Das Demonstrationsrecht ist eines der wichtigsten demokratischen Grundrechte. Es ermöglicht breiten Schichten der Bevölkerung, ihren Willen denjenigen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, die an den Hebeln der Entscheidung und der Macht sitzen. Die Demonstration "Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz", die am 9. November in Berlin stattfindet, stellt dieses Verhältnis auf den Kopf. Die Spitzen von Staat, Parteien, Wirtschaftsverbänden, Kirchen und Gewerkschaften demonstrieren... aber gegen wen und wofür?
Dass sich die rechtsradikalen Schlägerbanden, die Menschen anderer Hautfarbe durch die Straßen jagen, Asylbewerberheime in Brand stecken und jüdische Friedhöfe schänden, von einer solchen Demonstration beeinflussen lassen, glauben auch die Organisatoren nicht. Also richten sie sich an die "Bürgerinnen und Bürger dieses Landes", denen sie - so der Demonstrationsaufruf - "Mut zur Zivilcourage und Entschlossenheit" abfordern.
Aber "Mut zur Zivilcourage" ist zuallererst von jenen politischen Entscheidungsträgern gefragt, die am Donnerstag durch Berlin marschieren. Sie könnten ein Zeichen für Toleranz setzen, indem sie das Asylrecht wieder herstellen, die Kürzung der Sozialhilfe für Flüchtlinge rückgängig machen, die Abschiebegefängnisse auflösen und die unmenschliche Abschiebepraxis einstellen - kurz, indem sie ausländerfeindlichen Stimmungen nicht nur mit Worten, sondern mit Taten entgegentreten. Doch daran denken sie nicht einmal im Traum. Statt dessen finden sich unter den Erstunterzeichnern des Demonstrationsaufrufs die übelsten nationalistischen Scharfmacher.
Friedrich Merz, der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, hat den Aufruf unterzeichnet, in dem es heißt: "Wir stehen für ein menschliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland, für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in diesem Land, ungeachtet ihrer Weltanschauung, Religion, Kultur und Hautfarbe." Derselbe Merz schürt seit Tagen die unsägliche Debatte über eine "deutsche Leitkultur", die exakt das Gegenteil zum Inhalt hat. Auch Edmund Stoiber, bayerischer Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender, steht auf der Unterzeichnerliste. Sein Innenminister Beckstein, berüchtigt für seine brutale Abschiebepraxis, unterscheidet derweil zwischen Ausländern, die "uns nützen", und solchen, die "uns ausnutzen".
Man sollte den Begriff Heuchelei nicht überstrapazieren, aber hier ist er mit Sicherheit angebracht.
Die jetzige Demonstration erinnert fatal an jene, die genau vor acht Jahren an derselben Stelle in ähnlicher Zusammensetzung stattfand. Sie stand im Zeichen der mörderischen Brandanschläge von Solingen und Mölln und trug das Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Bundespräsident von Weizsäcker, verschanzt hinter einer Mauer von Politikern und kirchlichen Würdenträgern und einer zweiten von Polizisten, predigte die Aufrüstung des Staatsapparats gegen "die Verbreitung rechtsradikaler Hetzparolen und linksradikale Schreihälse" und warnte im selben Atemzug vor dem "massenhaften Zustrom" von Ausländern. Wenige Wochen später beschlossen die Bundestagsparteien einhellig eine Verfassungsänderung, die das Recht auf Asyl praktisch außer Kraft setzte. Die Demonstration diente mithin als moralisches Feigenblatt für eine Maßnahme, die die Rechtsradikalen nur als Triumph ihrer eigenen Politik empfinden konnten.
Mit der jetzigen Demonstration wird es nicht anders sein. Sicher werden viele Teilnehmer ernsthaft etwas gegen die Rechtsradikalen unternehmen wollen. Aber in der Politik ist der Weg zur Hölle oft mit guten Vorsätzen gepflastert. Man kann nicht für Menschlichkeit und Toleranz eintreten, ohne die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Ursachen von Unmenschlichkeit und Intoleranz zu stellen. Und diese sind eng mit der Politik jener verbunden, die am 9. November die Demonstration anführen.
