Im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahlen vom kommenden Sonntag haben sich führende Vertreter der Nato und westlicher Regierungen in Moskau die Türklinke in die Hand gegeben. Seit Anfang Februar reisten in kurzer Abfolge der deutsche Außenminister Joschka Fischer, Nato-Generalsekretär George Robertson, der englische Außenminister Robin Cook, der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping und zuletzt Großbritanniens Premierminister Tony Blair zu Gesprächen nach Russland. Ihr erklärtes Ziel bestand darin, die seit dem Kosovo-Krieg gestörten Beziehungen zwischen Russland und der Nato zu verbessern.
Diese aktive Reisediplomatie kann nur als politische Unterstützung für den voraussichtlichen Wahlsieger, den amtierenden Präsidenten Wladimir Putin interpretiert werden. Zwar wurde jeweils pflichtschuldigst "die Einhaltung der Menschenrechte" in Tschetschenien eingefordert, wo Putin einen brutalen und blutigen Krieg führt. Doch das war nichts weiter als eine diplomatische Floskel, die auf keinen Fall die Verbesserung der Beziehungen zu Moskau stören soll.
Nato-Generalsekretär George Robertson, der Mitte Februar zu Verhandlungen in die russische Hauptstadt reiste, bezeichnete den Tschetschenien-Krieg denn auch ausdrücklich als "inneres Problem" Russlands. Er sei darüber nicht besorgt und habe "lediglich Kritik an den Methoden, mit denen dieses innere Problem Russlands gelöst wird".
Krasser könnte der Gegensatz zum Verhalten gegenüber Belgrad vor einem Jahr kaum sein. Damals mussten Menschenrechtsverletzungen durch das Milosevic-Regime im Kosovo als Begründung für die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato herhalten. Gestützt auf äußerst dürftige Beweise, maßlos übertriebene oder frei erfundene Opferzahlen wurde der jugoslawischen Regierung vorgeworfen, sie begehe einen "Völkermord" an der albanischen Bevölkerung.
Das brutale Vorgehen der russischen Regierung in Tschetschenien besitzt ganz andere Dimensionen als die Gräueltaten, die dem Milosevic-Regime vorgeworfen wurden. Tschetschenien ist fast vollständig in Schutt und Asche gelegt worden. Ein normales Leben wird auf Jahre hinaus unmöglich sein. In der Hauptstadt Grosny, wo 30.000 bis 50.000 Menschen in den Kellern der Stadt fünf Monate lang den russischen Bombenangriffen trotzten, steht kaum ein Haus mehr. 250.000 Menschen befinden sich immer noch auf der Flucht. Im Februar häuften sich Meldungen über Massenexekutionen unter der einfachen Zivilbevölkerung und Misshandlungen durch marodierende Soldaten. Die Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet wurde von der Russischen Regierung weitgehend unterbunden, kritische Journalisten vom Geheimdienst verfolgt und massiv behindert.
All das wird bei den Verhandlungen mit Putin höchstens noch pro forma in die Tagesordnung aufgenommen. Der dünne Mantel der Moral wird abgeworfen und die wirklichen Interessen treten zu Tage. Es sind vor allem zwei Dinge, die die westlichen Regierungen für Putin einnehmen.
Zum einen sehen sie in ihm den Garanten für ihre wirtschaftlichen Interessen in Russland. Gestützt auf Armee und Geheimdienst verspricht er ein Regime der harten Hand, eine "Diktatur des Gesetzes", wie seine zentrale Wahlkampfparole lautet - wobei die Betonung eindeutig auf "Diktatur" liegt.
Nachdem die Einführung kapitalistischer Verhältnisse in Russland anfangs unter dem äußerst fadenscheinigen Banner der "Demokratie" vonstatten ging, sehen nun auch die westlichen Regierungen ihre Interessen besser aufgehoben, wenn es das Regime mit der Einhaltung demokratischer Rechte und Freiheiten nicht allzu genau nimmt. Die Eindämmung der ausufernden Korruption und Kriminalität einerseits und drohende Unruhen von Seiten einer völlig verarmten Bevölkerung andererseits erfordern auch ihrer Ansicht nach eine Politik der starken Hand.
Putin seinerseits hat deutlich gemacht, dass er seine engen Beziehungen zum alten sowjetischen Sicherheitsapparat nicht einsetzen wird, um den Prozess der "Reformen" - d.h. der Einführung kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen - zu hemmen, sondern im Gegenteil, um diesen zu beschleunigen. Er hat dabei die volle Unterstützung der mächtigsten russischen Wirtschaftsgruppen, der sogenannten Oligarchen.
Alle Moskaureisenden betonten den wirtschaftlichen Aspekt ihres Besuchs, wobei im Wettrennen um wirtschaftliche Einflussnahme kein Land den kürzeren ziehen will. Parallel zu den Politikertreffen fanden oft auch Treffen von Wirtschaftsdelegationen statt.
