Zum Hintergrund des Milosevic-Prozesses

Die USA, Europa und die Katastrophe auf dem Balkan

Ganz unabhängig davon, wie man zum früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic steht - das World Socialist Web Site gehört nicht zu den Verteidigern dieses einstigen stalinistischen Apparatschiks, der sich zum serbischen Nationalisten und Befürworter der kapitalistischen Restauration gewandelt hat -, führen die Umstände seiner Verhaftung und Auslieferung nach Den Haag den Anspruch der westlichen Regierungen ad absurdum, sie setzten sich auf dem Balkan für demokratische Rechte und rechtsstaatliche Verhältnisse ein.

Nicht wenige bürgerliche Kommentatoren haben eingestanden, dass der ehemalig Staatschef im Grunde genommen gekidnappt wurde - hinter dem Rücken des jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica und in Missachtung eines Urteils des jugoslawischen Verfassungsgerichts, das den Auslieferungsbefehl nur wenige Stunden zuvor aufgehoben hatte. Milosevics Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag war Bestandteil eines schmutzigen Deals zwischen den USA und dem serbischen Premierminister Zoran Djindjic: Washington versprach, es werde seine Drohung zurücknehmen, die anstehende "Geberkonferenz" in Brüssel zu boykottieren, und ein Hilfspaket über eine Milliarde Dollar an Belgrad unterstützen, wenn Milosevic dafür an das UN-Tribunal überstellt würde.

Dieser offensichtlich korrupte Kuhhandel löste in Teilen der europäischen Bourgeoisie Besorgnis aus, droht doch das von den USA unterstützte Vorgehen den Ruf des Haager Tribunals unwiderruflich zu schädigen und es als Werkzeug der US-Politik auf dem Balkan bloßzustellen. Die Schweizer Tageszeitung Le Temps beschwerte sich: "Man kann ohne Übertreibung sagen, dass es sich bei der Auslieferung des früheren Diktators um ein Geschäft handelt... Ganz gleich um wen es geht - und besonders, wenn wir ihn nicht mögen -, bleibt Gesetz Gesetz. Dieser Schritt dagegen war ein reiner Gewaltakt, der im Widerspruch zu den im Westen geachteten Prinzipien steht."

Ungeachtet des Wortschwalls über Menschenrechte und Gerechtigkeit stellt die Entführung Milosevics einmal mehr unter Beweis, mit welcher Verachtung die Großmächte mit der Souveränität kleinerer Länder umspringen und mit welchem Hohn sie die Rechte gewählter Regierungen behandeln, selbst wenn sie, wie in diesem Fall, maßgeblich daran beteiligt waren, sie an die Macht zubringen. Das Haager Tribunal hat die Aufgabe eines legalen Feigenblattes für die Rückkehr zu Großmachtinterventionen im Kolonialstil übernommen.

Das Tribunal hatte seinen Unparteilichkeitsanspruch bereits aufgegeben, als es auf dem Höhepunkt des Nato-Luftkriegs gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 Anklage gegen Milosevic erhob. Die Veröffentlichung der Anklageschrift zu einem Zeitpunkt, an dem der Unmut über die Nato-Angriffe auf zivile Ziele in Serbien immer lauter wurde, machte die Anklage, wie das wsws damals erklärte, weniger zu einem juristischen Dokument als zu einer politischen Hetzschrift. (Siehe: "Die Anklage gegen Milosevic: juristisches Dokument oder politische Hetzschrift?", 2. Juni 1999 (http://www.wsws.org/de/1999/jun1999/haag-j02.shtml))

Die Annahme, ein Prozess, der sich aus solchen Umständen heraus entwickelt hat, könne allgemein akzeptierten Gerechtigkeits- und Rechtsstandards genügen, ist offensichtlich absurd. Unabhängig davon, was Milosevic der albanischstämmigen Bevölkerung des Kosovo angetan hat, wird der anstehende Prozess vor dem Haager Tribunal den Charakter eines Schauprozesses haben.

