Vor zweiunddreißig Jahren, am 16. Oktober 1968, erschütterte eine Aktion von zwei schwarzen amerikanischen Sprintern bei den Olympischen Spielen in Mexiko die Sportwelt. Bis heute ist sie ein Symbol für den Kampf gegen Unterdrückung geblieben.
Tommie Smith und John Carlos, die Gold und Bronze im 200-Meter-Lauf der Männer gewannen, nahmen ihre Plätze auf der Siegertreppe zur Verleihung der Medaillen barfuß ein. Sie trugen Anstecker der Bürgerrechtsbewegung, senkten die Köpfe und hoben herausfordernd ihre Faust, als die Nationalhymne der Vereinigten Staaten gespielt wurde.
Der Protest der zwei Athleten, die Mitglieder des Olympischen Projekts für Menschenrechte waren, richtete sich gegen den Rassismus in den Vereinigten Staaten und die Heuchelei der amerikanischen Regierung in Bezug auf die Menschenrechte. Ihre Tat gewann die Sympathie und den Respekt von unzähligen jungen Menschen, unter ihnen auch der Autor dieses Artikels.
Die Haltung von Carlos und Smith wurde allgemein als Kampfansage an die Mächtigen in Amerika verstanden. Offizielle Olympia-Vertreter und amerikanische Politiker fühlten sich mit Sicherheit bedroht. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) forderte eine disziplinierende Maßnahme. 30 Stunden nach ihrer Protestaktion wurden die Athleten vom Olympischen Komitee der Vereinigten Staaten (USOC) gesperrt und in ein Flugzeug zurück nach Amerika gesetzt.
Nachdem Carlos und Smith gesperrt worden waren, trugen der australische Sprinter Peter Norman, der den zweiten Platz im 200-Meter-Lauf belegt hatte, und Martin Jellinghaus, ein Mitglied des deutschen 4x400-Meter-Staffellauf-Teams, das Bronze gewonnen hatte, ebenfalls den Anstecker des "Olympischen Projekts für Menschenrechte" bei den Spielen, um ihre Solidarität mit den beiden verbannten amerikanischen Sprintern zu zeigen.
Bei den diesjährigen Olympischen Sommerspielen in Sydney hinterließ der Auftritt des amerikanischen 4x100-Meter-Staffellauf-Teams der Männer nach ihrem Sieg ebenfalls eine bleibende Erinnerung. Diese Vorstellung hatte allerdings einen ziemlich anderen Charakter. Die Goldmedaillengewinner - Maurice Greene, Jon Drummond, Brian Lewis und Bernard Williams - erzeugten nach ihrem Sieg eine Zirkusatmosphäre, die ebenso grob wie rückständig war. Sie warfen sich in die Brust, führten ihre Muskeln vor und machten ihre Faxen vor der versammelten Menge. Als Greene auf der Siegertreppe stand, spielte er weiter den Clown und streckte wiederholt und für alle Kameras die Zunge raus. Das allgemeine Verhalten dieser Sprinter - wie sie sich gegenüber ihren Gegnern aufspielten, ihre höhnische und eingebildete Art - war das Gegenteil von dem, was die Olympischen Spiele eigentlich bedeuten sollten: internationale Freundschaft und Solidarität.
Die Behandlung, die die Mitglieder dieses 2000-er Staffelteams erfuhren, war bedeutend anders als jene, der Carlos und Smith ausgesetzt waren. Am 13. Oktober gab der Leichtathletikverband der Vereinigten Staaten (USATF) eine Entschuldigung im Namen der vier Sprinter heraus und kündigte an, neue Richtlinien auszugeben, um solch "bedauerliche" Vorstellungen für die Zukunft zu verhindern.
Vertreter des USATF gaben bekannt, dass der Zwischenfall in Sydney deshalb "besonders beunruhigend" sei, weil Drummond, Williams, Lewis and Greene "bewusste Repräsentanten der amerikanischen Leichtathletik und stolze Amerikaner" seien. Ein Sprecher des Verbandes erklärte, dass die vier Sprinter für ihr Verhalten nicht bestraft würden.
Die vier Sprinter waren nicht die einzigen Athleten, die sich respektlos gegenüber ihren Rivalen benahmen. Der amerikanische Hürdenläufer James Carver streckte beim Vorlauf arrogant seinen Arm zurück, um seine Gegner zum Mithalten anzustacheln, wenn er an ihnen vorbeizog. Die Schwimmerin Amy van Dyken spuckte wiederholt vor dem Start in die Bahnen ihrer Gegnerinnen. Das Basketballteam der Männer, "Dream Team III" genannt, behielt die Tradition des Beschimpfens und Verhöhnens ihrer Konkurrenten bei.
Wie beurteilt man die deutlichen Unterschiede im Verhalten der olympischen Athleten von 1968 und heute? Ist der Niedergang im Verhalten einfach auf die unterschiedlichen Individuen zurückzuführen oder sind deren subjektive Qualitäten mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden?
