Putins Deutschlandbesuch und die Neubestimmung der internationalen Beziehungen

Von Mittwoch, den 14. Juni, bis Freitag, den 16. Juni, besuchte der russische Präsident Wladimir Putin im Rahmen einer Europatour mit einer umfangreichen Delegation die deutsche Hauptstadt. In seinem Tross befanden sich über 100 Regierungs- und Parlamentsmitglieder sowie Vertreter der Wirtschaft.

Zuvor hatte er Rom und Madrid besucht und reiste anschließend nach Moldawien weiter.

Hauptziel seines Deutschlandbesuches war die Neubelebung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder. Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte, dass Deutschland an der "strategischen Partnerschaft" zwischen Deutschland und Russland festhalten und diese vertiefen wolle. Auf der "Basis gemeinsamer Interessen" gehe es nun um einen "umfassenden Neustart". In den Wirtschaftsbeziehungen strebe Deutschland eine führende Rolle bei der Modernisierung Russlands an. Putin seinerseits erklärte: "Deutschland bleibt unser erster Partner in Europa und in der Welt."

Die politischen Beziehungen hatten sich seit dem Regierungswechsel in Deutschland im Herbst 1998 stark abgekühlt und waren seit der deutschen Beteiligung am Kosovokrieg auf Regierungsebene nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Etliche Stimmen aus den herrschenden Kreisen - vor allem konservative - warfen der Regierung unter Gerhard Schröder und Außenminister Joseph Fischer vor, die Früchte der traditionsreichen und mühsam entwickelten Ostpolitik, die bis in die Zeiten Konrad Adenauers und später Willy Brandts und Egon Bahrs zurückreicht, zerstört und mit Füßen getreten zu haben.

Auslöser für diese und ähnliche Kritikpunkte war die Tatsache, dass Putin seit seiner offiziellen Wahl zum Präsidenten Russlands in diesem Frühjahr mit dem britischen Premierminister Anthony Blair schon zweimal zusammengetroffen ist, US-Präsident Bill Clinton in Moskau empfangen hat und Italien und Spanien einen Besuch abstattete, ohne dass es bisher zu einer offiziellen neuerlichen Anknüpfung der deutsch-russischen Beziehungen gekommen war.

Ein weiterer Anlauf in den Wirtschaftsbeziehungen

In wirtschaftlicher Hinsicht hatten die Beziehungen mit Ausbruch der russischen Finanzkrise im August 1998 einen empfindlichen Rückschlag erlitten, in dessen Folge deutsche Unternehmen und Privatanleger Gelder in Milliardenhöhe abschreiben oder stunden mussten. Nach wie vor ist Russland gegenüber Deutschland, seinem größten Gläubiger, insgesamt mit fast 100 Milliarden DM verschuldet, Kredite, die zum Teil noch aus Sowjetzeiten stammen oder vor allem während der Kohl-Ära an die Jelzinregierung geflossen waren. Auch Kredite von Banken und Unternehmen sind in dieser Summe inbegriffen.

Obwohl kaum mehr als Absichtserklärungen abgegeben worden sind, wurden Investitionen von vier Milliarden DM ins Auge gefasst, von denen allein zwei Milliarden in ein Gemeinschaftsprojekt der deutschen Wintershall AG und dem russischen Gaskonzern Gasprom zur Erschließung von Erdgaslagerstätten nördlich des Polarkreises fließen sollen. Weiterhin soll die Gewährung von Hermesbürgschaften durch die Bundesregierung für Exportverträge von deutschen mit russischen Firmen wiederaufgenommen und um eine Milliarde DM erweitert werden. Im Herbst 1998 waren sie wegen der russischen Zahlungseinstellung eingefroren worden.

Insgesamt verlief die Anbahnung neuer Wirtschaftsbeziehungen sehr schleppend und war stark geprägt von den Erfahrungen der letzten zwei Jahre. Anstatt wie früher pauschale Kredite an die Regierung oder Banken zu verleihen, konzentriere man sich jetzt auf "überschaubarere, kleinere Projekte".