Jene, die im Prozess die Fäden ziehen - die amerikanische und die europäischen Regierungen, die 1999 den Krieg führten und die vorangehende Aufspaltung Jugoslawiens überwachten - haben ein persönliches Interesse an einer neuen Dämonisierungskampagne gegen Milosevic. Er soll als böser Geist dargestellt werden, der allein für die Katastrophe verantwortlich ist, die die Region während des letzten Jahrzehnts heimgesucht hat.

Diese politische Aufgabe stellt sich um so dringender, wenn man das verheerende Ergebnis der westlichen Politik auf dem Balkan betrachtet - die Verwandlung Bosniens in ein ethnisch gespaltenes Militärprotektorat, die gewaltsame Vertreibung der Serben aus dem Kosovo durch die mit der Nato verbündeten albanischen Separatisten der UCK, und der Ausbruch des Bürgerkriegs in Mazedonien - und wenn man berücksichtigt, dass die groben Übertreibungen und Lügen, mit denen die öffentliche Meinung im Westen vor und während des Nato-Kriegs gegen Serbien manipuliert wurde, zunehmend entlarvt werden.

Die Anklage gegen Milosevic ist voller Widersprüche. Als erstes ignoriert das Haager Tribunal, dass der Krieg der Nato im Frühjahr 1999 wesentlich dazu beitrug, die massenhafte Vertreibung von albanischen Kosovaren durch serbische Truppen auszulösen. Ebenso wenig berücksichtigt es die Rolle der amerikanischen CIA und europäischer Geheimdienste, die in den Monaten vor dem Krieg die UCK unterstützten, als diese gewaltsam gegen die serbische Polizei vorging und serbische Zivilisten im Kosovo mit Drohungen und vereinzelten Gewaltakten überzog.

Es steht außer Zweifel, dass Milosevic eine chauvinistische Politik betrieb, die auch gewaltsame Angriffe auf die albanische Bevölkerung mit einschloss. Aber Washington und die europäischen Hauptstädte verfolgten einen Kurs der Subversion und Destabilisierung, die ethnische Konflikte nahezu unvermeidlich machten.

Laut Presseberichten plant das Haager Tribunal die Anklage gegen Milosevic auf angeblichen Völkermord während des Bürgerkriegs in Bosnien auszudehnen. Aber die USA und Europa hatten Milosevic 1995 zu einem der wichtigsten Garanten des Dayton-Abkommens gemacht, das den Krieg beendete und den Vereinten Nationen die Kontrolle übertrug. Ließe sich das Haager Tribunal durch Rücksicht auf die historische Wahrheit, durch Logik und Folgerichtigkeit leiten, müsste es westliche Führer wie den damaligen US-Präsidenten Clinton wegen nachträglicher Komplizenschaft am Völkermord anklagen.

Wie soll man außerdem erklären, dass der Westen bei seiner Leidenschaft für Menschenrechte und die Verfolgung von Kriegsverbrechen mit zweierlei Maß misst?

Washington hat sich der Verfolgung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet offen widersetzt, als dieser faschistische General und Massenmörder in Großbritannien in Haft saß und an Spanien ausgeliefert werden sollte. Es ist nicht schwer, den Zusammenhang zwischen dieser mangelnden Begeisterung und Washingtons eigener Rolle zu sehen, das 1973 Pinochets Putsch gegen das demokratische gewählte Allende-Regime sowie die anschließende Terrorherrschaft unterstützt hatte. Gegen prominente amerikanische Politiker, darunter den früheren Außenminister Henry Kissinger, die damals eine wichtige Rolle spielten, laufen heute in Belgien und Lateinamerika sogar Verfahren wegen der chilenischen Ereignisse. Wen wundert es, dass die Bush-Regierung jede Zusammenarbeit bei diesen Untersuchungen verweigert.

Niemand geringeres als der frühere UN-Chefankläger Richard Goldstone hat erklärt, der israelische Premierminister Ariel Sharon müsste wegen seiner Verwicklung in die Ermordung Tausender Palästinenser als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden. Aber wer zweifelt daran, dass Sharon von den US auch in Zukunft weiterhin hofiert und sein Regime mit modernsten Waffen und Milliarden Dollars unterstützt wird?