Die Aktion von Carlos und Smith entsprang einem bestimmten sozio-politischen Umfeld, einer Radikalisierung breiter Schichten in den späten 60-er Jahren, die besonders junge Menschen erfasste. Die beiden waren zweifellos beeinflusst von der Bürgerrechtsbewegung, den städtischen Unruhen, der massenhaften Opposition gegen den Vietnamkrieg und der Ausbreitung von verschiedenen radikalen Ideologien - vom Maoismus bis zum schwarzen Nationalismus.
Die späten 60-er Jahre waren eine Periode der politischen Krise und Unruhe in Amerika und international. Der Generalstreik in Frankreich im Mai/Juni 1968 war eine der größten Mobilisierungen der Arbeiterklasse in der Geschichte. In den Vereinigten Staaten brachen von 1964 bis 1967 Aufstände in den großen Städten aus. Enttäuschung über die Unfähigkeit der Bürgerrechtsbewegung, die Probleme der Armut und rassistischen Diskriminierung zu lösen, führte zum Anwachsen der Black-Power-Bewegungen, wie der Black Panther Party. Im April 1968, nur sechs Monate vor den Olympischen Spielen, brachen in über 100 Städten gewalttätige Unruhen aus, nachdem der Führer der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King Jr. ermordet worden war.
Die Periode wurde beherrscht von einer Protestpolitik, die auf der Illusion beruhte, dass die Regierung dazu gezwungen werden könnte, den Willen der Bevölkerung auszuführen. Nichtsdestotrotz waren Millionen Menschen zu Opfern bereit, weil sie die Welt zum Besseren verändern wollten.
Dieses massenhafte Aufbegehren wurde von den Stalinisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbürokraten verraten. Ihre Handlungen gaben der herrschenden Klasse, die von solchen Figuren wie Thatcher und Reagan geführt wurde, die Möglichkeit zur Gegenoffensive. Der langwierige Niedergang der alten Arbeiterorganisationen, verbunden mit einem ideologischen Angriff auf alle gesellschaftlich fortschrittlichen Gedanken und Taten, bildete die Grundlage für einige der derzeitigen Schwierigkeiten. Massen von Menschen fühlen sich im Stich gelassen und jeder Alternative zum Status quo beraubt.
Diese Phänomene übten einen zersetzenden Effekt auf alle Schichten der Gesellschaft aus. Die Kommerzialisierung des Sports, selbst des sogenannten "Amateursports", schritt zusehends fort. Die bekanntesten Athleten in den Vereinigten Staaten schwimmen in Millionen, verdienen jährlich gar zweistellige Millionenbeträge. Dies hat dazu beigetragen, dass viele Figuren im Sport - die meist nicht gerade ermutigt werden, ihren Verstand zu gebrauchen - sich durch Arroganz und Egoismus auszeichnen, so wie durch Patriotismus und Chauvinismus, was im derzeitigen Klima als Verlässlichkeit gilt und zusätzlich von Nutzen ist.
Ein anschauliches Beispiel für diese Tendenz bot ein Artikel, der im Juni in der Tageszeitung Washington Post erschien. In dem Beitrag ging es um die HSI, eine Sportvereinigung, die einige der größten Namen im Bereich der Leichtathletik für sich gewinnen konnte. Greene und seine Kollegen aus dem Sprintteam gehören zur HSI, so wie der Sprinter Ato Bolton aus Trinidad. Die Philosophie der Gruppe ist jene "der Dreiste kommt durch"-Haltung, die im amerikanischen Sport so populär geworden ist.
Das "H" und das "S" im Namen der Organisation stehen für die Gründer der Vereinigung, den Anwalt und Geschäftsmann Emmanuel K. Hudson und den Leichtathletiktrainer John Smith. Der Artikel in der Washington Post machte deutlich, dass die Selbstdarstellung und Wichtigtuerei seit langem zu den Praktiken der Gruppe gehört und den Zweck verfolgt, Rivalen einzuschüchtern und zu erniedrigen. "Es gibt eine bestimmte Einstellung, die man haben muss, um überhaupt Mitglied in der HSI werden zu können", erklärte Jon Drummond.
Bei mehreren Sportveranstaltungen in diesem Jahr, darunter auch diejenige im Juni, bei der Greene einen neuen Rekord im 100-Meter-Lauf aufstellte, haben HSI-Sprinter sich in HSI-Fahnen gehüllt, während sie andere Läufer wütend anstarrten oder schlecht machten. Hudson gab zu, dass er und Smith die Sportler zu solchen Possen ermutigen, obwohl anderer Athleten dies nicht mögen. "Wir entschuldigen uns für gar nichts", sagte er.
