Filme der 50. Berlinale

Den Finger in die Wunde legen

Die Stille nach dem Schuss, von Volker Schlöndorff (Regie) und Wolfgang Kohlhaase (Drehbuch)

In seinem exzellenten Film Die verlorene Ehre der Katharina Blum(1975) beschäftigte sich der Filmemacher Volker Schlöndorff mit dem Terrorismus - den Angriffen, die in Deutschland von ehemaligen radikalen Studenten, bekannt als Rote Armee Fraktion (der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe), durchgeführt wurden - und der staatlichen Repression, die sie hervorriefen. Im Alter von 60 Jahren ist er in seinem neuen Film zu dem Thema zurückgekehrt. Die Stille nach dem Schuss ist in jeglicher Hinsicht ein würdiger Nachfolger des früheren Werkes.

In den 60-er und 70-er Jahren wurde Schlöndorff zu einem gewissen Grad von anderen wichtigen Figuren des deutschen Neuen Kinos überschattet - R.W. Fassbinder, Werner Herzog und Wim Wenders - aber nichtsdestotrotz produzierte er zwei der hervorragendsten deutschen Filme dieser Zeit, Die verlorene Ehre der Katharina Blum und Die Blechtrommel (1979). Weniger erfolgreich war Schlöndorff mit seinen letzten Filmen, insbesondere mit seinem anspruchsvollen Film Der Unhold(1996), aber Die Stille nach dem Schuss stellt eine Rückkehr zu alter Form dar.

In Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ( Berlin - Ecke Schönhauser[1957], Solo Sunny[1979]) wandte Schlöndorff seine Aufmerksamkeit einer Episode der jüngeren deutschen Geschichte zu, die der Öffentlichkeit erst nach dem Fall der Mauer in vollem Umfang bekannt wurde.

Das Verhalten der Roten Armee Fraktion (RAF) und die gewaltsame Reaktion des westdeutschen Staates sind gut dokumentiert. Die RAF entsprang der Studentenbewegung in den späten 60-er Jahren. Begeistert von einer ungesunden Mischung aus Anarchismus und Maoismus-Stalinismus ("Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen"), gab die Gruppe ihrer Enttäuschung über die relative Stabilisierung der Bundesrepublik Ausdruck, indem sie sich dem Terror zuwandte - mit Banküberfällen und einer Reihe von Mordanschlägen.

Nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der Stasi-Akten kam ans Licht, dass einige Mitglieder der RAF von der stalinistischen Bürokratie in der DDR eine neue Identität bekommen und dort eine sichere Zuflucht gefunden hatten. Im Mittelpunkt von Die Stille nach dem Schuss steht die faszinierende Frage, wie eine Gruppe der angeblich radikalsten Linken ihren Frieden mit der erzkonservativen DDR-Bürokratie schließen konnte.

Für die Vorarbeiten zum Drehbuch führte Kohlhaase eine umfangreiche Recherche durch. Das Endergebnis orientiert sich stark an den Biografien von einigen RAF-Mitgliedern, die Kohlhaase interviewt hatte. Der Film beginnt mit einem langsamen Schwenk durch die Wohnung eines der fiktiven RAF-Mitglieder. Poster von Che Guevara und Jimmy Hendrix schmücken die Wände, politische Texte von Ho Chi Minh und Mao Tse Tung liegen auf dem Tisch, eine Büste von Karl Marx steht auf dem Kaminsims. Die Eröffnungsszene handelt von einem Banküberfall der RAF unter der Führung von Andreas (Andi).

Eine Gruppe von vier Männern und Frauen (ohne Masken) stürmt in eine Bank mit der Parole "Nieder mit dem Kapitalismus!" Während sie die Kasse plündern und das Geld in Taschen verstauen, scherzen sie mit einer alten Dame, die zufällig die Räumlichkeiten betritt. Auf ihrer Flucht hält Rita bei einem Bettler auf der Straße und schüttet ihm eine beachtliche Menge an gestohlenem Kleingeld in seinen Hut. Der Bettler ist überwältigt, Rita bläht sich vor Stolz - die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat bereits begonnen. In Gesprächen gibt Rita zu, dass sie nur deshalb zur Gruppe gestoßen ist, weil sie in Andi, den Anführer, verliebt ist.