Gäbe es einen objektiven Maßstab für die internationale Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, stünde Milosevic im Vergleich zu den politischen Vertretern der USA und Europas ziemlich weit unten auf der Liste. Deren Taten in Korea, Afrika, Vietnam und anderswo hatten den Tod von Millionen zur Folge. Um nur ein zeitgenössisches Bespiel anzuführen: Im Krieg gegen den Irak wurden Tausende umgebracht und Hunderttausende mehr sind an den Folgen der anhaltenden Sanktionen und Bombenabwürfe gegen ein besiegtes Land gestorben, für die es keinen Präzedenzfall gibt.

Die USA haben mit allen Mitteln sicher gestellt, dass ihre Politiker und Soldaten nicht wegen Kriegsverbrechen verfolgt werden können. Sie haben sich der Einrichtung eines umfassenderen internationalen Strafgerichtshofs widersetzt, wie er bereits vor drei Jahren vereinbart worden war. 35 Staaten haben ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet, notwendig sind aber 60 Staaten. 1984 hatte sich die Reagan-Regierung geweigert, ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs zu akzeptieren, das die Verminung nicaraguanischer Häfen durch Washington für illegal erklärt hatte.

Weit davon entfernt, die historische Wahrheit aufzudecken, wird der Milosevic-Prozess dazu dienen, die internationale öffentliche Meinung von der Verantwortung der imperialistischen Mächte für die Tragödie auf dem Balkan abzulenken. In den zahlreichen Kommentaren, die in den Medien erschienen sind, werden nirgends die grundlegenden historischen Fragen des Balkans angeschnitten. Nicht zufällig. Insbesondere Washington setzt auf das fehlende Wissen der Bevölkerung über die Ursprünge der Katastrophe, um bei der Durchführung seiner räuberischen Politik auf dem Balkan freie Hand zu haben.

Nachkriegs-Jugoslawien war das Ergebnis einer Volksbewegung gegen die Nazi-Besatzung und monarchistische Kräfte. Der Partisanenaufstand wurde von Josip Broz (Tito) und der Jugoslawischen Kommunistischen Partei angeführt. Tito errichtete eine sorgfältig ausbalancierte Föderation der unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Regionen. Unter den besonderen Bedingungen des Kalten Kriegs konnte das Tito-Regime über Jahre hinweg zwischen den USA und der Sowjetunion manövrieren und gleichzeitig die einheitliche Föderation aufrecht erhalten. Er stützte sich dabei auf Verfassungsgarantien für die verschiedenen ethnischen Bestandteile - Serben, Kroaten, bosnische Moslems, albanische Kosovaren, etc.

Der Ursprung des Bosnien- und des Kosvo-Konflikts geht darauf zurück, dass Jugoslawien Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre unter den Auswirkungen der von den Westmächten diktierten und mittels der strukturellen Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank durchgesetzten Politik auseinanderbrach. Ziel des Westens war es, die staatlich gelenkte Wirtschaft zu beseitigen und die uneingeschränkte ökonomische Vorherrschaft des internationalen Kapitals über Jugoslawien herzustellen.

Der westliche Druck trug Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre zu einer galoppierenden Inflation und einem massiven Arbeitsplatzabbau bei, auf die die jugoslawische Arbeiterklasse mit Streiks und anderen Massenprotesten reagierte. Im Bemühen, den Klassenkampf in andere Kanäle zu lenken, schürten frühere stalinistische Bürokraten wie Milosevic und Franjo Tudjman nationalistische Stimmungen und bemühten sich gleichzeitig um westliche Unterstützung. Milosevic war anfangs ein Schützling des Westens und befürwortete dessen Politik zur Einführung des kapitalistischen Marktes.

