Das Vermächtnis des Hans-Olaf Henkel

Eine Bilanz des scheidenden BDI-Präsidenten

Als Hans-Olaf Henkel zum Jahreswechsel nach drei Amtszeiten als BDI-Chef abtrat, gab es vermutlich nur wenige Arbeiter und Angestellte, die seinen Abgang bedauert hätten. Seit Anfang 1995 führte Henkel den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Er darf wohl mit Recht für sich in Anspruch nehmen, den Interessen der deutschen Wirtschaft gedient zu haben. Mit seinen radikal-marktwirtschaftlichen Vorstößen war er maßgeblich daran beteiligt, die bundesdeutsche Politik nach rechts und die sozialen Standards nach unten zu drücken.

Wie oft musste man seine provokanten öffentliche Auftritte erdulden, bei denen er pausenlos eine Absenkung der Löhne und Sozialleistungen predigte. In einem seiner letzten Interviews als scheidender BDI-Präsident bestritt er sogar allen Ernstes, dass es in Deutschland Armut gebe. Das Gegenteil sei richtig, man leide hier an viel zu viel Gleichheit. Schuld daran seien nicht nur Politiker in SPD und Gewerkschaften, auch Politiker der Union, wie Blüm, Geissler und insbesondere Ex-Kanzler Helmut Kohl, hätten viel zu lange an einer Politik des sozialen Ausgleichs festgehalten.

In seinen jüngst erschienen Erinnerungen, die unter dem Titel Die Macht der Freiheit in die Bestsellerlisten gerieten, gibt Henkel unter anderem einen aufschlußreichen Einblick in die Beziehungen von Wirtschaft und Politik der deutschen Nachkriegszeit - sieht man einmal über gewisse eitle Selbstbespiegelungen hinweg und gönnt ihm auch seine immer wieder beschriebenen extravagant eingerichteten Häuser und bescheidenen Segeljachten.

Wirtschaft und Politik

Der BDI ist nicht irgend ein Wirtschaftsverband. Er ist der Spitzenverband der deutschen Industrie, seine Mitglieder sind in 35 Verbände aufgeteilt, in seinem Vorstand sitzen alle wichtigen Industriekapitäne. Ferdinand Piech von VW, neben Jürgen Schrempp von DaimlerChrysler, ebenso wie der Chef von Siemens, Heinrich von Pierer, oder der Telekom-Boss Ron Sommer.

Offiziell sieht sich der BDI als Vertreter der wirtschaftspolitischen Interessen der Industrie gegenüber Parlament und Regierung, politischen Parteien, gesellschaftlichen Gruppen sowie gegenüber der EU. Wie dies im Konkreten abläuft, erfahren wir von Henkel aus erster Hand: "Die von der Öffentlichkeit meist unbemerkte Arbeit des BDI bezieht sich auf sämtliche Gesetzesvorhaben, die Einfluss auf die Wirtschaft ausüben."

Da Henkel, wie wir noch sehen werden, Wirtschaftsinteressen und gesellschaftliche Interessen für praktisch identisch hält, bedeutet dies, dass der BDI versucht, auf alle politischen Entscheidungen Einfluss auszuüben. Aber lassen wir es Henkel selbst sagen: "Entweder fordern uns die Ministerien direkt zur Kommentierung auf oder wir erhalten die Entwürfe aus anderen Kanälen, etwa weil man sich Unterstützung von uns erwartet. Der BDI kommt an alles heran, was auf gesetzlichem Gebiet vorbereitet wird, und das macht auch Sinn. Stehen die Umrisse der geplanten Regierungsvorhaben auch meist schon in der Zeitung - wir kennen die Details, und das zum Nutzen der Politiker, die auf die geballte Kompetenz unserer 165 Mitarbeiter nur ungern verzichten."

Auch wie das genau vor sich geht, erfährt man von Henkel: "Das Team war aufgeteilt nach Arbeitsgebieten, die bestimmten Themen, man könnte auch sagen bestimmten Ministerien zugeordnet waren. Es gab eine Umweltabteilung, eine Energieabteilung, Abteilungen für den Mittelstand, für die Außenwirtschaft, für Steuern, Bildung und Forschung, natürlich auch für die Presse. Auf all diesen Feldern erarbeitete man eigene Konzeptionen und Problemlösungen, die der Politik angeboten wurden und ohne die, wie ich bald merkte, die Politik oft auch nicht auskam."

