Anlässlich des 100. Todestages des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi veröffentlichen wir nachfolgend einen Artikel, der im März 1995 im International Workers Bulletin und anschließend in der Neuen Arbeiterpresse erschienen war.
Eine Würdigung des Lebens und Werks des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi wirft ein Licht auf die Beziehung zwischen Kunst und Politik zweier sehr unterschiedlicher geschichtlicher Perioden: Die Rolle, die Künstler wie Verdi in den großen bürgerlichen nationalen Bewegungen des 18. und 19.Jahrhunderts gespielt haben, steht in scharfem Kontrast zu der Stellung, die Kunst und Künstler in der kapitalistischen Gesellschaft von heute einnehmen.
Schon seit langem hat die bürgerliche Gesellschaft die großen demokratischen Ideale ihrer Geburtsstunde zugunsten einer Ideologie der nackten Jagd nach Reichtümern über Bord geworfen. Die Ideen der allgemeinen Gleichheit und des gesellschaftlichen Fortschritts, die die bedeutenden Künstler in der Zeit der Aufklärung und in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts beflügelten, werden heute zu unerreichbaren Zielen erklärt und zur Zielscheibe von Angriffen und Spott gemacht.
Eine der Hauptursachen für die gegenwärtige Krise der Kunst liegt in der Tatsache, daß der Künstler der heutigen Gesellschaftsordnung keinerlei Inspiration abgewinnen kann, da sie keine fortschrittliche Zukunftsvision bietet.
Giuseppe Verdi war nicht nur ein bedeutender Künstler, sondern Mitte des 19.Jahrhunderts erlangte er auch als politische Persönlichkeit Bedeutung. Außer seinen Liedern, geistlichen Werken, dem bekannten Manzoni-Requiem und einem Streichquartett komponierte er im Laufe seines langen, praktisch das gesamte 19.Jahrhundert umspannenden Lebens 31 Opern. Als er die Proben für die Aufführung seiner letzten Oper Falstaff leitete, stand er in seinem 80. Lebensjahr.
Verdis Geburt fällt in die Zeit, als die bürgerlichen revolutionären Bewegungen in Europa gerade im Entstehen waren. Doch lebte er lange genug, um mitzuerleben, wie aus den demokratischen Idealen der Französischen Revolution die uns heute vertrauten Formen bürgerlicher Herrschaft und kapitalistischer Unterdrückung wurden.
Es gibt eine ganze Reihe von Biographien über Verdi und viele Bücher, die der genauen Untersuchung seiner Opern gewidmet sind. Einige dieser Biographien setzen sich mit beiden Aspekten auseinander und versuchen, Verdi im Rahmen einer bestimmten historischen Periode zu verstehen. Die jüngste Verdi-Biographie stammt von Mary Jane Phillips-Matz, Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des American Institute of Verdi Studies in der New York University( Verdi: A Biography; Oxford University, New York, 1993; 941 Seiten, $45). Diese Biographie ist interessant, aber leider mit minutiösen Details überfrachtet.
Die Autorin hält selbst das nebensächlichste Detail im Leben Verdis fest, in der Hoffnung, dadurch dem Leser und sich selbst den Weg zum Verständnis des Komponisten zu ebnen. Phillips-Matz geht zwar keineswegs über den historischen Zusammenhang hinweg, es fehlt jedoch eine historische Einschätzung, ein Überblick, der Verdis Rolle in den turbulenten Ereignissen des 19.Jahrhunderts und seinen Platz in der Geschichte Italiens zu erklären sucht und nicht einfach eine minutiöse empirische Beschreibung zahlreicher Details liefert.
Der Kampf für die Einheit Italien
Seit dem Niedergang des Römischen Reiches, während des ganzen Mittelalters und auch während der Neuzeit bis zur Gründung des bürgerlichen Staates Italien haben die politischen Entwicklungen auf der italienischen Halbinsel unweigerlich zu einer Zerstückelung geführt. Die verschiedenen gotischen Stämme und später die Lombarden, Franken und Normannen, die nacheinander in das Land einfielen und dabei alle versuchten, die Unterstützung des Vatikans zu gewinnen, versetzten Italien in einen Zustand dauernder Unruhe. In Florenz kam es Ende des 13.Jahrhunderts zu Auseinandersetzungen zwischen den Welfen (Anhänger des Vatikan) und den Gibellinen (Anhänger der deutschen Kaiser), die jahrzehntelang andauerten.
