Griechische NS-Opfer gewinnen Klage gegen Berlin

Berlin droht Griechenland

Mit Hilfe der griechischen Polizei erzwang sich vorletzte Woche eine Gerichtsvollzieherin Zugang zum deutschen Goethe-Institut in Athen. Sie ließ das Gebäude von Sachverständigen begutachten und vermessen. Das bundeseigene Institut soll am 20. September zwangsversteigert werden. Ebenso könnte es drei weiteren Liegenschaften, der deutschen Schule in Athen und Thessaloniki sowie dem deutschen Archäologischen Institut in Athen ergehen.

Grund für diese Situation ist ein Urteil des Landgerichts Livadia von 1997, welches der oberste Gerichtshof Griechenlands Aeropag letztinstanzlich im April diesen Jahres bestätigte. In dem Urteil von 1997 wurde Deutschland zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 56 Millionen DM verurteilt. Die Bundesregierung legte erfolglos Revision ein. Mittlerweile stiegen die Forderungen auf 100 Millionen DM an.

295 Überlebende aus dem Dorf Distomo bei Delphi in Mittelgriechenland hatten über den Europaabgeordneten und Rechtsanwalt Iannis Stamoulis (PASOK) eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. Am 10. Juni 1944 hatten SS-Panzergrenadiere des 7. Regiments das Dorf gestürmt und wahllos 218 Menschen, meist Frauen und Kinder, aus Rache für einen Partisanenüberfall grausam getötet. Mit den Urteilen von 1997 und vom April dieses Jahres hatten die hinterbliebenen Dorfbewohner nun Erfolg. Sie erhoffen sich endlich - nach 56 Jahren - eine finanzielle Überweisung aus Deutschland.

Die Zwangsmaßnahmen gegen die deutschen Liegenschaften in Griechenland wurden angeordnet, nachdem die Bundesregierung jede Zahlung verweigert hatte.

Bundeskanzler Schröder telefonierte mit dem griechischen Regierungschef Kostas Simitis, um gegen die eingeleitete Versteigerung zu protestieren. Aus Angst vor einem Präzedenzfall fiel die Reaktion der deutschen Regierung als offene Drohung aus. Der griechische Botschafter in Berlin wurde bestellt und der diplomatische Jargon durchbrochen. In der Protestnote aus dem Auswärtigen Amt hieß es, dass das Vorgehen der griechischen Behörden eine "Belastung der seit langem guten deutsch-griechischen Beziehungen" bewirken könne.

Die Bundesregierung wirft Griechenland einen Verstoß gegen das Völkerrecht und griechische Recht vor, denn das griechische Justizministerium habe dem Urteil noch nicht zugestimmt und außerdem setze sich die Justiz über "universelle Grundsätze der Staaten-Immunität" hinweg, die besagen, dass kein Gericht eines Staates einen anderen Staat oder dessen Amtsträger belangen kann.

Doch der Aeropag stützt sich bei seinem Spruch auf die neue Interpretation des Völkerrechts, derer sich die USA und ihre Verbündeten beim Krieg gegen den Irak sowie bei ihrem Eingreifen auf dem Balkan bedient hatten. Der Grundsatz der Staaten-Immunität war bei diesen Konflikten ausdrücklich zugunsten des - vorgeblichen - Schutzes der Menschenrechte zurückgestellt worden. Bei Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hieß es, könnten sich Staaten und ihre Amtsträger nicht auf Immunität berufen, denn die Menschenrechte stünden höher als das zwischenstaatliche Völkerrecht.

Gemäß dieser Argumentation folgerte nun der oberste Gerichtshof Griechenlands, da die Morde der SS in Distomo als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten seien, könne sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem Falle nicht auf die Staaten-Immunität berufen.

Die Argumente, mit denen Außenminister Fischer und Bundeskanzler Schröder vergangenes Jahr die Bombardierung Belgrads gerechtfertigt hatten, fallen jetzt auf sie zurück.

Wer erinnert sich nicht an die zerfurchte Gestalt Joschka Fischers, als er mit heiserer Stimme vom "Faschismus" und den "Konzentrationslagern" Serbiens sprach. Der serbische Regierungschef Milosevic wurde buchstäblich als Reinkarnation Hitlers auf dem Balkan dämonisiert, um den ersten Kriegseinsatz der deutschen Armee seit 1945 zu rechtfertigen. Man fand sich auch mit dem Bruch des Völkerrechts - dem Kampfeinsatz der NATO ohne UN-Mandat - ab, denn es ging ja um Höheres.

