Wie zahlreiche Kommentare des World Socialist Web Site aufzeigen, benutzt die herrschende amerikanische Elite die tragischen Ereignisse vom 11. September als Vorwand, um eine Politik durchzusetzen, die sie sowohl im Innern (Abbau der demokratischen Rechte) als auch nach Außen (Expansion in Zentralasien) lange vor den Terrorattacken geplant hat.
Gleichermaßen beschleunigen die Bombenangriffe auf das World Trade Center einige Entwicklungsprozesse gewisser sozialer Schichten in den USA, die bereits vorher weit fortgeschritten waren. Eine ganze Heerschar früherer Radikaler, Linker und Liberaler nutzt die Unterstützung für Bushs "Krieg gegen Terrorismus" als Vehikel, um engere Beziehungen zur amerikanischen herrschenden Klasse zu knüpfen.
Derlei Spezies sind nun sehr zahlreich zu finden. Ihre bußfertigen und banalen Erklärungen füllen die Kommentarspalten einer Reihe von Zeitungen. Das WSWS selbst hat zahlreiche Briefe von Lesern erhalten, die in etwa in folgender Weise beginnen: "Als früherer Sozialist", oder "als jemand, der sich immer als liberal eingeschätzt hat" - und dann fortfahren zu erklären, warum der Angriff auf das World Trade Center sie bewogen habe, ihre früheren Anschauungen zu überdenken bzw. über den Haufen zu werfen.
Das Wall Street Journal veröffentlichte kürzlich einen Kommentar von Scott Simon, dem Moderator der Sendung "Weekend Edition with Scott Simon (Wochenendsendung mit Scott Simon)" im National Public Radio, der das Denken und die Stimmung dieser Meute zum Ausdruck bringt.
In seinem Kommentar unter der Überschrift "Sogar Pazifisten müssen diesen Krieg unterstützen" erklärt Simon, er sei in den späten 60er Jahren zu den Quäkern übergetreten und Pazifist geworden. Seine Erfahrungen als Kriegsreporter an verschiedenen Kriegsschauplätzen in den 70er und 80er Jahren erschütterten seine Auffassungen offensichtlich nicht. Während seiner Berichterstattung über die Balkan-Kriege der 90er Jahre sei er jedoch zur tiefen Überzeugung gelangt, dass "die Schlechten die Guten einfach umbringen können".
Er fährt fort: "Mir scheint, gegen die Kräfte, die das World Trade Center und das Pentagon attackiert haben, haben die amerikanischen Pazifisten keine vernünftige Alternative, außer den Krieg zu unterstützen. Ich betrachte dies nicht als Racheakt oder Vergeltung, sondern als Selbstverteidigung: man muss die Welt vor weiteren Angriffen schützen, indem man die potentiellen Angreifer vernichtet."
Mehr als ein Beobachter hat schon bemerkt, dass Pazifisten aller Couleur für Frieden eintreten - außer in Zeiten des Kriegs.
Gesellschaftlich gesehen stellt der Pazifismus die Reaktion eines Teils der Mittelschichten auf die schlimmsten Auswüchse der imperialistischen Aggression dar, während sie gleichzeitig eine revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse ablehnen. Nach Simons eigenem Bericht blieb er während des Vietnam-Kriegs und während der Stellvertreterkriege der Reagan-Regierung in Mittelamerika Pazifist. Mit anderen Worten, solange US-Bomben fielen und Washingtons Marionetten Tausende folterten und ermordeten, war Simon dafür, dass die Vietnamesen oder El-Salvadorianer die andere Backe hinhalten. Jetzt allerdings, nachdem amerikanische Bürger gewaltsamen Angriffen zum Opfer gefallen sind, meint er keine andere Wahl zu haben, als den Ruf zu den Waffen zu unterstützen.
Simons Auffassung leidet an dem Kardinalfehler, der Pazifismus sei die einzig mögliche Grundlage für eine Opposition gegen den Krieg in Afghanistan und generell gegen die amerikanische imperialistische Politik. Er zitiert die berühmte Debatte der Oxforder Studentengewerkschaft im Jahre 1933, ob es für Engländer moralisch sei, für König und Vaterland zu kämpfen - die mit der bekannten Resolution endete, es sei nicht moralisch - und wertet sie als Zeichen moralischer Verdorbenheit der "Denkelite dieser führenden Universität".
