Die US-Armee bombardiert weiterhin gnadenlos das Gebiet von Tora Bora in Afghanistan, nachdem sie letzte Woche eine Kapitulationsvereinbarung der afghanischen Milizenführer mit den in den Höhlenkomplexen der felsigen Bergregion eingeschlossenen Taliban-Kämpfern sabotiert hatte. Die USA behaupten, sie hätten Osama bin Laden und andere hohe al-Qaida-Mitglieder in die Enge getrieben, und führen in der Region eine systematische Schlächterei durch.
Auf Druck von Washington haben Tausende pakistanische Truppen mit Hilfe von bewaffneten Hubschraubern die afghanische Grenze abgeriegelt, um jeden Fluchtweg abzuschneiden. Auf dem Boden beteiligen sich etwa 300 amerikanische und britische Spezialeinheiten an der Seite von drei Milizgruppen an der Jagd nach al-Qaida-Mitgliedern. In der Luft haben die USA ihre massive Feuerkraft auf das Gebiet von Tora Bora konzentriert. Sie setzen dabei auch hochentwickelte Bomben zur Zerstörung von Bunkern ein, um die Höhlen zu verschütten oder zu zerstören und jede Opposition zu vernichten.
Laut jüngsten Berichten haben die von den USA unterstützten Milizen mehrere Höhlenkomplexe erobert. Hunderte Taliban-Kämpfer sollen auf der Flucht sein. Ein Milizkommandeur sagte, sie hätten viele Leichen gesehen, die "von den Bomben in Stücke gerissen seien". Einem Bericht der BBC zufolge sagte ein anderer Milizenführer, Hazrat Ali, seine Truppen hätten 200 al-Qaida-Kämpfer getötet und 35 gefangen genommen.
Vergangene Woche hatten Ali und andere Milizkommandeure versucht, über eine Aufgabe mit ihren Gegnern zu verhandeln, um die wochenlangen Bombenangriffe der USA zu beenden, die schon Dutzenden Dorfbewohnern das Leben gekostet und Tausende zur Flucht aus der Region gezwungen hatten. Aber am 12. Dezember, als ein Abkommen kurz bevor zu stehen schien, intervenierten US-Militärberater, um die Vereinbarung zu blockieren und ihre afghanischen Verbündeten unter Druck zu setzen, die Angriffe weiterzuführen. Ali kommentierte bitter: "Die Amerikaner wollen ihre Kapitulation nicht akzeptieren. Sie wollen sie töten."
Den Milizführern blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Diese Gruppen bestehen weitgehend aus schlecht bewaffneten und ausgerüsteten Bauern, die von örtlichen Warlords angeführt werden, die vor allem an der riesigen Belohnung von 25 Millionen Dollar interessiert sind, die die USA auf den Kopf von bin Laden ausgesetzt haben. Die Kämpfer selbst sind kaum mehr als Kanonenfutter für die US-Operation. Eine Anzahl von ihnen sind schon durch fehlgelenkte Luftschläge umgekommen.
Die International Herald Tribune berichtete, dass es einem Teilnehmer zufolge mehrere Verhandlungsrunden von je etwa einer halben Stunde gegeben habe, und dass der führende Unterhändler der USA ein Zivilist mittleren Alters gewesen sei. "Die Amerikaner haben starken Druck auf uns ausgeübt. Schließlich stimmten die Kommandeure wenn auch zögernd zu, die Angriffe auf al-Qaida fortzusetzen," erklärte die nicht genannte afghanische Quelle des Herald.
Der Kapitulationstermin am 12. Dezember verstrich ebenso wie ein weiterer am nächsten Tag. Der Grund war zumindest teilweise, dass die Amerikaner sich weigerten, die Bombardierungen zu unterbrechen. Die Pentagon-Sprecherin, Victoria Clarke, erklärte: "Die Bombardierungen werden weitergehen. Es gab keine Pause, es gibt keine Pause. Wenn wir Ziele entdecken, werden wir sie verfolgen." Der Feldkommandeur der Milizen Amin Jan erklärte ärgerlich, dieses Blutvergießen hätte vermieden werden können. "Sie [die al-Qaida-Kämpfer] hätten sich gerne ergeben. Sie zündeten nachts Feuer an und hatten die Zusicherung erhalten, frei abziehen zu können. Aber als die Bombardierungen wieder einsetzten, waren sie verunsichert... [Jetzt] ist es für sie unmöglich, sich uns zu ergeben."