So erklärte der EU-Botschafter in Moskau, Ottokar Hahn: "Wegen Tschetschenien haben die EU-Russland-Beziehungen einen erheblichen Tempoverlust erlitten. Alles ist eingefroren, und ich sehe noch nicht, wie sich das Verhältnis deblockieren lässt. Um Putin sammeln sich aber interessante Leute, die mögliche Premierminister sein könnten und Wirtschaftsfachleute sind."
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte ein in der vergangenen Woche abgehaltenes Treffen deutscher Wirtschaftsvertreter, organisiert vom Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft in Moskau, wie folgt: "Es war ein besonderer Abend für die Vertreter der deutschen Wirtschaft, und er war es wohl auch für Wladimir Putin. Denn in letzter Zeit ist es nicht häufig vorgekommen, dass der russische Übergangspräsident eine westliche Delegation empfing, ohne dass er sogleich den Zorn des Auslands über den Tschetschenien-Krieg zu spüren bekam. Diesmal aber ging es in Moskau um andere Dinge. Es ging um die wirtschaftlichen Beziehungen, um künftige Investitionen und also auch um Vertrauen."
Schon jetzt hat Deutschland größere Wirtschaftsinteressen in Russland als jedes andere Land. Über 1.700 deutsche Firmen agieren in Russland und noch viel mehr wollen ihr Geld in dem Land investieren. Allerdings müssen dazu erst die notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Klaus Mangold, der neue Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, erklärte während des oben genannten Treffens in Moskau, dass Deutschland dabei auf Putin setzt: "Er weiß perfekt, wie die Probleme des Landes angegangen werden müssen, und ist bestrebt es zu tun." International wolle Deutschland dem Kreml den Rücken mit weiteren Krediten freihalten, wozu die USA und der IWF immer weniger bereit seien. Es wurden Gespräche geführt über eine mögliche Rolle Deutschlands bei einer speziell für Russland zu gründenden Bank für Entwicklung und Wiederaufbau.
Nicht weniger zynisch waren die Erklärungen des britischen Außenministers Robin Cook, der kurz nach Robertson Moskau besuchte. Es sei zwar wichtig, "dass wir unsere Sorgen direkt und konsequent zum Ausdruck bringen." Aber gleichermaßen wichtig sei es, "dass wir eine Beziehung zu Russland aufrechterhalten können, die es uns ermöglicht, konstruktiv in Bereichen zusammenzuarbeiten, in denen wir uns gegenseitig brauchen." Anders ausgedrückt: Den wirtschaftlichen und strategischen Interessen Großbritanniens dürfen Sorgen über "Menschenrechte" nicht im Wege stehen. So erklärte Cook, er habe sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über größere britische Investitionen in Russland unterhalten.
Regierungschef Tony Blair äußerte sich noch unverblümter. Nach seinem Kurzbesuch am 11. März in Petersburg, der Heimatstadt Putins, erklärte er, dass "Putin ein Reformer ist, mit dem der Westen Geschäfte machen kann". Putin erwiderte diese Geste und sicherte zu, er werde die Bedingungen schaffen, damit jährlich bis zu zwei Milliarden Dollar englischer Investitionen ins Land fließen können. Nach den Gesprächen übernahm Blair sogar Putins Rhetorik und erklärte, dass er dessen "Kampf gegen den Terrorismus in Tschetschenien" verstehe.
Der zweite Grund für das Werben um Putin ist außenpolitischer Natur. Durch den Kosovokrieg, das aggressive Vordringen der Westmächte im kaukasischen und kaspischen Raum und die einseitige Weigerung der USA, die ABM-Verträge über ballistische Raketen fortzusetzen, ist Russland in letzter Zeit systematisch gedemütigt und in die Defensive gedrängt worden. Die Folge waren ein Anwachsen des russischen Nationalismus und ein immer lauteres Säbelrasseln, das Europa und andere Regionen zu destabilisieren droht. Nachdem Russland seine Schranken in der neuen Weltordnung aufgezeigt worden sind, ist die NATO deshalb durchaus bereit, die Beziehungen wieder zu "normalisieren".
Hinzu kommt die unglückliche Erfahrung im Kosovo, die gezeigt hat, dass die NATO ohne Unterstützung regionaler Ordnungsmächte nicht in der Lage ist, solche Konfliktherde unter Kontrolle zu bringen. Die Polizeimission in der relativ kleinen Provinz droht einen Großteil der europäischen Militärkapazität auf Jahre zu binden.