Deutschland entschied nach seiner Wiedervereinigung im Jahr 1990, es sei am besten für seine Interessen auf dem Balkan, wenn es die Abtrennung des relativ wohlhabenden Slowenien und anschließend Kroatiens von Jugoslawien unterstütze. Die USA, die sich ursprünglich gegen das Aufbrechen Jugoslawiens gestellt hatten, machten eine Kehrtwende und wurden zum führenden westlichen Befürworter einer Unabhängigkeit Bosniens

Historiker, die sich in der Geschichte des Balkans und Jugoslawiens auskannten, warnten damals, dass eine überstürzte Zerstörung Jugoslawiens unweigerlich zu gewaltsamen ethnischen Konflikten führen werde. Die Abspaltung Kroatiens und Bosniens zum Beispiel entzog den ethnischen Minderheiten in diesen Gebieten plötzlich den verfassungsmäßigen Schutz, den sie im Rahmen der Föderation genossen hatten. Nationalistische Politiker wie Milosevic in Serbien, Tudjman in Kroatien und Alija Izetbegovic in Bosnien beuteten die entstandenen Ängste für ihre eigenen politischen Ziele aus. In Bezug auf "ethnische Säuberungen" und andere Formen der Einschüchterung von Minderheiten unterschieden sich diese drei nationalistischen Führer kaum voneinander.

Ihre Unterstützung für die Zerstörung Jugoslawiens brachte den Westen und insbesondere die USA in Konflikt zu Milosevic. In Washington setzte sich die Auffassung durch, dass die herrschende Elite Serbiens das größte Interesse an der Aufrechterhaltung des Einheitsstaats habe, in dem sie die vorherrschende Rolle spielte. Wie schon so oft in der Vergangenheit - bei Noriega in Panama und Saddam Hussein im Irak zum Beispiel - fand sich ein einstiger Aktivposten der USA, Milosevic, unvermittelt unter deren Feuer wieder.

Die verdeckte Unterstützung der USA für die UCK und ihr offenes Bündnis mit den albanischen Nationalisten am Vorabend des Nato-Kriegs waren fester Bestandteil ihrer antiserbischen Politik. Die Anklage des Haager Tribunals gegen Milosevic ist eine Erweiterung derselben aggressiven Politik. Die Nato hatte ihre 76-tägige Bombardierung Serbiens als humanitären Krieg dargestellt, der notwendig sei, um einen Völkermord zu stoppen. Milosevic wurde in diesem Zusammenhang als "serbischer Hitler" bezeichnet.

Diese Behauptung, Milosevic sei ein moderner Hitler, war maßlos übertrieben und zynisch zugleich. Er ist ein bürgerlicher Führer einer kleinen, wirtschaftlich schwachen Nation und nicht einer imperialistischen Macht wie Nazi-Deutschland. Außerdem gibt es keine Beweise, dass er eine Politik der Massenliquidation betrieben hätte, und das Ausmaß der zivilen Opfer im Kosovo steht in keinem Verhältnissen zu den Grausamkeiten, die die Nazis im Rahmen des Holocaust begingen. Seit dem Ende des Nato-Kriegs hat das Haager Tribunal eingestanden, dass die Zahl der entdeckten Opfer aus dem Kosovo-Konflikt am Ende wohl "unter 10.000" liegen werde. Bis heute sind allerdings nicht annähernd so viele gefunden worden.

Milosevic ist das erste frühere Staatsoberhaupt, das sich vor einem internationalen Strafgerichtshof verantworten muss. Das wird als Auftakt einer neuen Ära gefeiert, in der sich Kriegsverbrecher nicht mehr hinter ihren offiziellen Ämtern verstecken könnten. Es wäre allerdings in höchstem Grade naiv, diese Behauptung für bare Münze zu nehmen. Nach all den Verbrechen, die sie selbst begangen haben, ist die Vorstellung, die herrschenden Klassen der USA und Europas könnten international für Gerechtigkeit sorgen, lächerlich. Milosevic mag aus politischen Opportunitätsgründen der Prozess gemacht werden, aber weder den imperialistischen Führern noch ihren bevorzugten Handlangern wird es so ergehen.

Siehe auch:
Mazedonien: US-Soldaten retten albanische Separatisten
(29. Juni 2001)
Politische Lehren aus dem Balkankrieg
( 16. Juni 1999)
Die Anklage gegen Milosevic: juristisches Dokument oder politische Hetzschrift?
( 2. Juni 1999)
Die Anklage gegen Milosevic dient der Vorbereitung einer Invasion
( 29. Mai 1999)
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