Das trifft nicht nur auf Politiker zu, die - wie Merz und Stoiber - ganz offen ausländerfeindliche Stimmungen schüren, sondern auch auf Bundeskanzler Schröder und seinen Sparminister Eichel, die den Aufruf zur Demonstration ebenfalls unterschrieben haben. Ihre Politik im Interesse der Wirtschaft spaltet die Gesellschaft immer tiefer in Arm und Reich, erzeugt Perspektivlosigkeit und Verzweiflung und schafft so den Nährboden, auf dem die Rechten gedeihen.
Die soziale Krise muss allerdings nicht notwendigerweise die Rechten stärken. 1992, am Vorabend der letzten Berliner Demonstration, schrieben wir: "Der Faschismus, das zeigen die Lehren aus der Weimarer Republik, gewinnt Unterstützung bei heruntergekommenen Schichten, wenn die Arbeiterklasse sich als unfähig erweist, ihnen einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise zu zeigen. Wenn der Kampf gegen die mächtigen Wirtschaftsinteressen, die die Geschicke von Millionen bestimmen, durch die Passivität der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen blockiert wird, erhalten jene Zulauf, die auf die Frage Was ist zu tun, damit alles besser wird?‘ antworten: Vor allem die niederdrücken, die ganz unten sind.‘"
Das ist auch heute nicht anders. Ein wirkungsvoller Kampf gegen die Rechten erfordert eine fortschrittliche Antwort auf die gesellschaftliche Krise. Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Politik. Die gesamte Demonstration vom Donnerstag ist darauf angelegt, eine solche Auseinandersetzung zu unterdrücken.
Einziger Kundgebungsredner wird neben dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, der höchste Repräsentant des Staates, Bundespräsident Johannes Rau sein. Parteien kommen nicht zu Wort, politische Informationsstände sind verboten. Ein Heer von Polizisten wird darauf achten, dass dieses Verbot eingehalten wird.
Getragen wird die Demonstration von einem breiten Bündnis, das von Stoiber und der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel über Kanzler Schröder, Wirtschaftsvertreter wie Dieter Hundt, Hans-Peter Stihl und Olaf Henkel, den DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte und diverse Bischöfe bis hin zu Gabriele Zimmer und Gregor Gysi von der PDS reicht. In vieler Hinsicht ist sie ein Spiegelbild der Politik von Kanzler Schröder, der angesichts der wachsenden Kluft zwischen Politik und Bevölkerung verstärkt auf ein korporatistisches Modell setzt, auf die enge Zusammenarbeit mit Interessenverbänden, Gewerkschaften und anderen Parteien. Die Initiative zur Kundgebung kam denn auch aus Schröders Umgebung. Cheforganisator der Kundgebung ist Kajo Wasserhövel, der 1998 Schröders Wahlkampf organisierte und jetzt hauptberuflich das Büro des SPD-Generalsekretärs leitet.
Es ist schon der Gipfel des Zynismus, wenn dieses Bündnis nun die Bevölkerung zum "Mut zur Zivilcourage" aufruft, während dieselben Politiker, Verbändevertreter und Gewerkschaftsfunktionäre sonst alles tun, um jede Regung von unten in Schach zu halten und jedes couragierte Auftreten gegen die soziale Krise im Keim zu ersticken - und damit den rechten Demagogen das Feld überlassen.
Die einzige Antwort, die die Organisatoren der Demonstration auf das Anwachsen der Braunen geben, ist die Aufrüstung des Staatsapparats. Das entspringt dem Bewusstsein ihrer eigenen Isolation. Inzwischen haben sich fast alle Parteien auf ein NPD-Verbot geeinigt, obwohl sie alle wissen, dass ein solches Verbot weder die Ursachen der rechten Gewalt beseitigen noch diese wesentlich einschränken kann. Dafür schafft es einen Präzedenzfall zur Verteidigung ihres eigenen politischen Monopols gegen unliebsame Konkurrenz. Es kann in Zukunft zur Unterdrückung jeder, auch linken Opposition gegen die gesellschaftlichen Zustände benutzt werden. Schon jetzt dient das Verfahren gegen die NPD dazu, den Verfassungsschutz zu rehabilitieren.
In einem Punkt wird sich die diesjährige Demonstration von jener vor acht Jahren unterscheiden: Damals kamen 350.000 Teilnehmer, jetzt erwarten die Veranstalter gerade noch 30.000. Bedenkt man, dass bereits an die 6.000 Organisationen und Einzelpersonen den Demonstrationsaufruf unterzeichnet haben, dann bleibt das politische Establishment diesmal tatsächlich unter sich.