Keine noch so drastische Armutsstatistik aus Afrika kann den Besucher auf den niederschmetternden Eindruck der schrecklichen sozialen Verhältnisse vorbereiten, der ihn bei seiner Ankunft in Sambia, im südlichen Afrika, erwartet. Sambia, dessen zehn Millionen Einwohner zu den Ärmsten der Armen gehören, steht von 176 Ländern weltweit an 153. Stelle.
Primitives Leben und Rückständigkeit zeigen sich in jedem Aspekt des Alltagslebens, vom Wohnen über Gesundheit, Bildung, Verkehr bis hin zum Zugang zu Annehmlichkeiten, die im Westen selbstverständlich sind. Vier von fünf Menschen leben unter der von der Weltbank definierten Armutsgrenze, d.h. von weniger als einem Dollar pro Tag. Dies heißt konkret, dass die meisten Menschen täglich nur eine Mahlzeit erhalten. Nur dreißig Prozent haben Stromanschluss. Im ganzen Land gibt es nur 40.000 Telefonanschlüsse und 70.000 Mobiltelefone.
Nur einen Steinwurf vom internationalen Flughafen der sambischen Hauptstadt Lusaka entfernt, sind die Straßen unbefestigt und von Schlaglöchern übersät. Man sieht Menschen mit großen Plastikkanistern - sie schleppen Wasser. In Lusaka findet man weder den traditionellen Kolonialstil noch den Glanz einer modernen Großstadt. Einige Bürogebäude stehen neben Hütten, betriebsamen Straßenmärkten und Werkstätten. Verkäufer stürzen sich in Lebensgefahr, um ihre Waren auf den vielbefahrenen Straßen zu verkaufen. Überall verkehren alte, blau-weiße Minibusse, die von Passagieren überquellen.
Eine kleine Handvoll Reicher lebt hinter hohen Wänden und Toren, die permanent bewacht werden. Wer glücklich genug ist, einen Arbeitsplatz als Beamter oder Angestellter in der legalen Wirtschaft zu haben, verdient um die 200 Dollar im Monat und lebt in einer der heruntergekommenen Siedlungen. Die überwiegende Mehrheit lebt in schmutzigen Hütten ohne Wasser, sanitäre Einrichtungen oder Strom. Sie haben kein Licht, keine Heizung, wenn die Winterabende kalt sind, und keine Kühlung in der heißen Sommerzeit.
Der Weltbank und dem IWF-Strukturanpassungsprogramm ist es zu verdanken, dass die Gesundheitsversorgung, die früher kostenlos war, heute für die meisten unerschwinglich ist. Seit 1993-94 muss man nicht nur Krankenversicherungsbeiträge leisten, sondern im Krankheitsfall zusätzlich eine Vorauszahlung leisten, ehe man überhaupt in einem Krankenhaus aufgenommen wird. Da die Krankenhäuser - und davon ist auch die Universitätsklinik in Lusaka nicht ausgenommen - kein Geld für Ausrüstungen haben, müssen die Patienten sterile Handschuhe, Spritzen, und alles andere, was der Arzt braucht, selbst mitbringen.
Das Universitätsklinikum war das ruhigste Krankenhaus, das ich je gesehen habe. In den meisten Abteilungen gab es nur wenige Patienten. Meine Freundin, eine Assistenzärztin, kam jeden Tag früh von der Arbeit nach Hause, da sie nicht viel zu tun hatte.
Sie sagte mir, dass vor zwei Jahren die Ärzte gestreikt hätten, nicht für höhere Löhne, sondern weil sie nicht einmal die Grundausrüstung hatten, um Operationen und Behandlungen durchzuführen. Es gab nicht einmal Rollstühle, um die Patienten herumzufahren. Heute ist die Situation nicht besser. Man sieht Patienten, die sich mit Händen und Füßen vorwärts schleppen. Das Krankenhauspersonal verlässt das Land, um Arbeit in Botswana, Südafrika und Europa zu suchen.
Nur die Abteilung für Kinder bis zu fünf Jahren war voll besetzt - mit unterernährten und ausgehungerten Kindern. Die Kindersterblichkeit beläuft sich auf 197 pro Tausend und ist sogar noch höher als die Säuglingssterblichkeit, die 109 pro Tausend beträgt. In ganz Afrka südlich der Sahara ist es nirgendwo schlimmer. Die Haupttodesursache sind ansteckende Krankheiten, die heutzutage vollkommen vermeidbar oder, abgesehen von HIV/AIDS, durchaus heilbar sind. Der Ernährungszustand der Kinder hat sich in den letzten zehn Jahren noch verschlechtert.