Der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld stritt dreist ab, die USA hätten sich gegen eine Kapitulation gestellt. "Natürlich wollen wir, dass sie sich ergeben und gefangen genommen und verhört werden können, damit wir mehr über ihre Organisation und ihre Pläne in anderen Ländern erfahren können," sagte er. Aber er machte auch klar, dass es keine Verhandlungen geben werde und dass die Kapitulation bedingungslos sein und vor den US-Truppen stattfinden müsse.
Die Taliban-Kämpfer, besonders die Nicht-Afghanen unter ihnen, hatten guten Grund, um ihr Leben zu fürchten, wenn sie sich amerikanischen Truppen oder den von ihnen unterstützten Milizen ergaben. Hunderte Taliban-Kriegsgefangene waren letzten Monat nach einem angeblichen Aufstand in der Festung Kala-i-Dschangi bei Masar-i-Scharif niedergemetzelt worden. Ausländische Kämpfer in Tora Bora waren daher nur bereit, sich UN-Truppen in Gegenwart von Diplomaten ihrer Heimatländer zu ergeben.
Die USA haben wiederholt darauf bestanden, dass jeder gefangene al-Qaida-Führer oder -Kämpfer unter ihre Kontrolle kommt. Aber die Größe des Gefangenenlagers, das US-Marines gebaut haben, unterstreicht, dass die Bush-Regierung sie lieber tot sieht. Die Zahl der al-Qaida-Truppen in der Tora Bora Region wird auf bis zu 2000 geschätzt, während das amerikanische Gefangenenlager nur für maximal 300 Insassen ausgelegt ist.
Auch die Auswahl der amerikanischen Sondereinheiten in Tora Bora weist darauf hin, dass Washington die meisten al-Qaida-Kämpfer getötet sehen will. Neben den Teams zur Aufklärung von Luftzielen wurden spezialisierte "Zielfahndungsteams", die dazu ausgebildet sind, einzelne Personen gefangen zu nehmen oder zu töten, und Scharfschützen mit weitreichenden Gewehren in die Region entsandt.
Die US-Luftwaffe nutzt Tora Bora als Testgebiet für ihre neuesten Entwicklungen, besonders sogenannte Bunker sprengende Bomben, die stark befestigte Positionen angreifen können. Eine neue Cruise Missile - die AGM-86D - ist in der Lage, ihre Umgebung wahrzunehmen und in einer vorher eingestellten Tiefe zu explodieren, was die Durchschlagskraft gegenüber früheren Waffen verdoppeln soll. Das amerikanische Militär setzt auch eine israelische Entwicklung ein, die AGM 142, die ferngesteuert in die Öffnungen von Höhlen gelenkt wird.
Bis zum 12. Dezember hat die US-Luftwaffe ungefähr 1,8 Millionen kg Explosivstoffe über der Region von Tora Bora abgeworfen - dreimal soviel wie für die Bombardierung der Stadt Dresden 1945 eingesetzt worden war. Seither wurde die Bombardierung noch durch den Einsatz von B-52- und B-1-Bombern und Maschinen von Flugzeugträgern verstärkt. Mehrere massive Benzinbomben - 7,5 Tonnen schwere Daisy Cutters - wurden ebenfalls abgeworfen. AC-130 Kampfhubschrauber wurden eingesetzt, um versteckte Soldaten ins Offene zu treiben.
Rumsfeld, der gerade eine Tour durch Zentralasien machte und einen kurzen Zwischenstopp in Afghanistan einhielt, prahlte vor dem ihn begleitenden Journalistentross, dass 400 Bomben in nur zwei Tagen über Tora Bora abgeworfen worden seien. "Das war sehr schwer, und offensichtlich zeigt es Wirkung," rief er begeistert aus. Nachdem sie die Talibankämpfer in die Enge getrieben und eine Kapitulation durch ihr Veto verhindert haben, führen Rumsfeld und die Militärspitze jetzt ein einseitiges Massaker, und keine militärische Kampagne mehr durch.