Daniel Barenboim dirigiert Wagner in Israel

Ein Konzert, das am 7. Juli in Jerusalem stattfand, sorgte in Israel für Tumulte und auf der ganzen Welt für Schlagzeilen. Es handelte sich um den Gastauftritt der Staatskapelle Berlin unter Leitung von Daniel Barenboim.

Barenboim, der seine Jugendjahre in Israel verbracht hat, dirigierte Richard Wagners Ouvertüre zu Tristan und Isolde als Zugabe zum regulären Programm. Dies provozierte wütende Reaktionen und Beschimpfungen aus einem Teil des Publikums sowie harsche Kritik aus dem gesamten politischen Spektrum Israels in den darauffolgenden Tagen.

Seit der Gründung des zionistischen Staats vor über fünfzig Jahren herrscht die stillschweigende Übereinkunft, dass in der Öffentlichkeit keine Wagnermusik gespielt wird. Der Musikrevolutionär aus dem 19. Jahrhundert war auch ein notorischer Antisemit. Da er Hitlers Lieblingskomponist war, wurden sein Ruf und Name von den Nazis fünfzig Jahre nach seinem Tod für ihre Zwecke benutzt.

Wagnermusik ist in den Ohren vieler Holocaust-Überlebender bis heute unweigerlich mit dem Naziregime verbunden, weil dieses bei zeremoniellen Anlässen ständig Wagner spielen ließ. Gleichzeitig dient das Wagnertabu in Israel nationalistischen Zielen. Das zionistische Establishment nutzte das für seine eigenen politischen Zwecke aus.

Barenboim, der 58-jährige weltbekannte Pianist und Dirigent, ist heute sowohl Leiter des Chicago Symphony Orchestra als auch der Staatsoper Berlin. Zuvor hatte er das Orchestre de Paris und die Pariser Oper geleitet. Als langjähriger Gegner des Wagnerverbots hat er in der Vergangenheit mit musikalischen und politischen Kapazitäten über diese Frage gestritten. Erst vor kurzem gab das Israel-Festival in Jerusalem Pläne bekannt, im diesjährigen Veranstaltungsprogramm eine Aufführung des ersten Akts der Wagneroper "Die Walküre" unter der Leitung von Barenboim aufzunehmen. Als Proteste dagegen laut wurden, willigte Barenboim zögernd ein, das Programm zu ändern und anstelle von Wagner Schumanns Vierte Symphonie und Strawinskis "Sacre du printemps" zu spielen.

Doch als Barenboim am 7. Juli für eine zweite Zugabe auf die Bühne trat, fragte er das Publikum, ob es gerne Wagner hören würde. "Trotz allem, was die Leitung des Israel-Festivals glaubt, gibt es Leute im Publikum, für die Wagner nicht unmittelbar Assoziationen zu den Nazis hervorruft," sagte Barenboim. "Ich respektiere all diejenigen, für welche diese Assoziationen bedrückend sind. Es ist wohl demokratisch, wenn ich Wagner als Zugabe für diejenigen spiele, die es gerne hören würden. Ich wende mich also an Sie mit der Frage, ob ich Wagner spielen kann."

Es folgte eine dreißigminütige Debatte, in der einige Zuhörer Barenboim anschrieen und einen "Faschisten" nannten. Dutzende verließen den Saal und schlugen die Türen hinter sich zu, aber die große Mehrheit blieb sitzen und bedachte die Darbietung mit einer begeisterten Ovation. Barenboim übernahm die volle Verantwortung für diese Aktion und erklärte: "Wenn Sie wütend sind, seien Sie es über mich, aber bitte schimpfen Sie nicht über das Orchester oder die Festival-Direktion."

Barenboim wurde sofort von Israels Ministerpräsident Ariel Sharon, dem Bürgermeister von Jerusalem Ehud Olmert, dem Präsidenten Moshe Katsav und anderen angegriffen. Olbert, ein führendes Mitglied der rechten Likud-Partei, nannte Baremboims Vorgehen "schamlos, arrogant, unsensibel und kulturlos" und drohte damit, ihn von allen zukünftigen kulturellen Ereignissen in der Stadt auszuschließen.

Barenboim hat seinerseits niemals ein Blatt vor den Mund genommen, wenn es um Wagner und die Fragen ging, die sein Werk aufwirft. In einer Diskussion mit dem bekannten palästinensischen Schriftsteller und Intellektuellen Edward Said, die auf Barenboims Website steht [www.daniel-barenboim.com/journal/wagner.htm], betont der Dirigent die Widersprüche in Wagner und seinem Werk: "Zuerst einmal ist da Wagner, der Komponist. Dann Wagner als Schreiber seiner eigenen Librettos - mit anderen Worten, all das was mit der Musik zu tun hat. Dann Wagner, der Autor, der über künstlerische Fragen schreibt. Dann gibt es noch Wagner, den politischen Schriftsteller - in diesem Fall hauptsächlich der antisemitische politische Schriftsteller. Das sind vier verschiedene Aspekte seiner Arbeit."