In der Washington Post brüstete sich Hudson, der für das Geschäftliche zuständig ist, mit dem sportlichen und finanziellen Erfolg der HSI. Die erfolgreichsten Mitglieder, wie z.B. Maurice Greene, verdienen siebenstellige Beträge. Greene hat geschäftliche Beziehungen zu Coca-Cola und Konami, einem Videospiel-Hersteller aus Tokio. Vor den Olympischen Spielen unterzeichnete Greene einen Vertrag, damit sein Foto auf Sammelschachteln von Kellogg‘s Cornflakes erscheinen konnte. Der Sprinter fährt einen Mercedes Benz mit dem Kennzeichen "MO-GOLD" (in Anspielung auf seinen Vornamen Maurice). Er trägt ein T-Shirt, auf dem er sich selbst als "Pheno-MO-nal" bezeichnet.
In den Verhaltensweisen und Persönlichkeiten von Maurice Greene einerseits und Tommie Smith andererseits können wir den Unterschied zwischen zwei Perioden und zwei Weltanschauungen erkennen.
Bei einem Gespräch im Jahre 1998, dreißig Jahre nach seiner Protestaktion, bekräftigte Smith seine Einstellung. "Ich bedaure nichts", erklärte er. "Ich werde nie etwas bedauern. Wir waren dort, um für Menschenrechte und für schwarze Amerikaner einzutreten. Wir wollten, dass sie in den Vereinigten Staaten besser gestellt sind."
Laut John Carlos überlegten die Athleten 1968, ohne Rücksicht auf ihre persönliche Karriere, ob sie die Spiele boykottieren sollten. Sie entschieden sich dagegen, weil sie die Vorbereitung auf dieses Ereignis zu viel Mühen gekostet hatte. Sie beschlossen, dass sie jedem Einzelnen die Entscheidung überlassen wollten, wie er sich bei einem Sieg verhalten würde. Carlos sagte, er und Smith seien der Auffassung gewesen, dass ihre Prinzipien wichtiger seien als Medaillen.
"Die Leute für die du läufst - die offiziellen Vertreter - stellen dich mit ihren politischen Ambitionen in den Schatten. Sie wollen, dass du ein bestimmtes Gesicht für dein Land machst", erklärte Carlos. "Die Olympischen Spiele sind nichts weiter als ein politisches Szenario - alles in der Athletik auf Weltebene ist politisch." Er fuhr fort: "Einem Kind wird erzählt, die Olympischen Spiele seien die höchste Form von Athletik. Das ist Mann gegen Mann, Geist gegen Geist. Aber wenn du zu den Spielen gelangst, ist alles anders, als du es dein Leben lang gehört hast. Das ist Land gegen Land, Ideologie gegen Ideologie. Die Olympischen Spiele wären wunderbar, wenn dort einfach die Athleten zusammen kämen und gemeinsam laufen würden. Statt dessen wollen sie uns alle auf einem Podium stehen sehen, damit die Welt nachzählen kann, welches Land wie viele Medaillen gewonnen hat."
Es sollte erwähnt werden, dass es in der heutigen Gesellschaft als Ganzer und sogar in der Sportwelt mächtige gegenläufige Tendenzen gibt. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass eine wachsende Zahl von jungen Menschen vom Zustand der amerikanischen Gesellschaft angewidert ist und die soziale Ungleichheit, den Militarismus und die Vorherrschaft der Konzerne verabscheut. Dies ist erst ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird, insbesondere wenn der Aktienmarktboom zu Ende geht und die grundlegenden Realitäten des Lebens in der kapitalistischen Gesellschaft ihren Eindruck auf großen Schichten der Bevölkerung hinterlassen.
Die Athleten der Vereinigten Staaten sind keine Monster. Sie reflektieren unkritisch den vorherrschenden Ethos des Individualismus und des "Gewinnens um jeden Preis". (In einem Fernseh-Interview machte Greene den Eindruck eines durch und durch anständigen Individuums.) Die Tatsache, dass ihr Verhalten einen großen Teil ihrer olympischen Mitstreiter abstieß, ist ein gutes Zeichen. Und es gab bei den Spielen in Sydney auf jeden Fall Beispiele von Athleten, amerikanischen und anderen, die Großzügigkeit und Hochherzigkeit zeigten, ihren Rivalen gratulierten und sie umarmten.
Sportlerinnen und Sportler reflektieren die komplexen politischen und ideologischen Kräfte, die in der Gesellschaft existieren. In den modernen Olympischen Spiele waren immer auch korrupte und sogar reaktionäre Elemente vorhanden. Die Spiele haben niemals in einem sozialen Vakuum stattgefunden. Aber ohne Frage entsprangen die Ansichten von Smith und Carlos einer wachsenden, wenn auch politisch konfusen Opposition gegen den Kapitalismus - einer Opposition, die eine Selbsterhöhung zurückwies und versuchte, das gesellschaftliche Bewusstsein zu erhöhen. Die Wiederbelebung einer sozialistischen Kultur wird auch den Sport nicht unberührt lassen.
Sport kann eine Feier des Besten sein, das die Menschheit zu bieten hat; eine Zelebrierung der Überwindung von physikalischen und psychologischen Hindernissen durch den Menschen. Aber die Voraussetzung hierfür ist ein höheres gesellschaftliches Bewusstsein, das mit Nationalismus und egoistischem Individualismus unvereinbar ist.