Am wichtigsten seien zukünftig für die deutsche Wirtschaft klare Verhältnisse bei Unternehmensinvestitionen. Der Einfluss der Mafia und "unüberwindbare bürokratische Hindernisse" müssten zugunsten einer "westlichen Marktwirtschaft" aus dem Weg geräumt werden. Dazu sollen die Wirtschaftsbeziehungen in einer neu zu bildenden Arbeitsgruppe unter Einbeziehung deutscher Unternehmen und der jeweiligen Finanzstaatssekretäre koordiniert werden. Man wolle "die Russen konkret bei der Umsetzung der Steuerreform, bei der Neuregelung des Bankensystems und dem Aufbau eines effizienten Zollwesens beraten, damit Russland diese Reformvorhaben schnell und effizient verwirklichen kann", erklärte Klaus Mangold, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Die Neubestimmung der Beziehungen und das Öl Zentralasiens

In den herrschenden Kreisen macht sich immer mehr die Überzeugung breit, dass mit Anbruch der Putin-Ära und dessen Politik des starken Staates insbesondere deutsche Interessen in Russland, aber auch in seinen Einflussgebieten Zentralasiens und des Kaukasus besser vertreten werden können.

Durch den Krieg in Tschetschenien ist es Russland gelungen, seinen Einfluss in dieser Region zu festigen. Georgien und Aserbaidschan, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die engsten Beziehungen zu den USA und der NATO aufbauen konnten, mussten deren vorsichtige Abwendung im Laufe des vergangenen halben Jahres hinnehmen und sehen sich jetzt zunehmend russischem Druck ausgesetzt.

In Zentralasien festigte Putin während einer jüngsten Besuchsreise in die usbekische Hauptstadt Taschkent die Beziehungen Russlands vor allem zu Usbekistan und Kirgisien, mit denen Verträge abgeschlossen worden sind über eine militär-strategische Allianz gegen "die terroristische Bedrohung aus Afghanistan". In diesem Zusammenhang erklärte er, dass Russland den Krieg in Tschetschenien so lange fortsetzen werde, "bis der türkisch-amerikanische Einfluss zurückgedrängt worden ist".

Diese Äußerung wurde für die russische Presse zum Auslöser, eine Umbewertung des Tschetschenienkrieges vorzunehmen. Anstelle der bisherigen kritiklosen Übernahme der Rhetorik des Kremls von einem "Kampf gegen Terroristen" wird der Krieg jetzt als "wichtiges außenpolitisches Instrument" diskutiert und eine Beendigung des Krieges von diesem Standpunkt erwogen.

In dieser Woche fanden weiterhin Gespräche zwischen Putin und dem Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, über den Ausbau der kasachischen Öllieferungen durch russische Leitungen statt. Schon seit einiger Zeit sind Zugeständnisse Russlands hinsichtlich einer Annäherung der Abnahmepreise ans Weltmarktniveau im Gespräch. Die bisher extrem niedrigen Abnahmepreise hatten die Länder Zentralasiens unter anderem zu einer Wegorientierung von Russland hin zu den USA und deren Alliierten in der Region veranlasst. Infolge der Gespräche wurde jetzt vereinbart, dass der Hauptteil der kasachischen Lieferungen wieder über russisches Territorium abgewickelt werden soll.

Mit seiner Reise nach Berlin versuchte Putin mit Deutschland und in weiterer Perspektive mit Europa die Beziehungen Russlands auf internationaler Ebene auszuloten und neu zu bestimmen. So stand neben der Präsentation Russlands als einer einheitlichen Staatsmacht, die vorgeblich die früheren permanenten internen Machtkämpfe überwunden habe und über eine "anspringende Wirtschaft" verfüge, die Werbung für ein einheitliches internationales Raketenabwehrsystem unterschwellig als wichtigster Punkt auf Putins Tagesordnung.

Die militär-politische Zukunft

Hintergrund dafür sind die amerikanischen Bestrebungen einer Neuauflage des SDI-Programms, des Ballistic Missile Defence (BMD) Raketenabwehrsystems, durch das sich vor allem Russland als Atommacht seines letzten verbliebenen Drohpotenzials beraubt sehen würde und das unmittelbare Konsequenzen für seine Großmachtpolitik an seinen südlichen Grenzen hätte.