Der deutsche Staat greift durch und die Terroristen sind gezwungen nach Frankreich zu fliehen. Im Untergrund müssen Rita und die anderen die nötigen Tricks lernen, um ihre Enttarnung zu verhindern und am Leben zu bleiben. Nach einem Zwischenfall, bei dem ein französischer Polizist getötet wird, sind sie genötigt einmal mehr das Land zu verlassen. Rita kommt auf ein älteres Versprechen der Stasi zurück, die der Gruppe ihre Hilfe angeboten hatte.

Den Vieren wird die Möglichkeit eröffnet, in der DDR zu bleiben; die Stasi betrachtet dabei die RAF-Mitglieder als potentiell nützlichen Pfand in ihrem eigenen Katz-und-Maus-Spiel mit den westdeutschen Geheimdiensten. Ein Stasi-Offizier bereitet einen angemessenen Empfang für die Gruppe vor - ein Grillen mit ostdeutschen Würstchen und westdeutschem Bier - das Beste aus beiden Welten! Die beiden männlichen Mitglieder der Gruppe bekommen einen ersten Geschmack vom Alltagsleben in der DDR - und haben bereits genug! Sie ziehen es vor nach Beirut zu gehen und mit dem Waffentraining fortzufahren. Die beiden Frauen bleiben zurück, werden aber getrennt und erhalten neue Identitäten und Arbeitsstellen im "sozialistischen Heimatland".

In einigen Szenen vermittelt der Film erfolgreich die alles durchdringende Stagnation, Resignation und den Konformismus, der das tägliche Leben in der DDR prägte - insbesondere in der Periode unmittelbar vor dem Fall der Mauer. Als Teil ihrer Tarnung nimmt Rita eine Stelle in einer örtlichen Fabrik an. Ihre Arbeitskollegen werden uns in der Werkskantine vorgestellt. Die Wände sind geschmückt mit Plakaten, die zur Erfüllung des Plansolls aufrufen und die Tugend der Solidarität im "Arbeiterstaat" rühmen. In Wirklichkeit gibt es nicht die kleinste Spur von Solidarität unter den Arbeitern, die sich wegen Allem und Jedem streiten. Ritas Arbeitskollegen starren sie erstaunt an, als sie zehn Mark in den Solidaritätsfond für Nicaragua spendet, der vom Werksleiter organisiert wird. "Glaubst du wirklich, dass die Arbeiter in Nicaragua irgend etwas davon bekommen?" ruft eine von ihnen aus. Die unausgesprochene Reaktion der Arbeiter auf alles, was die Fabrikleitung organisiert, ist hartnäckige Gleichgültigkeit.

Aber die Gegnerschaft zum System ist unartikuliert und nimmt eher die Form von Alkoholismus und tiefer Frustration an, wie im Fall von Ritas bester Freundin. Von allen Figuren im Film ist es tatsächlich Rita, die am lebhaftesten das DDR-System mit seinem allgegenwärtigen Polizeiapparat verteidigt. Waren in der DDR nicht schließlich einige der wichtigsten Forderungen der RAF verwirklicht? Es gab keine "Konsumtempel" in der DDR, keinen "Konsumterror", und nur die Waren des Grundbedarfs waren käuflich zu erwerben. Scheinbar lebte jeder mehr oder weniger mit der gleichen Entbehrung (und im gleichen Elend) - entsprach dies nicht der Vorstellung des "Sozialismus", die die RAF vom Maoismus und Castroismus übernommen hatte?