Im 14. und 15.Jahrhundert entstanden die bedeutenden Handelsstädte Florenz, wo die bürgerlichen Welfen schließlich den Sieg davongetragen hatten, Genua und die Venezianische Republik, die alle unter der Herrschaft von Familiendynastien wie den Medici und den Sforzas standen. Der Reichtum ihrer Kaufleute bildete die wirtschaftliche Grundlage für das Aufblühen der Renaissance-Kultur (Leonardo da Vinci, Raphael, Tizian), der Wissenschaft (Galileo Galilei) und der politischen Lehre (Machiavelli).
Die Entdeckung Amerikas Anfang des 16.Jahrhunderts veränderte die Machtverhältnisse und verlagerte das Gewicht weg vom Mittelmeerraum hin zum Atlantik. Die italienischen Städte wurden politisch und wirtschaftlich von weitaus stärkeren europäischen Nationen überholt. Ende des 16.Jahrhunderts schließlich war die italienische Halbinsel in eine Vielzahl von Kleinstaaten zerfallen, die weitgehend den Feudaldynastien der Bourbonen und Habsburger unterworfen waren. Vor der Vereinigung Italiens brauchte Verdi beispielsweise einen Paß, um nach Mailand zu reisen — einer Stadt, die nur einige hundert Kilometer von seinem Wohnort entfernt lag.
Aufgrund dieser Zersplitterung entwickelte sich keine nationale Sprache: es gab nur regionale Dialekte. Der Dialekt, der in der Toskana gesprochen wurde, galt als "richtiges" Italienisch. Der Mann, dem man die "Erfindung" der italienischen Sprache zugute hielt, war der Schriftsteller und Poet Allessandro Manzoni (1785-1873). Sein Werk, in dem er die Sprache italienischer Literatur standardisierte, machte Manzoni zu einer national bedeutenden Persönlichkeit. Seine Schriften waren Ausdruck der ersten Regungen des italienischen Nationalismus, und seine Ode an Napoleon Cinque di Maggio wurde übersetzt und in ganz Europa verbreitet.
Man kann sagen, daß im Kampf für die Einheit und Unabhängigkeit, dem Risorgimento(Wiedererstehen) Italiens — Manzoni für die Literatur genauso bedeutend war wie Verdi für die Musik.
Verdi kam 1813 in dem abgelegenen ländlichen Dorf Roncole, das damals zum Napoleonischen Königreich Italien gehörte, auf die Welt. Nach Napoleons Niederlage in Waterloo überließ der Wiener Kongreß 1815 den Großteil Italiens (mit Ausnahme der päpstlichen Staaten und der Königreiche Piemont und Sardinien) der Königsfamilie Österreichs und ihren nahen Verwandten. Verdis Heimat wurde dadurch zum Herzogtum Parma.
Das turbulente politische Leben, das die Jahrzehnte zu Anfang und Mitte des 19.Jahrhundert prägte, durchdringt Verdis Opern. Zu dieser Zeit übten die Hoffnungen, welche die Französische Revolution und die Anfangsjahre der napoleonischen Eroberungen geweckt hatten, noch immer einen starken Einfluß aus. Die moderne Industriegesellschaft und damit die Arbeiterklasse war im Entstehen. Als Verdi erwachsen war, fand bereits die erste große Rebellion des Proletariats 1830 in Frankreich statt.
Obwohl Verdi keineswegs ein musikalisches Wunderkind war, so war er doch musikalisch außerordentlich begabt. Schon früh begann er zu komponieren und die Werke anderer Komponisten wie z.B. von Haydn für Konzerte zu bearbeiten. Im Alter von 18 Jahren hatte Verdi bereits seinen Weg nach Mailand gefunden, der Kulturhauptstadt Norditaliens, die Italiens bedeutendstes Opernhaus La Scala beherbergt. In Mailand hatte Verdi Zugang zu den kulturellen Kreisen, in denen sich einige der führenden Gegner der Habsburger Monarchie bewegten.
Zu ihnen zählten Schriftsteller und Künstler, die sich regelmäßig im Salon von Andrea und Clara Maffei trafen. Mit Clara Maffei verband Verdi auch später eine besonders enge, lebenslange Freundschaft. In diesem Kreis kam der junge Verdi mit der Bewegung Giovine Italia(Junges Italien) von Giuseppe Mazzini (1805-1872) in Berührung. Mazzini war ein italienischer Nationalist, auf den die Französische Revolution eine große Anziehungskraft ausgeübt hatte. Er strebte eine Gesellschaft an, die, wie er selbst schrieb, "die Verstreuung des Menschen durch eine industrielle Massengesellschaft überwinden" würde. Giovine Italia gründete er als eine revolutionäre Organisation im Sommer 1831 während seines Exils in Marseille.
