbeiter konnten leicht verstehen, was wir sagten.

Siehe auch:
Die Ligue Communiste Révolutionnaire verteidigt ihren Opportunismus
(11. Juni 2002)
Loading