Dies ist der zweite von mehreren Artikeln über ein Filmfestival mit Filmen aus der Balkanregion, das kürzlich in Berlin stattgefunden hat.
Auf dem "Balkan Black Box" Festival in Berlin konnte man das Werk eines der produktivsten und interessantesten Filmemacher der Region studieren. In seiner bisherigen Laufbahn hat Zelimir Zilnik (geb. 1942) 24 Spielfilme (8-10 für das Kino) und 60 Dokumentarfilme gemacht. Seine Beschäftigung mit dem Filmemachen erstreckt sich bis zurück in die Mitte der 1960er Jahre. In beinahe vier Jahrzehnten kreativer Arbeit hat Zilnik es vermocht, sich sowohl seine Unabhängigkeit durch eine Reihe verschiedener politischer Systeme und Kriege hindurch zu bewahren als auch, wenngleich mit geringen Budgets, provokative und gehaltvolle Filme zu machen.
Seine Werkschau in Berlin zeigte auch den kurzen Dokumentarfilm Lipanska gibanja [Juni-Unruhen], der während der Studentendemonstrationen in Belgrad 1968 gedreht wurde. Neben Szenen von Massenmobilisierungen sieht man einen Schauspieler, der vor den versammelten Studenten spricht. Er rezitiert Robespierre aus Georg Büchners Drama über die Französische Revolution "Dantons Tod", über die Notwendigkeit sprechend, eine Revolution bis zum Ende zu führen. Beinahe dreißig Jahre später filmte Zilnik auf den Straßen Belgrads die Massenproteste gegen das Milosevic-Regime (Do jaja, 1997).
Im Zuge eines Interviews mit dem Regisseur konnten wir mit ihm über seine Laufbahn reden. Es folgen kurze Inhaltsangaben einer Anzahl der auf seiner Werkschau gezeigten Filme.
"Frühe Werke" (1969)
Zilnik war 26, als er seinen ersten Spielfilm "Frühe Werke" drehte. In dem nachfolgenden Interview bekennt er sich zu seinem damaligen Idealismus und romantischem Wesen, die in seinem Film, der Theorie und Praxis von Titos Version des Stalinismus in Jugoslawien beleuchtet, durchscheinen. Eine Gruppe junger Revolutionäre unternimmt eine Odyssee durch die jugoslawische Landschaft, mit der Absicht, eine neue Mobilisierung der Arbeiter und Bauern zu schüren. Eine junge Frau, angewidert von der Rückständigkeit ihrer Familienbeziehungen, insbesondere von ihrem betrunkenen und despotischen Vater, stimmt zu, die Gruppe zu leiten. Ein literarisches und politisches Leitmotiv des Films bilden Zitate aus den Briefen des jungen Karl Marx an Arnold Ruge aus dem Jahre 1843.
Die kleine Gruppe stellt einen enormen Enthusiasmus zur Schau, kommt aber ständig in Konflikt mit dem Konservatismus der Gesellschaft als Ganzer. In einer Reihe von Szenen versucht sich die Mitglieder der Gruppe mit den Arbeitern zu solidarisieren, indem sie härteste und monotonste untergeordnete Arbeiten übernehmen. Schnell erschöpft und frustriert von ihren Anstrengungen, verlassen sie ihre Stellungen in den Fabriken und versuchen stattdessen, die Bauern zu radikalisieren. Wiederum werden sie brutal zurückgestoßen, und die junge Frau verliert darüber die Lust an der Gruppe. Entschlossen, zu ihrer Familie zurückzukehren, wird sie von den anderen für abtrünnig erklärt, ausgestoßen und schließlich als Hexe verbrannt.
Der Film fängt den Geist der Studentenrebellion der Zeit gut ein (nicht nur der jugoslawischen), wobei er gleichzeitig die Beschränkungen der Bewegung reflektiert, die sich in ihrem mangelhaften Begreifen der Natur des Stalinismus in seiner titoistischen Variante offenbaren (typisch ist das Dreschen von Slogans wie "Nur das Proletariat ist in der Lage, ein erfülltes Sexualleben zu führen"). Nichtsdestotrotz waren die Darstellung der Rückständigkeit der damaligen jugoslawischen Gesellschaft und der Appell des Films für die politische und sexuelle Befreiung zu viel für die Behörden. Nach zwei Monaten wurde der Film aus dem Verleih genommen und Zilnik schließlich am Arbeiten in Jugoslawien gehindert.
"So wurde der Stahl gehärtet" (1988)
"So wurde der Stahl gehärtet" wurde zusammen mit dem dokumentarischen Kurzfilm "Nezaposleni ljudi" [Arbeitslose] (1968) gezeigt, der das Obdachlosenproblem zu dieser Zeit beleuchtet. Wir hören, dass man "auf jedem Bahnhof" fünfzig bis hundert Menschen finden könne, die dort schlafen. Während Gesprächen mit Obdachlosen berichtet ein junger Mann von einer Diskussion mit einem Landsmann, mit dem er darüber stritt, ob das vorliegende System wirklich Sozialismus genannt werden könne.