Es übersteigt völlig Simons Horizont, dass breite Schichten der Intellektuellen in den 30er Jahren den Konflikt zwischen Großbritannien und Deutschland als Zusammenstoß zweier rivalisierender imperialistischer Mächte verstanden und dass die fortgeschrittensten Elemente den Kampf der sozialistischen Arbeiterklasse als Gegenmacht sowohl zum deutschen Faschismus als auch zum britischen Empire anerkannten.
Das auffälligste Merkmal von Simons Kommentar ist sein ahistorischer Charakter. Die Erwägung historischer Fragen wischt er mit den Worten vom Tisch: "Leute, die eine bestimmte amerikanische Politik oder Kultur für verantwortlich halten, versuchen künstlich, den Verbrechen von Psychopathen politische Bedeutung beizumessen."
Indem er geflissentlich die Angriffe vom 11. September zu einem Werk von "Psychopathen" stempelt, löst er diese Tragödie aus der Kette der Ereignisse, die sie hervorgebracht hat. Diese eingleisige, für religiöse Eiferer typische Sicht der Dinge, die Bush und seine Berater teilen, reduziert die jeweiligen Feinde auf "Kräfte des Bösen".
Die herrschende Elite und ihre Anhänger hoffen natürlich, dass sich die amerikanische Bevölkerung durch solche simplen Erklärungen zufrieden stellen lässt. Allerdings beginnen viele Amerikaner inzwischen zu begreifen, dass ein derart schwerwiegender Angriff wie der in New York und Washington komplexe politische und gesellschaftliche Wurzeln haben muss.
Durch Versimpelung befreit sich Simon aus seiner Erklärungsnot. Ironischerweise ist seine ahistorische, quasi-religiöse Herangehensweise nicht so weit entfernt von den Denkmustern derjenigen, die diese brutale Tat begangen haben. Ist es denn so schwer, ihr Denken zu verstehen? Islamische Fundamentalisten sehen die USA als monolithischen Unterdrücker, als Macht, die ihren Willen rücksichtslos durchboxt, als Verkörperung des Bösen. Sie glauben, der einzige Weg, sich gegen den "großen Satan" zu wehren, sei der Terrorismus, die Waffe der Schwachen.
Sozialisten verurteilen den Angriff vom 11. September nicht, weil er moralisch "böse" und verwerflich sei, sondern weil er politisch reaktionär ist. Er steht vollkommen im Gegensatz zur Entwicklung eines vereinten und politisch bewussten Kampfs der internationalen Arbeiterklasse.
Die in das Attentat verwickelten Kräfte sind keine legitimen Kämpfer gegen den amerikanischen Imperialismus. Sie haben ein völlig falsches Konzept der gesellschaftlichen Entwicklung, das im bürgerlichen Nationalismus fußt. Sie begehen Attentate und zünden Bomben, würden aber in Wirklichkeit viel lieber einen Deal mit Washington vereinbaren. Was sie kategorisch ablehnen, ist ein Kampf, der sich auf die internationale Aktion der arbeitenden Bevölkerung stützt.
Ein weiterer Aspekt von Simons Position sticht ins Auge: Er lehnt wie andere liberale und "radikale" Verteidiger der Bush-Regierung die Ansicht ab, dass die amerikanische Politik für die Terrorattacken und die Tausende Opfer in New York und Washington verantwortlich sei. Was die USA getan haben, untersucht Simon nicht: weder ihre Unterstützung für die israelische Unterdrückung der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen, noch ihre Förderung des islamischen Fundamentalismus und Unterstützung für die Taliban, noch ihr Bündnis mit dem ultrareaktionären saudiarabischen Regime, ohne das Osama Bin Laden niemals Millionär geworden wäre.
Für Simon sind nur diejenigen schuldig, die die Flugzeuge geflogen und die Operation geplant haben. Diese engstirnige Moral wendet er allerdings nicht auf Handlungen von Amerikanern an.
Den Tod von Tausenden von Afghanen infolge amerikanischer Bomben sowie die Zerstörung der Infrastruktur und des Gesundheitssystems präsentiert er vor der amerikanischen Öffentlichkeit zwar als "bedauerlich", doch keinesfalls als Schuld amerikanischer Piloten oder der amerikanischen Kriegsmaschinerie. Alle Verantwortung - obwohl nur indirekt und als Konsequenz vergangener Aktivitäten - wird den Taliban und bin Laden zugeschoben. In ähnlicher Art und Weise hatte die Clinton-Regierung ihre mörderischen Sanktionen gegen den Irak begründet.