In einer längeren Diskussion, die hier nur zum Teil zusammengefasst werden kann, besteht Barenboim darauf, Wagners Antisemitismus weder zu ignorieren, noch ihn einfach mit seiner Musik gleichzusetzen, und betont zudem, dass Wagners Ansichten, so "ungeheuerlich" sie auch sind, nicht identisch mit dem sind, was die Nazis aus Wagner gemacht haben. Er besteht zu Recht darauf, die Widersprüche in Wagners Werk aktiv zu untersuchen, anstatt seine Musik in eine nationale oder politische Zwangsjacke zu stecken.

"Ich glaube, es ist recht offensichtlich, wie monströs Wagners antisemitische Ansichten und Schriften sind," sagt Barenboim. "Und ich muss sagen: wenn ich mir in naiv-sentimentaler Weise überlege, mit welchem der großen Komponisten der Vergangenheit ich vierundzwanzig Stunden verbringen möchte, wenn ich könnte - dann kommt mir Wagner nicht in den Sinn. Ich würde sehr gerne vierundzwanzig Stunden mit Mozart verbringen; ich bin sicher, das wäre sehr unterhaltsam, vergnüglich und lehrreich; aber Wagner... Ich würde ihn vielleicht zum Essen einladen, um ihn zu studieren, aber nicht zur Unterhaltung. Wagner als Person ist absolut erschreckend, verabscheuungswürdig und irgendwie schwer mit seiner Musik in Einklang zu bringen, die so oft genau die entgegengesetzten Gefühle ausdrückt... Edelmut, Großmut usw."

Barenboim weist darauf hin, dass Arturo Toscanini, ein anerkannter Gegner des Faschismus, der sich wegen der Nazis weigerte, in Bayreuth aufzutreten, in den dreißiger Jahren mit dem damaligen Palästinensischen Philharmonischen Orchester Wagner aufführte, ohne dass sich jemand daran störte. Erst nach der Reichspogromnacht von 1938 in Deutschland entschied das Orchester, Wagner wegen seiner Beziehungen zum Hitler-Regime nicht mehr zu spielen.

Mit Hinweis auf diesen Ursprung des Wagner-"Verbots" schlug Barenboim vor, Wagner auf Nicht-Abonnementskonzerten der Israelischen Philharmonie zu spielen, so dass jeder, der seine Musik hören will, eine Karte für ein bestimmtes Konzert kaufen könne. "Die Tatsache, dass das nicht zugelassen wurde, drückt eine Art politischen Missbrauch und alle möglichen Vorstellungen aus, die nichts mit Wagners Musik zu tun haben," erklärt Barenboim.

Der aus Argentinien stammende Pianist und Dirigent ist eine bedeutende zeitgenössische Persönlichkeit der Musikszene und ein Intellektueller, der Interessantes zur Beziehung zwischen Musik, Geschichte und der ganzen Gesellschaft zu sagen hat. In einem kürzlich in der New York Review of Books erschienen Artikel greift Barenboim die modische Identitätspolitik und den kulturellen Nationalismus an.

"Meiner Ansicht nach kann niemand zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts glaubhaft eine einzige Identität beanspruchen. Eine Schwierigkeit unserer Zeit besteht darin, dass die Leute ihr Interesse auf immer kleinere Fragen beschränken, und dass sie oft keinen Sinn dafür haben, wie die Dinge miteinander verbunden und Teil eines Ganzen sind....

Ich betrachte die Frage der Identität sowohl als Musiker wie auch aus der Perspektive meiner eigenen Geschichte. Ich wurde in Argentinien geboren, meine Großeltern waren russische Juden, ich bin in Israel aufgewachsen und habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens in Europa verbracht. Ich denke in der Sprache, die ich in einem gegebenen Moment gerade spreche. Ich fühle deutsch, wenn ich Beethoven dirigiere, italienisch, wenn ich Verdi dirigiere. Das gibt mir durchaus nicht das Gefühl, mir selbst untreu zu sein; ganz im Gegenteil. Die Erfahrung, verschiedene Musikstile zu spielen kann ausgesprochen aufschlussreich sein..."

Es ist Barenboim zugute zu halten, dass er zionistische Dogmen nicht unkritisch akzeptiert. Viele Vertreter des zionistischen Establishments können seine Freimütigkeit nicht ausstehen, die ihnen umso unangenehmer ist, als er in kulturellen und intellektuellen Kreisen hoch angesehen ist. Seine Freundschaft mit Edward Said ist vielen ein Dorn im Auge, und seine liberale internationalistische Haltung und seine offen geäußerte Ablehnung jeglichen Nationalismus‘ disqualifiziert ihn in ihren Augen. Barenboims Einstellung ist in mancherlei Hinsicht dem liberalen Humanismus des verstorbenen Yehudi Menuhin ähnlich, dessen Vater ein bekannter Antizionist war.

Barenboim unterstützt eine "Zweistaatenlösung" des israelisch-palästinensischen Konflikts. Er glaubt, dass der zionistische Staat irgendwie vom Chauvinismus befreit werden könne, und stimmt nicht damit überein, dass der Chauvinismus ein untrennbarer Bestandteil der zionistischen Ideologie selbst ist. Trotzdem will Barenboim offensichtlich nichts mit der scharfen Rechtswendung in Israel zu tun haben und hat mit seiner Aufführung von Wagner und seinen öffentlichen Äußerungen zu dem Thema wichtige Fragen aufgeworfen.

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