Genau 20 Jahre später spielt "So wurde der Stahl gehärtet", eine burleske Komödie über den ökonomischen Niedergang in Jugoslawien zum Ende der 1980er Jahre. Die Unternehmensleitung einer Stahlfabrik ist nicht in der Lage, ihre Produktpalette und Vertriebsstruktur den harten Anforderungen des Weltmarktes anzupassen; stattdessen widmet sich der Fabrikdirektor den abstrusesten privaten Nebengeschäften, wobei seine Geldgier nur von seiner Inkompetenz übertroffen wird.
Die Hauptfigur des Films, der gutmütige und ein wenig unbedarfte Fabrikarbeiter Leo, lässt sich darauf ein, dem Direktor bei einem seiner Privatgeschäfte auszuhelfen. Jeder in dem Film versucht, etwas nebenbei zu verdienen. In einer Szene hämmern zwei Frauen an Leos Wohnungstür, um sich über die "betrügerische" Näharbeit seiner Frau zu beschweren. In einer anderen Szene trifft Leo seinen Vermieter bei Nacktaufnahmen zweier flatterhafter Schulmädchen an. Schließlich wird Leo von seiner Frau in einer kompromittierenden Situation mit einem der beiden Schulmädchen erwischt, und es fliegen die Fetzen.
Der Film wird gänzlich von dem defätistischen Humor getragen, der für die spezielle Witzkultur in Zilniks Heimat charakteristisch ist. Seine Subversivität hat dieser volkstümliche Humor unter dem Eindruck der an äußeren Bedrängnissen reichen Geschichte des serbischen Volkes entwickelt, welches durch die Zeitalter hindurch so beständig unter Okkupationen, Kriegen und kläglich scheiternden Versuchen der Selbstbestimmung zu leiden hatte. Vielleicht liegt daher auf dem Balkan mehr als anderswo in der Farce die angemessene künstlerische Gestalt, vermittels derer es der trostlosen Alltagswirklichkeit zum Trotz gelingt, einen Sinn für Hoffnung zu bewahren.
"Tito zum zweiten Mal unter den Serben" (1994)
Zilnik drehte den halbdokumentarischen Film "Tito zum zweiten Mal unter den Serben" im Jahre 1994. Marschall Tito, im Glanze seiner besten Armeeuniform, ersteht 14 Jahre nach seinem Tode aus seinem Grabe und schlendert durch die Straßen der Innenstadt von Belgrad, begierig, sich mit seinem Volk zu unterhalten. Die Stadt leidet unter der Hyperinflation und dem Krieg in Bosnien und Kroatien. Ein verzweifelter Überlebenskampf beherrscht das Alltagsleben der Stadtbewohner. Zilnik gesteht ein, dass seine Idee, einen jungen Schauspieler, der als Tito posiert, auf die Straßen von Belgrad zu schicken, sein eigener "verzweifelter" Versuch war, in einen Dialog mit dem Volk über die Ereignisse einzutreten. Er machte den Film in nur zwei Tagen und war selbst überrascht von den Reaktionen.
"Ist es seit meinem Tod besser oder schlechter?" fragt Tito. Die Mehrheit der Menschen, die er trifft, sind der festen Überzeugung, dass sich die Dinge rapide zum Schlechteren entwickelt haben, seit Milosevic und seine Kumpanen an die Macht gelangt sind. Ein Mann sagt zu Tito: "Sie waren ein Gauner, aber immerhin haben Sie den Leuten etwas zurück gegeben. Heute haben wir nur Gauner, die alles für sich behalten." Belgrad im Jahre 1994 hält eine Reihe von Überraschungen für den früheren stalinistischen Diktator parat, insbesondere stellt Tito verwundert fest, dass der Handel jetzt zunehmend in deutscher Währung abgewickelt wird.
"Marmorarsch" (1994)
Zilnik drehte "Marmorarsch" im gleichen Jahr wie seinen Titofilm, d.h. inmitten der Kriegsperiode unter dem Regime des Ex-Stalinisten Slobodan Milosevic. Der Film gewann den Spezialpreis der Jury des "Gay-Teddy" auf der Berlinale von 1995 und reüssierte hernach auf zahlreichen internationalen Festivals. Die Hauptfigur, Merlin, ist ein alternder Transvestit, der als Prostituierte auf Belgrads Straßenstrich arbeitet. Vor dem Krieg war Merlin eine der exotischsten Figuren Belgrads; jetzt ist das Alltagsleben selber so verrückt, dass er wie der letzte Hort der Normalität erscheint. Merlins Mitbewohnerin und beste Freundin ist die Prostituiertenkollegin Sanela, eine stramme Frau mit Kampfmesser und Kickboxfähigkeiten. In der Hoffnung, ihren Kundenkreis erweitern zu können, versucht sie sich von einem Freund Englisch beibringen zu lassen.