Im Gegensatz zu Gioacchino Rossini (1792-1868, Der Barbier von Sevilla, Wilhelm Tell), der sich selbst zum letzten Komponisten der Klassik stilisierte, betrachtete Verdi seine Musik als "modern". Viele seiner Opern waren zur damaligen Zeit umstritten. Sie widerspiegelten den ganzen Haß, den Verdi gegenüber der Unterdrückung, Heuchelei und Arroganz der österreichischen Aristokratie und des Vatikans empfand.
Die Aufführung einer neuen Oper von Verdi wurde zum Anlaß politischer Demonstrationen. Wenn Straßenorchester eine seiner Melodien spielten, oder Sänger eine seiner Arien öffentlich improvisierten, so betrachteten die italienische Bevölkerung und die österreichischen Behörden dies gleichermaßen als eine Äußerung politischer Opposition. Die unterdrückten Massen bemächtigten sich seiner Musik und machten sie zu ihrer eigenen.
Phillips-Matz schreibt: "Verdis Choräle in Nabucco und in Die Lombarden verliehen dieser Bewegung eine Stimme. Die Anspielung auf Pius IX. und der Chor in Ernani rissen die Zuhörer zu Demonstrationen hin, selbst wenn diese von der Polizei ausdrücklich verboten waren. Auch die Oper Attila drückte Verdis patriotische Gesinnung aus und enthält sehr gefühlsbetonte Zeilen."
Feindschaft gegen die Kirche und jede Form von Unterdrückung
Sein Antiklerikalismus und seine nationalistischen Gefühle führten dazu, daß die österreichischen Behörden Verdi genau beobachteten. Die Zensoren des Regimes versuchten dauernd, ihm in den Inhalt seiner Werke hineinzupfuschen. Viele, auch seine zweite Frau Giuseppina Strepponi, betrachteten Verdi als Atheisten, obwohl er selbst niemals zugab, Atheist zu sein.
In dem ihr eigenen humorvollen Stil beschrieb seine Frau einmal in einem Brief Verdis religiöse Überzeugungen:
"Und doch erlaubt dieser Pirat es sich — ich würde nicht gerade sagen, Atheist zu sein, sicherlich jedoch, kein überzeugter Gläubiger zu sein, und all das mit einer Sturheit und Ruhe, für die man ihn am liebsten verdreschen würde. Ich erzähle also weiter über die Wunder des Himmels, der Erde, der Meere usw. usf. Er lacht mir offen ins Gesicht und läßt mich mitten in meinem Ausbruch ausgesprochen göttlicher Begeisterung erstarren, indem er sagt: `Du spinnst ja!' und leider sagt er das auch noch in tiefer Überzeugung."
Betrachtet man sein berühmtes Requiem genauer, das er zu Ehren von Manzoni geschrieben hat, so sieht man, wie sehr Verdi die vatikanische Vorstellung des Allmächtigen ablehnte. Sein Werk hat fast nichts mit der musikalischen Form einer Messe gemeinsam; stattdessen wird es zu einer ausgesprochen weltlichen Komposition, einem Loblied auf den Dichter Manzoni, den die Kirche als "Revolutionär" gebrandmarkt hatte. Verdis Gottesvorstellung, wenn er überhaupt an einen Gott glaubte, hatte mit dem "Lamm Gottes" der katholischen Kirche jedenfalls nichts zu tun. Vielmehr handelte es sich um eine erbarmungslose und gemeine Gottheit, der man sich unterwürfig zu Füßen werfen und die man um Gnade anflehen mußte. Immer wieder ertönt das "Salva me!" (Errette mich!) im Requiem, ebenso das "Dies Irae" (Tag des Zorns). Es erübrigt sich zu erwähnen, daß der Vatikan nicht damit einverstanden war, das Requiem als geistliches Werk anzuerkennen.
Verdi war kein Sozialist, obwohl er im italienischen Parlament, dessen Abgeordneter er widerwillig geworden war, seinen Sitz im linken Flügel hatte. Als er noch jung war, erkannte man ihn daran, wie er seinen Bart trug: à la Mazzini.