Mit besonderem Stolz verweist Henkel darauf, dass auf seine Initiative hin der BDI 1997 eine Zukunftsperspektive für Deutschland entworfen habe. Das Projekt nannte sich "Für ein attraktives Deutschland". Mit seiner Hilfe sollte Deutschland für "Reformen" aufgebrochen und die "Opferbereitschaft in der Gesellschaft" erhöht werden. Man stützte sich dabei auf die sogenannte "Ruck"-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der für eine "wettbewerbsfähige Gesellschaft" eingetreten war.

Man forderte einen "schlankeren Staat", eine "mobile Gesellschaft" und eine drastische Steuersenkung für Unternehmer. Nur so könne das Land für ausländische Investitionen attraktiv gemacht werden. Diese Kampagne sollte schon bald erste Früchte tragen. Die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde zum Gesetz und auch der Kündigungsschutz wurde gelockert.

Henkel spricht vom BDI als außerparlamentarische Opposition. Seiner Ansicht nach gehören aber die "politischen Entscheidungsprozesse" noch viel stärker den "Herausforderungen der Globalisierung" angepasst. Dabei stehe nicht nur das deutsche Mitbestimmungsmodell im Wege, vielmehr seien auch Änderungen des Grundgesetzes und letztlich eine neue Verfassung überfällig.

Regierungswechsel 1998

Es ist bekannt, dass Henkel und beträchtliche Teile des BDI der Kohl-Regierung in den letzten Jahren ihrer Amtszeit kritisch gegenüber standen. Wie stark 1998 das Interesse der Industrie an einem Regierungswechsel war, lassen Passagen wie diese erahnen: "Auch heute noch wird unser Land durch Kohls Regierungszeit bestimmt - direkt und indirekt. Sechzehn Jahre stand er an der Spitze, und die Zahl der Wirtschaftsminister, die von ihm berufen wurden, ist enorm, ihre Namen größtenteils vergessen. Da in diesem sensiblen Bereich Kontinuität und Nachhaltigkeit gefordert sind, sehe ich auch dies als Indiz für eine verfehlte Politik."

Einen Absatz weiter gerät Henkel dann völlig außer Kontrolle, wenn er auf den ehemaligen Arbeitsminister Norbert Blüm zu sprechen kommt: "Der einzige Minister, der ihm von Anfang bis Ende brav zur Seite stand, war Norbert Blüm - ein Meister in den Disziplinen der Reformverhinderung sowie der Ablenkung von den wirklichen Problemen, mit der er seinem Chef die gewünschte Ruhe verschaffte. Dank Blüms wortreichem Einsatz konnte Kohl Reformen bei Rente und Arbeitsmarkt jahrelang blockieren; und diejenigen, die sich für Veränderungen einsetzten und die Bevölkerung über die wahren Probleme aufklärten, konsequent wegbeißen. Sechzehn Jahre Stagnation in Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wegen eines einzigen Mannes und seiner dienstwilligen Helfer. Und welch ein Paradoxon, dass die Reformfähigkeit, die sich heute bei CDU und SPD wieder zaghaft bemerkbar macht, durch ebendiesen Mann, wenn auch indirekt, ausgelöst wurde. Ich spreche von Kohls Spendenskandal."

Bei diesen Worten könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Politik der Christdemokraten Kohl, Blüm und Konsorten arbeitnehmerfreundlich war. Das war sie natürlich zu keinem Zeitpunkt. Was den BDI-Chef so in Rage versetzt, ist schlichtweg die Tatsache, dass eine konservative, wirtschaftsorientierte CDU/FDP-Regierung dem Konflikt mit der arbeitenden Bevölkerung ausgewichen ist. Er schreibt in seinem Buch, Kohl habe aus populistischen Gründen seine Partei mit einem "sozialdemokratischen Zuckerguss" versehen, um sich "linke Wählerstimmen" zu sichern. Damit habe Kohl auf die "entscheidenden Reformen verzichtet".

