Im vergangenen Jahr 1999 kam es in verschiedenen Teilen Russlands zu einer Reihe größerer Arbeitskämpfe. Zu einem der aufsehenerregendsten wurden die Auseinandersetzungen um das Wyborger Zellulose- und Papier-Kombinat ZKB, über das die Beschäftigten fast anderthalb Jahre die Kontrolle ausgeübt und selbst die Produktion organisiert hatten. Am 16. Januar 2000 übernahmen die Kapitaleigentümer kampflos wieder das Werk.
Das Wyborger ZKB gehört zu den größeren Betrieben der ehemaligen Sowjetunion und befindet sich auf halbem Wege zwischen Sankt Petersburg und der Grenze zu Finnland. Zwischen 1985 und 1989 wurde im Zuge von grundlegenden Sanierungsmaßnahmen unter Beteiligung von ausländischen Firmen eine der damals modernsten Maschinen zur Papierherstellung in Betrieb genommen, womit das Kombinat zu einem der größten Europas in seiner Branche wurde.
In den folgenden Jahren ereilte das ZKB das typische Schicksal. Nach der Privatisierung und der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft kaufte die amerikanische Firma Alliance Cellulose Ltd. 1994 eine Mehrheitsbeteiligung von 61 Prozent. Verschiedenen Angaben zufolge befindet diese sich wiederum im Besitz russischer Kapitalisten. Die Firma erhöhte ihren Anteil weiter auf über 84 Prozent und führte das ZKB in den darauffolgenden Jahren in den Bankrott, der 1997 offiziell erklärt wurde.
Das ZKB wurde daraufhin vom englischen Unternehmen Nimonor übernommen, das sich ebenfalls in russischem Besitz befinden soll. Nimonor ließ im ZKB die Produktion fast gänzlich zum Stillstand kommen und stellte die Lohnzahlungen an die Belegschaft ein. Dieser Prozess zog sich über ein Jahr hin, während zur gleichen Zeit in der Stadt Sowjetski, wo sich das ZKB befindet, Gas und Heizung abgeschaltet wurden. Das Essen musste auf der Straße über Lagerfeuern zubereitet werden, und im Winter wurden die Wohnungen nicht beheizt. Einer der Beschäftigten sagte, dass "wir praktisch am Aussterben waren".
Streiks und die Blockade der Fernverkehrsstraße "Skandinavia", die nach Finnland führt, brachten keine Verbesserung. Am 10. August 1998 wandelte die Betriebsgewerkschaft das ZKB in eine Genossenschaft um und stellte es unter die Kontrolle der Beschäftigten.
Es wurde ein neuer Direktor gewählt, eine neue Geschäftsführung einberufen und versucht, die alten Beziehungen zu Abnehmern und Rohstoffzulieferern wieder aufzunehmen. Mit Waren- und Rohstoffkrediten wurde die Papiermaschine im Dezember 1998 wieder in Gang gesetzt. Die Arbeit wurde wieder aufgenommen und bald eine Auslastung von 65 Prozent erreicht. Die Produkte wurden nach Russland, Weißrussland, in die Ukraine, nach Usbekistan, Kasachstan, Israel und in die Tschechische Republik verkauft. Der Durchschnittslohn betrug 1.500 Rubel (ca. 100 DM), und die Zahlung von Steuern und Abgaben wurde wieder aufgenommen. Es flossen Gelder für den Unterhalt der Produktion, die soziale Unterstützung der Arbeiter und für die Strom- und Wärmeversorgung der Stadt.
Zu dieser Zeit unternahm Nimonor wieder Versuche, das ZKB zurückzubekommen. Zweimal wurden Gerichtsbeamte zum Werk geschickt, die dort aber nichts erreichen konnten. Nimonor verkaufte darauf das ZKB an eine andere englische Firma - Alzem - weiter, die ihren Sitz auf Zypern hat und dem Petersburger Spirituosen- und Aluminiumhändler Alexander Sabadasch gehört. Dieser erklärte sofort, dass er den größten Teil der Produktionsanlagen verkaufen, das ZKB in ein Sägewerk umwandeln und mehr als die Hälfte der Arbeiter entlassen wolle.
Die Geschäftsführung des ZKB (d.h. die Belegschaft) versuchte vor dem Landesgericht gegen den letzten Verkauf zu protestieren, wobei sich die Richter auf die Seite von Alzem stellten und erneut Gerichtsvollzieher ins Kombinat schickten. Diesmal wurden sie von Taifun-Sondereinheiten begleitet, die sonst zur Unterdrückung von Gefängnisaufständen eingesetzt werden.