Eine seiner weniger bekannten Opern, Il Corsaro , komponierte Verdi während seines Aufenthalts in Paris 1848, wo er Zeuge des Volksaufstands und der darauf folgenden blutigen Konterrevolution wurde. Als er vom Aufstand in Mailand gegen die Besetzung durch die Habsburger hörte, schrieb er an seinen Librettisten Francesco Piave:
"Du kannst Dir sicher selbst vorstellen, ob ich in Paris bleiben wollte, nachdem ich von der Revolution in Mailand gehört hatte. Ich bin abgereist, kaum hatte ich die Neuigkeit erfahren; aber das einzige, was ich noch zu sehen bekam, waren die gewaltigen Barrikadenbauten (und nicht mehr der Kampf). Ehre gebührt diesen Helden! Ehre gebührt ganz Italien, das nun wahrhaft groß ist!...
Und da sprichst Du mir noch über Musik!! Was ist mit Dir geschehen? Denkst Du, ich will mich nun mit Noten abgeben, mit Klängen? 1848 kann es keine andere Musik geben, die von italienischen Ohren willkommen geheißen wird, außer der Musik der Kanonen! Auch um alles Geld in der Welt würde ich jetzt keine einzige Note komponieren!....."
Verdi war erschüttert von der Niederlage des kurzlebigen Mailänder Aufstands und vom Tod einiger der jungen Kämpfer, die der Komponist in Mailand kennengelernt hatte. Er schimpfte über die Komplizenschaft der großen europäischen Mächte:
"Nein, nein, nein: Wir können nichts von Frankreich oder England erwarten; und — was mich betrifft — wenn ich mir etwas erhoffe...weißt Du, worauf ich meine Hoffnung setze? Auf innere Aufstände in Österreich selbst. Etwas Ernstes muß sich dort entwickeln; und wenn wir den richtigen Moment zu nutzen wissen und Krieg mittels eines Aufstandes führen, wie wir es hätten machen sollen, so kann Italien immer noch frei werden. Aber Gott bewahre uns davor, unser Vertrauen auf Könige oder andere Staaten zu setzen."
25 Jahre später, wieder in Paris, konnte man Verdi nach der blutigen Unterdrückung der Pariser Kommune traurig durch die zerstörten Arbeiterviertel gehen sehen.
In den 50er Jahren des 18.Jahrhunderts komponierte Verdi die erste seiner wirklich großartigen und immer noch beliebten Opern. Wie bei seinen früheren Opern, vor allem bei Luise Miller, waren die von Verdi gewählten Themen ziemlich umstritten. Oft handelte es sich um tragische Geschichten aus dem Leben einfacher Menschen, die nicht immer "gut" waren.
Verdi war sehr sorgfältig bei der Wahl des Gegenstands seiner Opern; er übernahm literarische Werke von etlichen großen und bekannten Dichtern der damaligen Zeit wie von Victor Hugo ( Ernani, Rigoletto), Alexandre Dumas (La Traviata) und Friedrich Schiller(Don Carlos). Verdi hatte eine besondere Vorliebe für Shakespeare und er komponierte drei Opern, die sich auf Werke dieses bedeutendsten Schriftstellers der Elisabethanischen Zeit gründeten(Macbeth, Othello, Falstaff).
Die Oper in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts
Die Welt der Oper hatte sich Mitte des 19.Jahrhunderts drastisch verändert. Rossini komponierte schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Vincenzo Bellini (1801-1835) verstarb früh und Gaetano Donizetti (1797-1848) war bereits in der Versenkung verschwunden. Verdis Haupt"rivale" war zunächst Giacomo Meyerbeer (1791-1864), ein Komponist, der in der Tradition der französischen "Grand Opera" stand. In den 40er Jahren des 18.Jahrhunderts trat dann plötzlich Richard Wagner (1813-1883) auf die Bühne.
Obwohl Verdi großartige Orchestermusik für Opern komponierte, war er entschieden gegen schwere oder symphonische Orchestrierung, die vom Gesang ablenken würde. Das war der einzige Grund, warum Verdi ein inbrünstiger Gegner des Wagnerschen Stils war, obwohl er das enorme musikalische Talent des deutschen Komponisten sehr wohl respektierte. Als Verdi vom Tod Wagners erfuhr, schrieb er:
"Traurig! Traurig! Traurig! Wagner ist tot!! Als ich die Nachricht gestern las, war ich wirklich entsetzt! Sprechen wir nicht davon! Ein großartiger Individualist ist gegangen! Ein Mann, der die Geschichte der Kunst ganz gewaltig geprägt hat!! Addio Addio."
