Über ein Jahr ist es nun her, dass in einem Waldstück bei Ulm der 28-jährige behinderte Vietnamese Khan Bui von zwei Polizisten erschossen wurde. Jetzt wurde das Verfahren gegen die beiden Polizisten durch die Staatsanwaltschaften aus Ulm und Tübingen eingestellt.
Was war am 19. September 2000 in Ulm passiert? Die in der Schwäbischen Alb gelegene und durch Klöster und Kirchen wie historische Gebäude bekannte Doppelstadt Ulm-Neu Ulm erlebte einen grauenvollen Tag. In einem nahen Waldstück erschossen zwei Polizisten einen behinderten jungen Mann. Die Beamten sollen mindestens 22 Schüsse abgefeuert haben, weil Khan Bui angeblich eine Waffe auf sie gerichtet habe.
Nach den Ermittlungen sind die beiden Streifenpolizisten dem Notruf einer Frau zufolge, die einen Mann mit einem Gewehr gemeldet hatte, auf einen Waldparkplatz geschickt worden. Dort seien sie auf den Behinderten getroffen. Die Beamten hätten den 28-jährigen am Waldrand im Dämmerlicht eines "typischen Ulmer Hochnebeltages" zuerst von hinten gesehen. Ihre Aufforderung, stehen zu bleiben und die "Waffe" fallen zu lassen, habe der Behinderte nicht befolgt. Er sei vielmehr auf die Polizisten zugegangen und habe sie bedroht.
Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei der angeblichen Waffe um die Nachbildung eines Sturmgewehres - ein völlig harmloses Spielzeug. Acht Polizeischüsse durchschlugen den Körper des Vietnamesen. Einer traf ihn mitten in die Brust. Der Behinderte starb an den Schussverletzungen im Krankenhaus.
Beide Beamten müssen hemmungslos geschossen und ihre Waffen noch einmal nachgeladen haben. Aus welcher Waffe der tödliche Schuss abgegeben worden sei, lasse sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft nicht feststellen. Die Lage der Pistolenhülsen spreche für eine relativ kurze Schussdistanz. Warum die Polizeibeamten trotz dieser Tatsache nicht den harmlosen Charakter der Spielzeugwaffe erkannten, blieb ungeklärt.
Der 28-jährige Vietnamese war wegen einer Hirnhautentzündung auf dem geistigen Stand eines Kindes stehen geblieben und lebte seit 1993 in einem Behindertenheim. Wie die Heimleiterin Carola Langlotz-Brunner erklärte, war er kein aggressiver Mensch. Zwar habe er stets ein Spielzeuggewehr bei sich getragen, aber nie auf Menschen gezielt. In der Behindertenwerkstatt habe das Spielzeuggewehr stets einen festen Platz gehabt. Möglicherweise habe es für Khan Bui, der vor einigen Jahren mit seinen Eltern aus Vietnam gekommen war, die Funktion eines Stofftiers gehabt.
Nach dem Bericht der Heimleiterin habe sich der junge Vietnamese auch häufig versteckt, und die Betreuer hätten ihn suchen müssen. Auch am Unglückstag habe er mit dem Gewehr die Werkstatt verlassen. Die Betreuer hätten nach vergeblicher Suche bei der Polizei schließlich eine Vermisstenanzeige aufgegeben.
Die Stuttgarter Nachrichten vom 11. Oktober 2000 zitierten den leitenden Oberstaatsanwalt Konrad Merz mit den Worten, er könne nicht genau angeben, "wie viele Schüsse die beiden Beamten tatsächlich auf den Behinderten feuerten". Laut Merz müsse aufgrund der gefundenen Patronenhülsen angenommen werden, dass mindestens 22 Schüsse abgegeben wurden. Beide Polizisten hatten, als das erste Magazin leer war, ein zweites in ihre Waffen eingelegt und weitergeschossen.
Pro Magazin werden im Allgemeinen acht Patronen verwendet. Deshalb schließt Konrad Merz nicht aus, dass sogar mehr als 22 Schüsse fielen. Merz widersprach aber Mutmaßungen, "dass der Schuss im 80 Grad Winkel nach unten gezielt wurde und der Vietnamese schon wehrlos am Boden gelegen hat." Der rechtsmedizinische Bericht zeige nicht auf, "ob der tödliche Schuss von oben oder von unten abgefeuert wurde, noch ob er von vorne oder von hinten in den Körper eindrang."
Die Staatsanwaltschaft ermittelte geraume Zeit gegen die beiden Beamten wegen fahrlässiger Tötung. Während dieser Zeit waren die Polizisten dienstunfähig gemeldet, gaben über ihre Verteidiger aber zu Protokoll, dass sie sich bedroht fühlten. Während der Fall vor einem Jahr in den Massenmedien ein breites Echo fand, wurde über die jetzt erfolgte Einstellung des Verfahrens kaum etwas berichtet.