42 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind im Wachstum zurückgeblieben oder chronisch unterernährt, 18 Prozent sind stark zurückgeblieben und bis zu fünfzig Prozent leiden unter Vitamin- und Nährstoffmangel. Die Wachstumsverzögerung verschlimmert sich mit dem Alter, wozu auch der Trinkwassermangel und die schlechten hygienischen Verhältnisse beitragen.
Aufgrund des fehlenden Krankenhauspersonals müssen die Mütter im Krankenhaus bleiben, um ihre Kinder zu ernähren und zu versorgen. Das bedeutet wiederum, dass die Verwandten aus den Vorstädten mit Nahrungsmitteln und Kleidung herbeireisen müssen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Mütter nach wenigen Tagen das Krankenhaus anflehen, nach Hause fahren zu dürfen.
Der Eindruck war so schockierend, dass ich es nicht über mich brachte, auch noch in die AIDS-Abteilung zu gehen.
AIDS hat verheerende Auswirkungen auf das Land. Man geht davon aus, dass mindestens zwanzig Prozent der Bevölkerung HIV-positiv sind. In Städten wie Kapiri Mposhi, einem wichtigen internationalen Eisenbahnknotenpunkt mit vielen Einwanderern, beläuft sich die Rate auf mehr als das Doppelte des nationalen Durchschnitts. Die Lebenserwartung ist auf 45 Jahre abgesunken. Ohne AIDS wäre sie im Jahre 2010 auf 66 Jahre angestiegen. Stattdessen wird sie bis dahin auf 33 Jahre oder noch weniger absinken, ähnlich dem Zustand Europas im Mittelalter. Menschen werden von der Krankheit in ihrer Lebensblüte dahingerafft.
Eine von fünf Müttern ist HIV-positiv. Die unglaubliche Zahl von einer halben Million Kindern hat beide Eltern durch AIDS verloren. Es wird erwartet, dass die Anzahl der Kinder, die durch AIDS zu Vollwaisen werden, bis zum Jahr 2010 auf eine Million ansteigt. Sambia hat den höchsten Prozentsatz an Vollwaisen im südlichen Afrika. Mindestens ein Drittel und schon bald die Hälfte aller Kinder (die Hälfte der zehn Millionen starken Bevölkerung ist unter 15 Jahren alt) werden bis dahin ein Elternteil verlieren. Drei Viertel der sambischen Familien versorgen mindestens ein Waisenkind.
Unter Bedingungen, wo die meisten Leute nicht genug zum Leben haben, bleiben viele Kinder unversorgt und leben auf der Straße. Vor einigen Monaten haben die Behörden die Straßenkinder aufgesammelt, aber die von Kirchen und NGOs verwalteten Waisenhäuser konnten nicht alle aufnehmen und viele kehrten bald wieder auf die Straße zurück.
Die NGOs gehören zu den größten Arbeitgebern in Sambia. Ich war überrascht zu sehen, dass die internationale Hilfsorganisation OXFAM das erste Stockwerk eines mehrstöckigen Bürohochhauses in Kitwe belegt, direkt neben Barclay's Bank und den internationalen Wirtschaftsprüfern Price Waterhouse Coopers.
Der Zustand des Bildungswesens ist nicht besser als das Gesundheitswesen. Kinder müssen jeden Tag kilometerweit zur Schule und wieder zurück gehen - d.h. wenn sie überhaupt zur Schule gehen. Unter einem System der "Kostenteilung" das in den achtziger Jahren eingeführt wurde, werden die staatlichen Gelder für die Erziehung immer geringer und die Eltern müssen in die allgemeine Erziehungskasse einzahlen. Außerdem müssen sie das Pult, das Papier, die Stifte, die Uniform, die Schuhe und die Schultasche bezahlen.
Es ist nicht verwunderlich, dass nur 52 Prozent der sambischen Kinder im Alter von sieben Jahren eingeschult werden, während viele erst wesentlich später anfangen. Zahllose Kinder im Grundschulalter gehen nicht zur Schule. Und dennoch ist es für die Lehrer normal, vierzig Kinder in der Klasse und überfüllte Klassenräume zu haben.