Washington weist stets jede Verantwortung von sich. Tod und Zerstörung sind immer das Produkt der Handlungen anderer.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
In Wirklichkeit haben die US-Regierung und amerikanisches Militär, anders als Simon glauben machen will, selbst die grausamsten Verbrechen mit Hunderttausenden von unschuldigen Opfern auf der ganzen Welt verübt. Der Standpunkt moralischer Empörung, derzeit so in Mode unter kleinbürgerlichen Philistern, war schon immer fruchtlos. Besonders in der gegenwärtigen Situation aber ist er völlig unangemessen, wenn man die Vorgeschichte der Ereignisse des 11. September und insbesondere die amerikanische Außenpolitik in den letzten Jahrzehnten im Nahen Osten bedenkt.
Simon meint anscheinend, die Selbstmordattentate seien so schrecklich, dass sie jegliche Aktion und sogar Krieg rechtfertigen. Diejenigen, die jetzt angesichts der Ereignisse Überzeugungen widerrufen, die sie einmal vertreten haben, sollte man fragen: Auf welchem Planeten habt ihr eigentlich vor dem 11. September gelebt?
Wo waren sie, als die USA im Libanon und in Somalia eindrangen, als sie den Irak als moderne Gesellschaft zerstörten und Massen von Menschen durch Sanktionen töteten, als sie Raketenangriffe auf den Sudan und auf Afghanistan flogen und unentwegt die israelische Unterdrückung der Palästinenser unterstützten? Entweder waren sie so selbstzufrieden und blind gegenüber der Realität, dass sie nichts bemerkten, oder ihre gegenwärtige Pose ist vollständig unaufrichtig.
Die Attentate vom 11. September sind, so traurig das ist, nicht schwer zu verstehen, weder die politischen Unstände noch das Denken ihrer Urheber. Man kann die Perspektive der Verantwortlichen dieser Verbrechen zurückweisen, ohne gleich die Täter moralisch als Ausgeburt des Bösen zu verteufeln.
Bedenkt man den Charakter der amerikanischen Politik, so dürfte eine solche tödliche Attacke niemanden überraschen. Im Golfkrieg und in den Balkankriegen der 90er Jahre töteten die USA eine Vielzahl Menschen und verwüsteten ganze Nationen, während sie fast keine eigenen Opfer zu beklagen hatten. Ist es verwunderlich, dass über kurz oder lang irgendeine nationalistische oder fundamentalistische Gruppe einen tödlichen Angriff auf die USA unternehmen würde?
Ein Ereignis zu erklären heißt nicht, es zu entschuldigen. Unsere Opposition gegen die Attentäter vom 11. September ist in Wirklichkeit viel tiefer und prinzipieller als die von Simon und seinen Gleichgesinnten, weil sie nicht auf eine platte Apologie des amerikanischen Imperialismus hinausläuft.
Simon schreibt: "Der Krieg gegen Terrorismus heißt nicht, die amerikanische Macht in Gebiete auszudehnen, wo sie nichts zu suchen hat. Vielmehr erfordert er den Einsatz von Amerikas militärische Stärke in einer globalen Krise, in der friedliche Lösungen nicht zum Tragen kommen."
Dies ist ausgemachter - und reaktionärer - Unsinn. Der Krieg in Afghanistan richtet sich nicht vorrangig gegen den Terrorismus und dessen Verteidiger. Er ist eine Konsequenz der vergangenen amerikanischen Politik - der Unterstützung der USA für den islamischen Fundamentalismus, um die Sowjetunion zu destabilisieren, ebenso wie ihres Raubzugs auf die Ölreserven - und hat das Ziel, die amerikanischen Interessen in einer strategisch wichtigen Region zu wahren.
Simons Positionen werfen Licht auf ein spezielles Milieu, auf jene "unabhängigen" Stimmen im National Public Radio und im öffentlichen Rundfunkwesen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten an die Republikanische Rechte angepasst haben. Sein Kommentar spiegelt gleichzeitig eine allgemeinere gesellschaftliche Erscheinung wieder - eine intellektuell bankrotte Schicht Ex-Radikaler, Liberaler und Pazifisten, die ihren verdienten Platz im Lager des amerikanischen Militarismus und Imperialismus eingenommen haben.