Aber die Einstellung des Verfahrens ist bei weitem kein Einzelfall. Gerichte verurteilen nur selten Fehlverhalten von Polizistinnen und Polizisten strafrechtlich. Dies ist vielfältig dokumentiert. So schreibt Martina Kant in dem in Berlin erscheinenden Informationsdienst Bürgerrechte & Polizei( Cilip): "Die Wahrscheinlichkeit, dass PolizistInnen wegen einer Straftat verurteilt werden, ist ausgesprochen gering.
Das gilt nicht nur bei Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt. Nach Angaben aus Baden-Württemberg waren von den 1993/94 eingeleiteten 424 Ermittlungsverfahren - wegen Körperverletzung im Amt, anderer Dienstvergehen (Beleidigung, Strafvereitelung u.a.) sowie gewalttätiger Aktionen außerhalb des Dienstes - zum Zeitpunkt der Auskunft 313 Verfahren abgeschlossen. Von diesen wurden 308 Verfahren eingestellt, das sind rund 98 Prozent. In vier Fällen wurde Strafbefehl erhoben, in lediglich einem Fall kam es zur Anklage.
Ähnliche Zahlen liegen aus Bayern vor. Dort wurden von den ca. 2.400 Strafermittlungsverfahren gegen PolizeibeamtInnen in den Jahren 1997-99 rund 83 Prozent durch Einstellung oder Freispruch erledigt. Auch in Berlin wurden über die Jahre 1994-1999 hinweg rund 96 Prozent der Strafverfahren auf diese Weise abgeschlossen." (Martina Kant, Ausmaß von Polizeiübergriffen und ihre Sanktionierung, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 67 (3/2000), http://www.cilip.de/ausgabe/67/kant.htm)
Zwei weitere Beispiele sollen dies stellvertretend für viele andere belegen.
Die taz berichtete im vergangenen Jahr von einem Fall in Bremen. Dort gingen mehrere Polizeibeamte fast straffrei aus, die einen Schüler in der Sylvesternacht krankenhausreif geschlagen hatten. Beide Beamten wurden zu Geldstrafen verurteilt. Ein Beamter muss dem Schüler neben einem Bußgeld auch Schmerzensgeld wegen eines Schlages auf die Hüfte zahlen.
Der damals 21-jährige Mann war nach einer Rangelei auf eine Wache gebracht worden. "Als er sie am Morgen verließ, hatte er Würgemale am Hals, ein geplatztes Trommelfell und eine Schädelfraktur." Auf Druck der Öffentlichkeit ermittelte auch die Innenrevision der Polizei. "Ergebnis: mehrere Beamte müssen den Schüler misshandelt haben." Aber: "Es sei unmöglich, die Handlungen bestimmten Polizisten zuzuordnen, begründete die Staatsanwaltschaft die Einstellung der Verfahren."
Auch in einem weiteren Fall, der bundesweit Aufmerksamkeit erregte, ist das Verfahren gegen die Polizeibeamten nahezu unbeachtet von den Medien eingestellt worden. Die Großfahndung nach dem Schwerverbrecher Dieter Zurwehme, die im vergangenen Jahr durch zeitweise hysterische Züge gekennzeichnete war, hatte für einen harmlosen Kölner Wanderer tödliche Folgen. Im nordthüringischen Heldrungen erschossen zwei Zivilfahnder den Urlauber Friedhelm Beate, weil Zeugenaussagen mangelhaft überprüft worden waren. Der leitende Erfurter Oberstaatsanwalt Raimund Sauter teilte der Öffentlichkeit mit, dass die Beamten an der Tür eines Hotelzimmers in Heldrungen auf Grund einer "vegetativen Reaktion" unabsichtlich geschossen hätten. Zynisch fügte er hinzu, dass auch bei Einstellung des Verfahrens die Witwe des 62-jährigen Opfers die Möglichkeit der Beschwerde habe.
Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist schrieb dazu: "Dass es soweit kommen muss, ist zwar unglaublich, aber im Falle von tatverdächtigten Polizisten nicht ungewöhnlich: Stress, Angst und Überforderung schützen Polizeibeamte offenbar vor Strafe - obwohl sie doch im Umgang mit der Waffe in Fahndungs- und Stresssituationen besonders geschult sind. Staatsanwälte, deren Nähe zur Polizei eine unparteiische Aufklärung nicht gerade erleichtert, aber auch manche Richter sind allzu häufig geneigt, der Polizei allzu vieles nachzusehen. An die Sorgfaltspflicht von Polizeibeamten werden denkbar geringe Maßstäbe angelegt."
Wenn es sich um die staatliche Aufarbeitung von polizeilichen Todesschüssen handelt, wird immer wieder nach dem gleichen Muster verfahren: Die Todesschüsse sollen sich "unabsichtlich gelöst" haben. Es handele sich um ein "tragisches Versehen" bzw. um einen "Unglücksfall". Mit dieser Vorgehensweise wird eine Strafverfolgung der bewaffneten Organe des Staats in der Regel erfolgreich verhindert.