In einem Interview gegenüber der Welt am Sonntag drohte Putin, dass die Errichtung eines solchen Raketenabwehrsystems durch Washington unbedingt zu einem Bruch des ABM-Abkommens von 1972 und aller Abrüstungs- und Stabilitätsabkommen führen werde. "Während unseres Berlin-Besuches möchte ich über unsere Initiative diskutieren, ein allgemeines System zur Raketenabwehr zu schaffen", womit "die Sicherheit aller europäischen Staaten" gewährleistet werden könne, erklärte er.

Auf die Worte der US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright in Bezug auf eine potenzielle Bedrohung durch "Schurkenstaaten" - seit neuestem werden sie nur noch als "Sorgenstaaten" bezeichnet - wie dem Iran, Nordkorea oder Libyen erwiderte Putin, dass aufgrund einer Moskauer Expertenanalyse keinerlei Raketenbedrohung vonseiten dieser "Problemstaaten" weder heute noch in absehbarer Zukunft ausgehe.

Bundeskanzler Schröder zufolge verdiene der Vorschlag eines Raketenabwehrsystems unter Einbeziehung Europas und Russlands "Beachtung" und solle im gemeinsamen Rat Nato-Russland diskutiert werden. Eine europäische Sicherheitspolitik ohne Russland sei ohnehin nicht denkbar.

Mit dieser Äußerung bringt er die widersprüchliche Situation Deutschlands zum Ausdruck, einerseits eine Orientierung nach Russland im Alleingang zu vollziehen, andererseits jedoch den Strukturen der Europäischen Union und der Nato verpflichtet zu sein. In erster Linie wird ein Bruch mit den USA befürchtet.

Die New York Times kommentierte die deutsch-russische Annäherung folgendermaßen: "Diese einfache Verständigung steht in deutlichem Kontrast zu der teilweise recht ungeschickten Beziehung zwischen Herrn Schröder und Präsident Clinton". Weiter befürchtet die Times, dass die Verwirklichung des neuen Raketenabwehrsystems durch die USA unvermeidlich eine Zunahme der Spannungen innerhalb der Nato zur Folge hätte: "... eine solche Entscheidung würde Putin nur in die Ecke drängen und provozieren, was man als ‚unnötige Krise mit den Partnern der Allianz‘ bezeichnen würde."

Nicht zuletzt deshalb gibt man sich in Deutschland noch vorsichtig im Verhalten zu Russland und will zunächst zumindest den Anschein erwecken, nach allen Seiten hin die Türen offen zu halten. Das Thema Tschetschenienkrieg wurde während Putins Besuch nicht angesprochen, aber andererseits auch keine Zugeständnisse in der für Russland wichtigen Schuldenfrage gemacht. Schließlich könne man Russland nicht wie Uganda behandeln, hieß es dazu lapidar im Auswärtigen Amt.

Doch die Debatte um die Umstrukturierung der Bundeswehr zeigt deutlich, dass die Beziehungen in der bisher relativ stabilen transatlantischen Militärallianz schon recht bald neue Formen annehmen können. Die Institutionen der EU schaffen ganz systematisch die technischen und strukturellen Voraussetzungen für ein eigenständiges Vorgehen bei der Durchsetzung "vitaler Interessen". Dieses Aufrüstungsprojekt ist umfangreich und teuer.

Daher benötigt Deutschland noch einige Bedenkzeit und setzt mit seiner Wirtschafts- und Außenpolitik vorerst auf eine Stabilisierung seines östlichen Hinterlandes. Aus diesem Grund wartet man ab und prüft, ob der Neuanfang in den Beziehungen zu Russland "mit Substanz gefüllt werden" kann.

Weitere Treffen zwischen Putin und Schröder sind in sechs Wochen während des G-8-Gipfels und während eines noch zu organisierenden "offiziellen Staatsbesuches" von Putin geplant. Jetzt stattete er Deutschland nur einen "Arbeitsbesuch" ab.

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