Schlöndorff wurde von einigen Seiten kritisiert, weil er die DDR und ihre Geheimpolizei zu positiv darstelle. Tatsächlich haben Schlöndorff und Kohlhaase der Versuchung widerstanden, die Stasi-Offiziere als böse Kriminelle zu zeichnen. Der leitende Stasi-Offizier zum Beispiel (gespielt von dem hervorragenden Martin Wuttke) ist nicht einfach ein eindimensionales Schwein - statt dessen entblößt er zusammen mit seinem Chef die zynische Einstellung, mit der die Stasi ihre eigene Existenz rechtfertigt. Er drückt absolutes Misstrauen in die große Masse der Bevölkerung aus. "Weil wir für euch sind, müssen wir uns gegen euch stellen", sagt er. Tatsächlich ist seine Anschauung unverfälschte Polizeistaatsmentalität: je größer die Zahl der Polizei und Spione, je mächtiger der Staatsapparat zur Unterdrückung der Bevölkerung, desto weiter schreitet das System voran auf dem Weg zum Sozialismus.

Ritas früheres Leben als Terroristin wird von einem Kollegen auf der Arbeit aufgedeckt. Rita nimmt eine neue Identität an und findet einen neuen Liebhaber, während sie an der ostdeutschen Küste arbeitet. Sie trifft auf eine ehemalige RAF-Kollegin, Frederike, die ebenfalls mit einer neuen Identität in der DDR lebt. Sie freuen sich, einander zu treffen, aber Frederike hat nicht viel Zeit. Sie besucht die Küste mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Kind und muss gehen. Als sie abreisen sagt Rita, sie freue sich darüber, dass das Leben ihrer Freundin so glücklich sei. Wir sehen Frederikes angst- und schmerzerfülltes Gesicht, als sie zurückgibt: "Wie kommst du darauf?!"

Der Film ist nicht ohne Schwächen. Im Allgemeinen liefert er ein überzeugendes Portrait der Schalheit des Lebens in der DDR. Aber Szenen, in denen beispielsweise ein Trabi gegen einen Baum fährt, auseinanderfällt, und der Fahrerin dann von einem aufgeblasenen Volkspolizisten eine Lektion erteilt wird, fallen zu leicht in die Kategorie der Ossi-Witze und liefern leicht Munition für die Kritiker des Films. Und an einem bestimmten Punkt scheint der Film steckenzubleiben, die Geschichte schleppt sich irgendwie dahin - als ob die Routine und Vorhersehbarkeit des Alltagslebens in der DDR den Film selbst übernommen hätten.

Vor der Premiere räumte Schlöndorff Probleme mit den Produzenten ein, die das Originalskript für zu politisch und strittig hielten. Das Skript wurde überarbeitet und der fertige Film konzentriert sich stark auf das Schicksal seines Hauptcharakters Rita (gut gespielt von Bibiana Beglau). Im Mittelpunkt des Films stehen die Erfahrungen eines Menschen, dessen Leben direkt von den Launen des Staates abhängt, dessen Bewegungen und Versuche, eine Beziehung aufzubauen, samt und sonders von der Geheimpolizei beobachtet werden.

Der Film endet tragisch für Rita, deren klandestine Existenz einmal mehr und endgültig durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung in Gefahr gebracht wird. Zur Flucht gezwungen, wird sie von der Polizei niedergeschossen, als sie einen Polizei-Kontrollposten zu passieren versucht. Einer der Schlusssätze des Films wird von einem Volkspolizisten gesprochen, der nach dem Fall der Mauer nahtlos mit seinen westdeutschen Polizeikollegen zusammenarbeitet: "Für Ordnung und Sicherheit muss überall gesorgt werden."