Recherchen von Cilip haben herausgefunden, dass seit längerer Zeit Todesschüsse nicht nur juristisch, sondern auch statistisch entsorgt werden. Das geschieht auf folgende Weise: Alle polizeilichen Schusswaffengebräuche werden in der Führungsakademie (PFA) in Hiltrup gesammelt, ausgewertet, in einer Statistik zusammengeführt und an die Innenministerkonferenz (IMK) weitergeleitet. Der Vorsitzende der IMK veröffentlicht dann die sogenannte Schusswaffengebrauchsstatistik. Laut Statistik der IMK für 1999 starben insgesamt 15 Personen durch Schüsse von Polizisten.
Cilip, die regelmäßig eine eigene Statistik veröffentlicht, recherchierte für das Jahr 1999 allerdings 19 Tote. Die Erklärung für die unterschiedlichen Zahlen, so Cilip -Redakteur Otto Diederichs in der taz am 13. Dezember 2000 ist simpel: Sogenannte "unbeabsichtigte Schussabgaben", bei denen ein Mensch ums Leben kommt, werden auf Beschluss der Innenministerkonferenz seit 1983 nicht mehr mitgezählt. So sind für 1999 vier Fälle einfach weggefallen. Der Tod von Friedhelm Beate und dann wohl auch der des behinderten Vietnamesen im darauffolgenden Jahr werden so für die Todesschüsse-Statistik 2000 ebenfalls unter den Tisch fallen.
Von offizieller Seite wird als Ursache von polizeilichen Todesschüssen immer wieder die besondere "Gefährlichkeit des Polizeiberufs" angeführt. Dies widerlegt René Schneider, der Leiter der "Forschungsstelle gegen Übergriffe durch die Polizei" in Münster. Er räumt in einer Pressemitteilung ein, dass sich Polizisten zweifellos hin und wieder in gefährliche Situationen begeben müssten, dass sie von Straftätern angegriffen und auch verletzt oder gar getötet werden können. Jedoch seien dies absolute Ausnahmen. Schneider: "Die durchschnittliche Zahl der jährlich getöteten Polizisten liegt, mit einigen Ausreißern nach oben, unter zehn, meist unter fünf."
Was das Risiko für Polizeibeamte, im Dienst getötet zu werden, angeht, kamen die Polizeiforscher Albrecht Funk, Falco Werkentin und Angelika Thies für frühere Jahrzehnte und anhand von Zahlen der Berufsgenossenschaften zu dem Ergebnis, dass das Berufsrisiko der Polizisten in den sechziger und siebziger Jahren (zu Zeiten des RAF-Terrors) "auf einem unteren Rangplatz" lag - vergleichbar mit dem von Feinmechanikern und Elektrikern.
Verglichen mit anderen Berufsgruppen war das Berufsrisiko z. B. bei Köchen, Bergarbeitern, Seeleuten und Berufskraftfahrern bis zu fünfmal höher als bei Polizeibeamten. "In der Summe zeigt sich, dass es wenige Berufe gibt, in denen man vor Todesrisiken so relativ geschützt ist wie im Polizeidienst."
Mit anderen Worten: Es sterben vielfach mehr Menschen durch Polizisten als Polizisten während ihres Dienstes. Dies wird sich, wenn es nach den Plänen der Bundes- und Länderregierungen geht, in der nächsten Zukunft nicht ändern, im Gegenteil. Selbst bei Routine-Polizei-Kontrollen gelten bereits seit einem Jahr verschärfte Regeln. Um ihre eigene Sicherheit zu wahren, werden Polizisten auch bei Routine-Kontrollen von Autofahrern immer eine Hand an der Waffe halten.
Autofahrern wird geraten, nach dem Anhalten des Fahrzeugs die Hände auf das Lenkrad zu legen. "Um kein Risiko einzugehen, sollten sie auch den Griff zu den Ausweispapieren vorher ankündigen", berichtete der Westdeutsche Rundfunk(zitiert nach: Mit gezogener Pistole? aus: http://www.blaulichtmilieu.de/16527.htm). Unter den jetzt verschärften Sicherheits-Gesetzen, nach denen fast die gesamte Bevölkerung als potenziell tatverdächtig angesehen wird, sind weitere Todesopfer zu befürchten.
Wie äußerte sich doch Erika Novak von der Leitung des Behindertenheimes, in dem Khan Bui gelebt hatte, zu dem tragischen Ereignis in der Sendung Fakt-Aktuell: "Ich persönlich hätte mir nie vorstellen können, dass ich einen behinderten Heimbewohner davor beschützen müsste, im angrenzenden Waldgebiet von der Polizei erschossen zu werden".