Eine alter Bekannter, Dzoni (Johnny), kehrt aus dem Krieg zurück. Traumatisiert durch die Brutalität dessen, was er gesehen und getan hat, stellt er eine tickende Zeitbombe dar und fühlt sich nur mit einer Waffe in der Hand einigermaßen sicher. Bei allem Extremcharakter der Lage und der Handlungsträger vermag es der Film, ihre Suche nach Liebe, Wärme und Anerkennung - nach Normalität - begreiflich zu machen. Doch die Kriegswunden verlaufen zu tief. Das Blatt wendet sich gegen die fragilen Äußerungen von Menschlichkeit. Der Film schließt mit einer bitteren Note der Selbstzerstörung.
"Festung Europa" (2001)
"Festung Europa" ist der jüngste halbdokumentarische Film Zilniks und wurde in den Grenzregionen von Italien, Slowenien, Kroatien und Ungarn gedreht, d.h. an der südöstlichen Grenzregion des Schengener Abkommens zur Regelung der Durchreise von Migranten in Europa. Wie Zilnik in dem nachfolgenden Interview erklärt, ist dieses neue Bollwerk gegen die Bewegung von Menschen in gewisser Hinsicht undurchlässiger als die Berliner Mauer.
Zilniks Film dreht sich um das Schicksal einer russischen Familie, deren Ehe zerbrochen ist. Die Frau ist zu Freunden nach Triest in Italien gezogen und wartet dort auf die Ankunft ihrer Tochter, die von ihrem Ex-Mann begleitet wird. Das Mädchen rennt während der Reise von ihrem Vater weg, die beiden stranden getrennt an verschiedenen Orten in einem fremden Land und ohne Papiere, die ihnen die legale Fortsetzung ihrer Reise gen Westen erlauben würden. Die im Schengener Abkommen niedergelegten Regeln sind klar - die "Illegalen" werden über die Grenze wieder in das Land, aus dem sie gekommen sind, zurück geschickt, wo sie wiederum in Abschiebehaft geraten, auf Parasiten geprüft, geduscht sowie nach ordnungsgemäßer Prüfung ins nächste Land abgeschoben werden. Die so deportierten Migranten stranden nicht selten erschöpft, mittellos und natürlich ohne ordnungsgemäße Dokumente in einem der sogenannten "sicheren Drittländer".
Dort bleibt ihnen wenig anderes übrig als illegal Arbeit aufzunehmen, um sich am Leben zu erhalten, oder sich den Behörden zu stellen und den ganzen Zyklus - Abschiebehaft, Untersuchung, Deportation - von neuem durchzumachen. Ein Zollbeamter bestätigt die enorme Zunahme der Versuche von Migranten, die Grenze nach Westeuropa zu passieren. Die Abschiebelager in den verschiedenen Ländern sind bis zum Anschlag gefüllt mit Flüchtlingen aus der Türkei, dem Irak, aus China, Indien, Sri Lanka und aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks.
Angesichts der unerträglichen wirtschaftlichen und politischen Situation gezwungen, ihr Land zu verlassen, und durch die Kosten der Reise tief verschuldet, sind diese Leute in einem Niemandsland gefangen, in dem keine Bewegung vor- oder rückwärts möglich ist. Wie die schlimmsten Verbrecher behandelt, besteht ihr Vergehen lediglich darin, dass sie vor bitterer Armut zu fliehen versucht haben. Ein Bergarbeiter berichtet, dass er Serbien verlassen habe, weil er für seine Arbeit unter Tage niemals mehr als den Gegenwert von fünf Bieren im Monat bekommen habe. Er ist einer der "Wirtschaftsflüchtlinge", die von den westeuropäischen Regierungen zum "Hauptfeind" erklärt wurden, der unbedingt außen vor zu bleiben habe.
Zilniks neuester Film macht deutlich, wie die Grenzsicherungspolitik der Europäischen Union die nationalstaatlichen Bürokratien und Polizeiorgane der osteuropäischen Kleinstaaten unterstützt und stärkt und nicht zuletzt auf diese Weise die Spaltungstendenzen entlang nationaler und sogar Stammeslinien begünstigt und fördert.
Mehr als das Werk irgendeines anderen Filmemachers aus der Balkanregion bilden Zilniks Filme, bei all ihren Begrenztheiten, ein Archiv der Erfahrungen der Balkanvölker nach dem Zusammenbruch des Titoismus. Zilnik verkörpert nicht zuletzt die Überzeugung, dass das Medium Film die Fähigkeit besitzt, als "Gewissen" der Leute und ihrer Zeit zu fungieren.