Doch hinsichtlich der weitaus größeren Verbrechen der wirklichen Hitlertruppen gelten andere Maßstäbe. Hier pocht der Berater des Auswärtigen Amtes in Völkerrechtsfragen, der Münchner Juraprofessor Bruno Simma, auf die buchstabengetreue Auslegung des alten Rechts. Die Staaten-Immunität müsse gewahrt bleiben. Die neuen Ansätze zu einer stärkeren Gewichtung der Menschenrechte seien zwar begrüßenswert, so Simma, man könne jedoch nicht davon ausgehen, dass sie bereits "Völkergewohnheitsrecht" geworden seien. Und außerdem sei es, bei allem Verständnis für die Angehörigen der Opfer, höchst problematisch, die neue Sichtweise nun auch rückwirkend anzuwenden.

Berlin pocht zudem auf das "Global-Entschädigungsabkommen" von 1960, das auch Griechenland unterzeichnete. Damals bekam Griechenland die lächerliche Summe von 115 Millionen DM von der Bundesregierung für die Opfer der NS-Besetzung zugesprochen. Die Summe war "zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen griechischen Staatsbürger" überwiesen worden. Somit, so die Regierung in Berlin, seien alle Zahlungen abgeschlossen.

Das Dorf Distomo, wie auch viele andere Dörfer, sah damals von den gezahlten Geldern nichts, da das Massaker nicht als NS-Unrecht bezeichnet wurde, sondern als normale Kriegshandlung.

Die deutsche Wehrmacht hatte während der Besetzung Griechenlands 1941 bis 1944 blutige Massaker und Vergeltungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung mit Zehntausenden von Opfern durchgeführt. Alle deutschen Regierungen hatten in der Nachkriegszeit sämtliche aus diesen Verbrechen herrührenden Forderungen als Reparationsforderungen eingestuft und damit ihre Ablehnung begründet.

Auf der Pariser Konferenz der Siegermächte 1946 waren die griechischen Schadensersatzansprüche gegen Deutschland auf 7,1 Milliarden Dollar beziffert worden. Außerdem erhob Griechenland Anspruch auf die Rückzahlung von weiteren knapp 500 Millionen Reichsmark, die 1942 als "Zwangsanleihe" von der griechischen Zentralbank an die deutsche Besatzung gezahlt wurden. Weder Schadensersatz noch Rückzahlung des Kredits sind bis heute erfolgt.

Für beide Regierungen ist die ganze Angelegenheit sehr brisant.

Die deutsche Regierung hatte sich nach dem Abschluss der Verhandlungen über die Entschädigung von Zwangsarbeitern erhofft, endlich Ruhe zu finden. Man wollte diese "alte Geschichte" endlich als begraben ansehen. Doch mit dem Urteilsspruch des Aeropag wurden neue Fakten im Zivilrecht geschaffen.

In seiner Urteilsbegründung erklärte das Gericht in Athen, die Morde der SS in Distomos gingen über das "gewöhnliche" Kriegsunrecht weit hinaus. Es handele sich nicht um Reparationsforderungen, sondern um Entschädigungszahlungen im Rahmen des Wiedergutmachungsrechts, und dies wiederum wird auf internationaler Bühne zivilrechtlich gehandhabt. Aus diesem Grund sei die Bundesregierung eben nicht vor Entschädigungsklagen immun.

Insgesamt klagten seit Jahren bis zu 100.000 Opfer und Hinterbliebene allein in Griechenland. Sollte die Zwangsvollstreckung Erfolge zeigen, werden sich viele Opfer in osteuropäischen Ländern ermutigt fühlen. Auch aus diesem Grund hatte der deutsche Finanzminister Eichel (SPD) alle osteuropäischen Staaten vor weiteren Entschädigungsforderungen gewarnt.

Die Simitis-Regierung steht vor einem Spagat. Einerseits versucht sie innenpolitisch nicht als Mittäter dazustehen, andererseits möchte sie es sich nicht mit den NATO - und den EU-Partnern verderben. Griechenland steht am 1. Januar 2001 vor dem Eintritt in die EURO-Zone. Aus diesem Grund distanzierte sich das griechische Justizministerium erst einmal von den Maßnahmen der Athener Justiz.

Außenminister Fischer reichte nun Klage vor dem Obersten Gerichtshof in Athen ein. Laut Presseberichten gibt es weitere Überlegungen des Auswärtigen Amtes, gegen die bevorstehenden Zwangsenteignungen vor dem internationalen Gerichtshof zu klagen. Doch dies könnte sich als Bumerang erweisen, da eine Niederlage in Den Haag noch mehr Gewicht als das Athener Urteil hätte.

Siehe auch:
Zur Unterzeichnung des Entschädigungsabkommens für ehemalige NS-Zwangsarbeiter
(21. Juli 2000)
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