Die Mehrheit der 13- bis 15-Jährigen haben nur eine Grundschule besucht. Ihr Mangel an Ausbildung bedeutet, dass sie keine andere Perspektive haben, als auf der Straße herumzulungern; viele werden Taschendiebe und Kleinkriminelle. Bei den Mittelschulen sieht es noch düsterer aus. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist sogar noch schlechter. Viele Kinder brechen die Schule vorzeitig ab oder sind gezwungen, ein Jahr zu wiederholen, weil der Unterricht ungenügend ist. Besonders wenige Mädchen besuchen die Schule und noch weniger schließen ihre Mittelschule ab.
Es gibt in Sambia zwei Universitäten, eine in Lusaka und eine in der Kupferregion von Kitwe. Beide zusammen haben etwa 6.000 Studenten. Die Verschlechterung der Ausbildung selbst für die bessergestellten sozialen Schichten zeigt folgendes Beispiel: Ich ging in beiden Universitäten in den Buchladen, in der Hoffnung, Bücher über Geschichte, über Politik, Wirtschaft und soziale Entwicklung von Sambia zu finden. Aber der ganze Buchladen bestand jeweils nur aus wenigen Regalen mit veralteten und schlecht gedruckten Büchern. In Lusaka bestand der Grundbestand aus Veröffentlichungen der Weltbank und keine von diesen befasste sich mit Sambia. Alles was ich über sambische Politik finden konnte, war eine Sammlung von Reden des früheren Präsidenten Sambias, Chiluba, der wegen Korruption angeklagt worden ist.
Etwa die Hälfte der sambischen Bevölkerung arbeitet auf dem Land. Der größte Teil davon baut auf winzigen Feldern Mais, Gemüse und andere Erzeugnisse an. Wenig öffentliche Gelder fließen in die Elektrizität, die Bewässerungsanlagen oder den Überlandverkehr. Früher war es für die überwiegend kleinen Bauern und Selbstversorger lebenswichtig, dass die Kooperativen Ankauf und Verkauf der Landwirtschaftsprodukte organisierten und ein regulierter Markt bestand. Deregulierung und Liberalisierung der Landwirtschaft und die Abschaffung der Subventionen nach 1992 haben dies hinweggefegt. Die Unkosten stiegen und die Bauern waren nicht mehr in der Lage, ihre Produkte zu verkaufen. Die gesamte angebaute Fläche wurde dramatisch reduziert. Aus diesem Grund hat die aktuelle Dürre in Sambia derart verheerende Auswirkungen. Vor zehn Jahren war die Dürre, obwohl mit der heutigen vergleichbar, noch wesentlich besser kontrollierbar.
Landwirtschaftliche Produkte wie Rosen und andere Schnittblumen, Obst und Gemüse, Kräuter und Gewürze werden ausschließlich für den Export angebaut und an europäische Supermärkte geliefert. Das ist nur den kapitalintensiven, kommerziellen Bauernhöfen in der Nahe der Städte, in Reichweite der sehr eingeschränkten Verkehrswege möglich.
Autoreisen von Lusaka in die andern größeren Städte - Kitwe im Norden und Livingstone in der Nähe der wirklich wunderbaren Viktoriafälle, sind wahre Strapazen. Weite Strecken sind voller riesiger Schlaglöcher, denen die Fahrer ständig in alle Richtungen ausweichen müssen. Die meisten Lastwagenfahrer sind nachts unterwegs, um die sengende Hitze zu vermeiden, die nicht nur unangenehm ist, sondern auch die Reifen zerstört. Da es keine Straßenbeleuchtung gibt, kommt es häufig zu Unfällen. Im Reiseführer "Lonely Planet" heißt es, wer niemals zuvor in Afrika Auto gefahren sei, solle nicht in Sambia damit beginnen.
Ich hatte Gelegenheit, die Bedingungen kennen zu lernen, unter denen die Menschen in verschiedenen Regionen Sambias leben. Direkt neben einer wirklich beliebten Wohngegend von Lusaka gibt es Hütten, die vielen Sambiern als Zuhause dienen. Die Frauen sitzen den ganzen Tag am Straßenrand und klopfen mit einem Hammer Steine zurecht, die sie als Baumaterial verkaufen. Am Stadtrand leben die Leute in Lehmhütten.
Auf dem Land, meilenweit von jeder Stadt entfernt, stehen arme Familien am Straßenrand und versuchen, den wenigen Vorüberfahrenden Holzkohle, Süßkartoffeln und Gemüse zu verkaufen. Winzige Kinder sitzen regungslos neben ihren Eltern, zu schwach und apathisch zum Spielen oder Herumrennen, während die Wagen an ihnen vorbeiflitzen. Wir hielten an, um Zwiebeln und Süßkartoffeln zu kaufen. Ich fragte, ob ich ein Bild machen dürfe. Sie lehnten es nicht ab, aber sagten bloß: "Nun werden wir als arme Leute gezeigt."