Henkel hatte 1998 auf Gerhard Schröder und eine Große Koalition von SPD und CDU gesetzt. Schröder kannte er als "wirtschaftsnahen pragmatischen" Ministerpräsidenten von Niedersachsen, dem er einiges zutraute. Der überraschend hohe Wahlsieg von SPD und Grünen entsetzte ihn dann allerdings.

Doch nach dem Rücktritt von Finanzminister Lafontaine, der unübersehbar zur Zielscheibe der interessierten Wirtschaftskreise geworden war, zeigte sich Henkel mit der neuen Ausrichtung der Politik unter Schröder, Fischer und Eichel zufrieden. Das Sparpaket und die Steuerreform waren ganz nach Henkels Geschmack. So konnte es weiter gehen. Sein knapper Kommentar dazu: "Wer hätte denn ahnen können, dass Oskar Lafontaine so schnell von der Bildfläche verschwinden würde und die Grünen alles anstandslos mitmachen."

Wirtschaftsinteressen und Demokratie

Während Henkel Kanzler Schröder für einen fähigen "Machtpolitiker" hält, wirft er ihm und - mit wenigen Ausnahmen - eigentlich fast allen anderen deutschen Politikgrößen zu viel "innergesellschaftliche" Rücksichtnahme vor. Womit wir bei Henkels Lieblingsthema wären. Er ist nämlich zutiefst davon überzeugt, "dass alles, was gut ist für die Industrie, zu 99,9 Prozent auch für die Gesellschaft gut ist". Und dass "die ideologische Unterscheidung zwischen den ‚Interessen der Wirtschaft' und den ‚Interessen der Gesellschaft', die unsere Politiker so gerne im Mund führen, längst der Vergangenheit angehört... Nur bei uns wird dieser angebliche Interessenkonflikt von den Politikern wie eine Monstranz hochgehalten."

Ginge es nach Henkel, so hätten im Grunde nur diejenigen Parteien eine Daseinsberechtigung, die strikt der Wirtschaft gehorchen. Suspekt und geradezu verwerflich ist jede Vorstellung, dass das gemeine Volk in die politischen Geschehnisse und damit auch in den Wirtschaftsprozess eingreift.

Auf dieses Thema, das die Frage nach der Bedeutung der Demokratie in der Gesellschaft aufwirft, kommt Henkel oft zu sprechen. Sein Credo, das als Motto für seine Autobiographie herhalten musste, lautet: Individuelle Freiheit, ja, auch Menschenwürde, aber bitte keine soziale Gleichheit! Diese Auffassung mag banal klingen, sie hat aber weite Verbreitung gefunden, seit die stalinistischen Regime Schiffbruch erlitten haben und der Kapitalismus als scheinbar einzige Alternative da steht.

Unter Freiheit versteht Henkel in erster Linie die Freiheit der Wirtschaft. Daraus zieht der den Schluss: "Wer die Demokratie will, muss sich für die Marktwirtschaft stark machen, wie diese wiederum nur dann ein menschliches Antlitz erhält, wenn sie das Recht des individuellen Lebens achtet." Diese Logik entspricht ganz den Wirtschaftsinteressen, die Henkel als BDI-Präsident zu vertreten hatte und lässt sich gleichzeitig mit einer Mitgliedschaft bei Amnesty International vereinbaren, die Henkel bei jeder Gelegenheit erwähnt.

Das hindert ihn allerdings nicht daran, sich bei seinen ordnungspolitischen Vorstellungen neben der Europäischen Zentralbank, dem Sachverständigenrat und dem Kieler Weltwirtschaftsinstitut auf die "Chicagoer Schule" und deren maßgeblichen Vertreter, Milton Friedmann, zu berufen, deren Theorien ihre reinste Ausprägung in General Pinochets Chile fanden.

Ausgehend von diesen Vorbildern sehen Henkels ökonomische Rezepte eine weltweite Liberalisierung und Privatisierung vor. Außerdem gelte es, die Staatshaushalte radikal zu sanieren und eine freie Wettbewerbsgesellschaft einzuführen. Reagan in den USA und Thachter in Großbritannien waren dieser monetaristischen Politik in den 80er Jahren gefolgt und hatten beispiellose Haushalts- und Kürzungsmaßnahmen durchgeführt, mit der Folge, dass Millionen Menschen in die Armut getrieben wurden. In diesem Zusammenhang wurden auch demokratische Rechte eingeschränkt und Gewerkschaften zerschlagen.