Nachdem am 9. Juli ein erster Versuch scheiterte, wurde in der Nacht vom 13. zum 14. Juli ein weiterer, ernsthafterer Versuch unternommen, bei dem es den Taifun-Einheiten gelang, einen Teil der Verwaltung zu besetzen. In den darauffolgenden Stunden entwickelte sich ein Kampf, bei dem die Sondereinheiten begannen auf Arbeiter zu schießen und dabei zwei von ihnen verletzten. Wegen der Entschlossenheit der Arbeiter zum Widerstand sahen sich Gerichtsbeamte und Sondereinheiten gezwungen, den Rückzug anzutreten.
In diesem Moment bekamen diese Ereignisse landesweite Bedeutung. Die Regierung, die um den Verlauf der bevorstehenden Parlamentswahlen besorgt war, riskierte es nicht noch härtere Gewalt anzuwenden, wozu einige liberale Zeitungen unverhohlen aufforderten. Justizminister J. Tschaika erklärte, dass "das Auftreten der Gerichtsvollzieher der Form nach gesetzlich war, inhaltlich jedoch eine Abweichung vom Gesetz bedeutete". Tschaika entließ daraufhin einen der für das brutale Vorgehen verantwortlichen Beamten und verbot generell Sondertruppen in derartigen Fällen einzusetzen. Arbeitsminister S. Kalaschnikow bekundete bei einem Besuch des Werkes ebenfalls seine Unterstützung für die Position Tschaikas.
Die Lage blieb allerdings weiter ungewiss. Das Werk blieb in den Händen der Arbeiter, während die Gerichtsentscheidung zugunsten der formalen Eigentümer in Kraft war. Faktisch setzten die Behörden die Blockade des Kombinates fort, der die Arbeiter nichts entgegenzusetzen hatten. Obwohl die Arbeiter den direkten Zusammenstoß für sich entscheiden konnten, waren sie nicht in der Lage diesen ursprünglichen Erfolg zu sichern.
Am 26. und 27. November fand eine Konferenz russischer Arbeitskollektive statt, an der sich Vertreter aus 33 Unternehmen aus 22 Städten beteiligten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie das Wyborger ZKB. Einer der Initiatoren der Konferenz war das Petersburger metallurgische Werk, in dem die Belegschaft ebenfalls versucht, die Verwaltung unter ihre Kontrolle zu bekommen.
Faktisch kam die Konferenz zu keinem Resultat und gründete lediglich einen Koordinationsrat der verschiedenen Belegschaften.
Zu dieser Zeit unternahmen die Eigentümer des ZKB bedeutende Anstrengungen, die Belegschaft zu spalten und sie zur Kapitulation zu zwingen. Im Endeffekt ist ihnen das auch gelungen. Im Januar diesen Jahres akzeptierte die Mehrheit der Arbeiter die Bedingungen der Eigentümer und unterschrieb für 1.000 Rubel (ca. 65 DM) eine Erklärung, dass das ZKB wieder von einer Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden solle, deren Eigentümer Alzem ist.
Am 16. Januar wurde das gesamte Werksgelände ohne jeglichen Widerstand von den Eigentümern übernommen.
Der frühere Vorsitzende der Gewerkschaftsorganisation des ZKB Witali Kirjakow, der die Betriebsübernahme angeführt hatte und nun an der Spitze der Befürworter der Kapitulation steht, erklärte seine Position folgendermaßen: "Glaubt mir, dass mir diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Aber Ende November begann ich zu verstehen, dass wir keine Wahl haben. Es gibt sie einfach nicht. Vielleicht hätten wir noch zwei oder drei Monate weitermachen können. Alzem wäre dann sowieso hierher gekommen und hätte freie Bahn gehabt, ohne auch nur die geringsten Verpflichtungen einzugehen. So konnten wir wenigstens 2.550 Arbeitsplätze und das Kombinat sichern und die Begleichung der Lohnschulden usw. durchsetzen. Das ist das Ergebnis des heldenhaften Widerstandes der Belegschaft, weil wir uns nicht im Juli und nicht im Oktober auf irgend etwas eingelassen haben. Doch jetzt haben wir einfach keine Wahl mehr: entweder wir treffen eine friedliche Einigung mit Alzem oder wir verhungern..."