Verdi war gegen jegliches Systematisieren von Opernkompositionen, etwa durch eine wiederkehrende musikalische Phrase oder ein kurzes Thema, das mit einer bestimmten Person, Situation oder Idee assoziiert war, d.h. durch musikalische Figuren, die Wagner "Leitmotiv" nannte. Darum wurde Verdi wütend, wenn Kritiker behaupteten, er habe Wagners Stil nachgeahmt. Als er eine Kritik seiner Oper Don Carlos gelesen hatte, schrieb Verdi:
"Also bin ich ein fast perfekter Vertreter der Wagnerschen Schule! Aber wenn die Kritiker auch nur ein bißchen aufgepaßt hätten, dann wäre ihnen aufgefallen, daß das Ernani-Trio, die Schlafwandlerszene des Macbeth und viele andere Stücke in dieselbe Richtung gehen. Aber die Frage ist nicht, ob Don Carlos zu irgendeinem System gehört, sondern ob die Musik gut oder schlecht ist."
Für Verdi bedeutete Kunst nicht einfach, der Realität einen Spiegel vorzuhalten. Vielmehr bestand für ihn die Funktion der Kunst darin, jenseits der oberflächlichen Erscheinung in die Tiefe zu gehen und die Zwänge, die der Kunst durch die Konventionen der jeweiligen geschichtlichen Periode auferlegt werden, zu überwinden. Verdi erklärte:
"Die Wirklichkeit nachzuahmen, kann eine gute Sache sein, aber die Wirklichkeit erfinden, ist besser, viel besser. Es scheint einen Widerspruch zu geben zwischen diesen drei Worten: die Wirklichkeit erfinden. Aber befragt Papa Shakespeare darüber. Es kann ja sein, daß Papa Shakespeare tatsächlich einen Mann wie Falstaff gekannt hat, aber er hätte wohl alle Schwierigkeiten gehabt, einen Bösewicht von derartiger Boshaftigkeit wie Jago zu finden und niemals — wirklich niemals — hätte er Engel wie Cordelia, Imogen, Desdemona usw. in der Realität antreffen können, und doch sind sie so wirklich!
Die Wirklichkeit nachzuahmen, ist eine schöne Sache, aber das ist Photographie und nicht Malerei."
Obwohl Verdi zum Symbol der Einheit Italiens geworden war, betrachtete er im Alter die Folgen dieser Einheit mit zunehmender Ernüchterung. Als Italien 1882 die Dreierallianz mit Deutschland und Österreich bildete, war Verdi überaus enttäuscht. Eine derartige Allianz, vor allem zusammen mit dem Deutschland Bismarcks, war für ihn ein Greuel. Darüberhinaus litt der neue italienische Staat unter einer Wirtschaftskrise und wachsenden Klassenkämpfen. Die Industrialisierung des Nordens und die Einführung neuer landwirtschaftlicher Methoden vertiefte die immer schärfere Kluft zwischen dem Norden und dem verarmten Süden. Sie löste schließlich die große Auswanderungswelle von Süditalienern in die Vereinigten Staaten und nach Südamerika aus.
Am Morgen des 21. Januar 1901 erlitt Verdi, der nun in Mailand wohnte, einen Schlaganfall. Bis zu seinem Tod am Nachmittag des 27. Januar lag er unheilbar im Koma. Seinem Tod folgte eine wahre Flut von Beileidsbekundungen, von Demonstrationen der Anerkennung und Zuneigung, wie sie in diesem Ausmaß keiner anderen Persönlichkeit im damaligen Europa zuteil geworden ist. Am Morgen der Trauerfeierlichkeiten füllten an die 200.000 Menschen die Straßen. Die Geschäfte in Mailand blieben für drei Tage geschlossen und auch die Theater und Varietés in ganz Italien wurden geschlossen.
Bei einer offiziellen Gedenkfeier einen Monat später erwiesen über 300.000 Menschen dem Maestro die letzte Ehre. Auf dieser Feier dirigierte Arturo Toscanini, ein vielversprechender junger Dirigent, einen Chor mit 820 Sängern, der ausgewählte Stücke aus Verdis Opern Nabucco und Der Troubadour vortrug. Die Zeitung L'illustrazione italia vermerkte, daß bei dem Trauerzug, der die Särge von Verdi und Strepponi zu ihrer endgültigen Ruhestätte geleitete, kein Priester anwesend war.
Die Autorin schreibt am Ende ihrer Buches über Verdi: "Von ihm könnte man sagen: nicht er lebte im 19.Jahrhundert, sondern das 19.Jahrhundert lebte in ihm."
Sie bringt damit eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck.
Mary Jane Phillips-Matz hat ein erschöpfendes und anregendes Werk geschaffen, aus dem der Leser trotz seiner Mängel viel über den Menschen Verdi, über diejenigen, die ihm nahe standen und über den geschichtlichen Zeitraum erfährt.