Soweit zu den politischen Zielvorgaben des BDI unter Henkel.

Wer ist Hans-Olaf Henkel

Henkel wurde 1940 in eine gut betuchte Hamburger Kaufmannsfamilie hinein geboren. Sein Vater, ein erfolgreicher Papiergroßhändler, starb an der Front in Ungarn. Die Familie mit Villa an der prominenten Rothenbaumchaussee musste sich nach der Zerstörung des bombardierten Hauses zwar etwas einschränken, lebte aber nie unter einem gewissen Niveau.

Nach dem Krieg, als die Mutter den Papiergroßhandel übernommen hatte, brachte man es bald wieder auf den alten, gewohnten Lebensstil. Der junge Henkel stand der werten Mutter allerdings ein wenig im Wege, so dass sie ihn für zwei Jahre auf ein Internat schickte. Das bekam ihm offenbar nicht so gut; neben prügelnden Nonnen gab es schlechte Noten.

Auf diese Zeit datiert Henkel seinen Trieb nach Freiheit. Er kam dann auf eine bessere Schule, genoss die Freiheit und erbrachte bessere Leistungen. Hier habe er das System entdeckt: Mehr Freiheit gleich mehr Leistung.

Im Bemühen, aus dem Mief zu Hause und dem der 50-er Jahre auszubrechen, entdeckte Henkel seine Liebe zum Jazz. Mit sechzehn Jahren schenkte ihm die Mutter eine große Wohnung und er wurde Unternehmer, wie er es bezeichnet. Er vermietete Zimmer und fühlte sich als "absolut freier Mann".

Nach der Mittleren Reife absolvierte er auf Wunsch der Mutter eine kaufmännische Ausbildung bei der großen Spedition "Kühn & Nagel". Mit einigen Tricks gelangte er danach an die Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft. Den Eintritt in diese gewerkschaftsnahe Akademie bezeichnet er als richtungsweisend für sein weiteres Leben. Dort lehrten berühmte Männer wie der Rechtswissenschaftler Capelle oder der Ökonom Ortlieb. Den größten Eindruck übte aber der Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf auf ihn aus.

Henkels politisches Interesse galt damals der amerikanischen Politik. Die Popularität von John F. Kennedy hatte auch ihn in den Bann gezogen. Auch in Fidel Castro sah er einen "charismatischen Volksrebellen", bis dieser dann zu seinem Bedauern privates Eigentum verstaatlichte.

Mit 21 Jahren bekam Henkel die Chance, bei IBM in Stuttgart eine Karriere zu beginnen. IBM baute damals die ersten Großcomputer und Henkel verstand es, sich rasch in dieses neue Feld einzuarbeiten. Der amerikanische Mutterkonzern war auf diesem Gebiet bis Anfang der 80-er Jahr praktisch konkurrenzlos und förderte den Nachwuchs, wie kaum ein anderer Konzern. Mit viel Glück und Durchsetzungsvermögen legte Henkel bei IBM eine Bilderbuchkarriere hin. Erst ist er Manager bei IBM in Indien und Sri Lanka. Dann wird er zuständig für weltweite Gewerkschafts- und Mitbestimmungsfragen. Stolz verweist er darauf, das IBM lange und erfolgreich Gewerkschaften und Betriebsräte aus dem Konzern fernhalten konnte. Später wird er IBM-Chef von Deutschland und dann auch Europas.

Nebenbei saß Henkel auch von Anfang an im Vorstand der Treuhand, die bekanntermaßen die Industrie der ehemaligen DDR abwickelte. Dabei kassierte die westdeutsche Industrie im Vorbeigehen Milliardensummen an Subventionen - auf Kosten des Steuerzahlers, versteht sich.

Als Anfang der 90-er Jahre IBM ins Strudeln kam, weil die Konkurrenz aufgeholt hatte und Microsoft das Rennen um das Betriebssystem für Personalcomputer gewann, bewährte sich Henkel darin, unzählige Produktionsstätten von IBM zu schließen. Von den ehemals 90.000 Beschäftigten in Europa blieb nur ein Bruchteil über. Henkel selbst geriet auf den Abschussposten und entschied sich für eine Kandidatur als Präsident beim BDI.

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