Trotz der Konzessionen, die Schlöndorff zu machen gezwungen war, bleibt der Film ein mutiger Versuch etwas in Angriff zu nehmen, das immer noch ein extrem empfindlicher Bereich der jüngeren deutschen Geschichte ist. Schlöndorff weigerte sich der Linie des offiziellen politischen Establishments in Deutschland zu folgen, wonach die RAF-Mitglieder einfach als Dämonen gezeichnet werden. Gleichzeitig ist sein Portrait der RAF keineswegs schmeichelhaft. Er weist zutreffend auf die Flachheit der politischen Konzeptionen ihrer Mitglieder hin; Konzeptionen, die dazu führten, dass sie Beistand bei den schlimmsten Feinden der Arbeiterklasse suchten - bei der stalinistischen Bürokratie im Osten.

Es lohnt sich, auf die Reaktionen von Teilen der Medien auf Die Stille nach dem Schuss einzugehen. Schlöndorff selbst sagte, dass er sich "gelyncht" gefühlt habe von manchen Kritikern des Films. Bei der Pressevorführung auf der Berlinale erhielt der Film beachtlichen Applaus und wurde von einigen ausgebuht. Die Medienreaktion deutet darauf hin, dass verschiedene maßgebliche Interessen sich bedroht fühlen. Ein Teil behauptet, Schlöndorff hätte ein zu weiches Portrait der RAF gezeichnet; andere, darunter Teile der liberalen und linken Presse, behaupten, sein Portrait sei viel zu hart. Der Filmkritiker der Frankfurter Rundschau beispielsweise verreißt den Film als klischeebeladen und protestiert gegen die Darstellung der RAF als "Haufen von Romantikern und Träumern - etwas, das selbst die RAF nicht verdient hat".

Zwei Interessengruppen sind offensichtlich am Werk. Auf der einen Seite gibt es staatsnahe Kräfte, die darum bemüht sind, das Bild der RAF als ernst zu nehmende politische Kraft, die die Bundesrepublik in den 70-er Jahren beinahe in die Knie zwang, aufrechtzuerhalten. Dies war die Linie, die damals von der offiziellen Politik und großen Teilen der Medien ausgegeben wurde, um eine Kurzschlussreaktion und brutale staatliche Unterdrückung zu rechtfertigen.

Auf der anderen Seite gibt es diejenigen in der deutschen Linken, die immer noch zärtliche Erinnerungen an die RAF hegen. Diese Schichten teilen weiterhin den Zynismus der RAF in Bezug auf die Arbeiterklasse als Trägerin eines progressiven Wandels. Die vernichtendste Kritik an dem Film kam von der taz, die selbst ihren Ursprung in der linken Bewegung dieser Zeit hat und eine Zeitung ist, die regelmäßig die RAF politisch verteidigte. Eine Schlagzeile der taz, die auf den Titel des Films anspielt, ist beleidigend und offen obszön. Eine andere Filmrezension in der Zeitung vergleicht den Film mit Seifenopern wie der Lindenstraße und Baywatch. Man kann sich der Schlussfolgerung nicht entziehen, dass sich die taz -Filmkritiker durch die Schilderung der Zusammenarbeit zwischen RAF und Stalinismus persönlich angegriffen fühlen.

Tatsächlich war der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten auch der letzte Nagel im Sarg der RAF. In einer Reihe von Erklärungen gaben überlebende RAF-Mitglieder bekannt, dass ihre ehemalige Perspektive gescheitert sei und erkannten den Triumph des kapitalistischen Staates an.

Mit seinem neuen Film hat Schlöndorff den Finger in die Wunde gelegt und entsprechende Reaktionen ausgelöst. Das ist nichts gänzlich Neues in seinem Schaffen - Die verlorene Ehre der Katharina Blum stach in ein Wespennest und auch Die Blechtrommel beunruhigte die reaktionären Kräfte. Diese Filme gaben eindrucksvoll das gesellschaftliche Klima in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs und in den 70-er Jahren wieder. Mit seinem neuen Film hat Schlöndorff seiner Chronik ein neues, wertvolles Kapitel beigefügt. Die Stille nach dem Schuss verdient ein großes Publikum.

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