Einige der größten und imposantesten Gebäude sind Polizeiwachen. Die Polizei hat einen schrecklichen Ruf. Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Verhaftungen, lange Inhaftierungen und lange Verzögerungen vor Prozessen kommen häufig vor.
Jeder, mit dem ich sprach, erklärte, es sei nicht immer so gewesen. Sambia sei einmal das zweitreichste Land südlich der Sahara gewesen. Es hat reiche Kupfer- und Kobaltbestände und andere mineralische Bodenschätze. Es verfügt über Edelsteine und Halbedelsteine. Der größte Teil des Landes ist fruchtbar, und es gibt viel Wasser. Dennoch beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ungefähr 380 Dollar und ist seit 1975 um über sechzig Prozent gefallen.
Als Sambia 1963 die Unabhängigkeit erlangte, machte die Kupferproduktion 41 Prozent des Bruttosozialproduktes, 71 Prozent der staatlichen Einkommens und 93 der Auslandsdevisen aus. Nach der Unabhängigkeit erlebte Kupfer einen jahrzehntelangen Aufschwung und die Industrie wurde verstaatlicht. Aber das Ende des Nachkriegsbooms, die Vervierfachung des Ölpreises 1973-74 und die Rezession der späten neunziger Jahre trieb die Kosten in die Höhe und senkte die Preise, wodurch Sambia in die ständig wachsende Schuldenfalle und in die Fänge des IWF geriet.
1998 betrugen die Einnahmen aus dem Kupfer pro Kopf in absoluten Zahlen weniger als fünf Prozent der Einnahmen von 1970. Der Anteil des Bergbaus an den Exporten fiel aufgrund des Zusammenbruchs der Warenpreise auf dem Weltmarkt von 90 Prozent 1992 auf 67 Prozent im Jahr 1998. Die verheerende Abwertung von Sambias Währung, des Kwacha, hervorgerufen durch die mulinationalen Konzerne und internationale Finanzhäuser, verschärften die Probleme.
Das Ausmaß des Leidens wird durch die Tatsache beleuchtet, dass der Kwacha einem Pfund Sterling entsprach, als Sambia 1963 seine Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte. Heute kostet ein Pfund 6.600 Kwacha.
Die Kredite, die der IWF gewährte, als Präsident Chiluba an die Macht kam, waren an Privatisierungen und eine sogenannte Liberalisierung geknüpft. Das britische Entwicklungshilfeministerium unter Claire Short (Labor Party) hielt Hilfszahlungen und Kredite zurück, bis die Bergwerke privatisiert waren.
In den letzten zwei, drei Jahren wurden die Kupferbergwerke aufgespalten und an elf verschiedene internationale Konsortien verkauft. Der Begriff "verkauft" ist allerdings fehl am Platz - den meisten Konsortien wurden äußerst vorteilhafte Bedingungen und verschiedene Steuervorteile gewährt, die ihnen den "Kauf" derart versüßten, dass sie im Endeffekt nicht einen einzigen Pfennig bezahlen mussten.
Anglo-American, die Nachfolgegesellschaft von Cecil Rhodes' British South Africa Company, die bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts das südliche Afrika kontrollierte, übernahm Konkola, das größte Untertage-Kupferbergwerk der Welt. Anfang des Jahres zog sich Anglo-American wieder aus Konkola zurück - es war ihnen nicht profitabel genug. Angesichts der Tatsache, dass Anglo-American auch den Kupfertagebau in Chile und Peru erworben hat, wo die Kosten niedriger sind, kann man unterstellen, dass Konkola nur "gekauft" wurde, um einen Konkurrenten loszuwerden.
So schlimm die Bedingungen heute sind - es ist keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil - das Programm der Weltbank zur Entschuldung hoch verschuldeter armer Länder (HIPC) verabreicht den Ländern noch mehr von derselben Medizin, die derart verzweifelte Ergebnisse zeitigte. Es hat zur Folge, dass die internationalen Banken der armen Bevölkerung Sambias und anderer armer Länder alles, was sie besitzen und produzieren, abpressen und an die reichsten Leute und Länder der Welt umleiten. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hat den Arbeitern und Bauern Sambias nur die schlimmsten sozialen Bedingungen zu bieten.