Daher ist die NATO durchaus bereit, Russland im Süden der ehemaligen Sowjetunion die Rolle einer Ordnungsmacht zuzugestehen - vorausgesetzt, der westliche Zugang zum kaspischen Öl wird nicht behindert und Russland hat auch nicht die Möglichkeit, dies zu tun. Das dürfte die Haltung der NATO gegenüber dem Tschetschenienkrieg erklären.
NATO-Generalsekretär Robertson hatte sich vor seiner Moskaureise in einem Interview mit dem Spiegel entschieden gegen jeglichen Vergleich des russischen Vorgehens in Tschetschenien mit dem serbischen im Kosovo gewandt: "Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich möchte deutlich jenen widersprechen, die diesen Vergleich ziehen. Wir können schließlich verstehen, warum Russland in Tschetschenien aktiv geworden ist. Moskau ist besorgt über... die Zunahme des Terrorismus [und] die möglichen Verbindungen zu städtischen Terrorgruppen in Russland..."
Darauf angesprochen, dass die Befreiungsarmee des Kosovo UCK ebenfalls Terrorakte begangen hat und ursprünglich sogar vom amerikanischen Außenministerium als terroristische Organisation eingestuft worden war, erwiderte er kurz: "Daran kann ich mich nicht erinnern."
Während seines Besuches erklärte Robertson, dass Russland und die Nato "eine Seite in ihren Beziehungen umblättern müssen, um sich darauf zu konzentrieren, Kontakte, Vertrauen und Kooperation wieder zu errichten." Einen Tag später wurde die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen Russland und der Nato, die seit März 1999 wegen des Angriffs der Nato auf Jugoslawien unterbrochen waren, als grundlegender Wandel in den Beziehungen Russlands mit dem Westen gefeiert.
Auch der Besuch des deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping, der Anfang März nach Moskau kam, diente der "Normalisierung" der politischen und militärischen Beziehungen zu Russland. Obwohl er in Moskau die Kritik der Bundesregierung am "Übermaß militärischer Gewalt" in Tschetschenien vorgebracht habe, führe es "politisch in die Irre, wegen Tschetschenien die Beziehungen zu Russland abzubrechen". Russland sei "absolut wichtig für die Europäische Sicherheit und muss Partner bleiben. Diese Fragen dürfen nicht durch den unleugbar fürchterlichen Konflikt mit seinen ebenso fürchterlichen Konsequenzen überdeckt werden. Natürlich hat Russland das Recht seine territoriale Integrität zu verteidigen und den Terrorismus zu bekämpfen," sagte Scharping und bezeichnete jegliche Kritik an der Haltung des Westens gegenüber Russland als "arrogante Besserwisserei".
Mit dem russischem Verteidigungsminister Igor Sergejew vereinbarte er eine Wiederaufnahme der militärischen Zusammenarbeit. Vorgesehen sind im Rahmen des "umfangreichen bilateralen Programms für das Jahr 2000" politische Gespräche, die Ausbildung russischer Offiziere in Deutschland und die Begegnung von Teilstreitkräften.
Auch von amerikanischer Seite wird die Zustimmung zu Putin geteilt. Im Außenministerium hieß es dazu: "Russland hat einen gebildeten und pragmatischen Führer, der vernünftig genug ist, das Land von jeder Konfrontation fern zu halten." Präsident Bill Clintons ergänzte kurz vor der Reise Robertsons: "Putin ist der Mann, mit dem wir ins Geschäft kommen können." Putin verstand das Annäherungssignal und entschied sich, Robertson zu empfangen und die Beziehungen zu dem früheren "Aggressor" wieder anzubahnen. Diese zynische Haltung fasst das Russiajournal in seiner Ausgabe vom 28. Februar 2000 ironisch zusammen: "Bill Clinton hat für Putin schönere Worte gefunden als für seinen eigenen Vizepräsidenten im US-Präsidentschaftswahlkampf."
Angesichts der immer schärferen Auseinandersetzungen um die Kontrolle der globalen Wirtschaft kann die momentane Annäherung an Russland allerdings nicht mehr als eine Atempause zwischen neuen Konflikten sein. Dabei verschärfen sich unweigerlich auch die Spannungen zwischen Europa und den USA.
Der EU-Botschafter in Moskau, Dr. Ottokar Hahn, sprach nur das aus, was in breiten Teilen der herrschenden Eliten Europas bereits offen diskutiert wird: "Unsere Interessen spielen eine große Rolle. Im Kaspischen Raum ist Energie, die durch den Kaukasus in den Westen gelangen muss. Ein Stabilitätspakt unter internationaler Beteiligung nach dem Vorbild des Kosovo wäre in Tschetschenien notwendig, um nicht zuletzt der aggressiven Politik der USA gegenüber Russland aber auch gegenüber der EU Einhalt zu gebieten. Die beabsichtigte Ölleitung nach Ceyhan ist eine Beleidigung für Russland."